Goslar. Immer mehr Radfahrer sind auf Straßen unterwegs. Reichen da die Sicherheitsstandards? Auch darüber diskutiert ab Donnerstag der Verkehrsgerichtstag.

Siegfried Brockmann redet nicht nur gern über Sicherheit im Straßenverkehr, er stellt sich täglich auch den lauernden Gefahren. Der Leiter Unfallforschung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft ist leidenschaftlicher Fahrradfahrer, wobei seine Betonung mittlerweile auf „Leiden“ liegt. 15 Kilometer fährt er täglich nach Berlin rein und wieder raus. „Es macht eigentlich keinen Spaß mehr, in dieser Stadt Fahrrad zu fahren. Ich habe aber Schleichwege gefunden, auf denen ich kaum oder gar nicht mehr in Berührung mit dem Autoverkehr komme, bevor ich das Fahrrad anschließe.“

Der Verkehrsforscher nimmt auch in diesem Jahr am Verkehrsgerichtstag in Goslar teil. Er ist einer von vier Referenten im Arbeitskreis Radsicherheit, der sich ab diesem Donnerstag dieser Frage stellt: „Mehr Radverkehr mit mehr Verkehrssicherheit – wie schaffen wir das?“ Vorsitzende des Arbeitskreises ist die ehemalige Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Präsidentin der niedersächsischen Verkehrswacht, Kirsten Lühmann.

Mehr Platz für Radfahrer gefordert – Unfallforscher: Autos müssen Fahrspuren abgeben

Getötete Fahrradfahrer bei Verkehrsunfällen in Deutschland, seit 1980.
Getötete Fahrradfahrer bei Verkehrsunfällen in Deutschland, seit 1980. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Mehr Raum für Radfahrer: So lautet seit Langem die Forderung vieler Experten mit Blick auf die Sicherheit im Straßenverkehr, denn immer mehr Menschen fahren in Deutschland Rad. „Autos werden künftig Fahrspuren abgeben müssen, um Platz für Radfahrer zu schaffen, deren Wege sonst zu eng und unsicher sind“, sagt Brockmann.

Er betont aber im Gespräch mit unserer Zeitung. „Wir haben in Goslar als Experten nicht die Aufgabe, Konzepte zu entwickeln, wie der Radverkehr erhöht werden kann. Wir müssen vom Ist-Zustand ausgehen und hier deuten alle Kennzahlen daraufhin, dass die Zahl der gefahrenen Kilometer mit dem Auto nicht sinken wird.“ So würden auch Rad-Aktivisten bei Amazon bestellen, sagt Brockmann süffisant.

Utopischen Ideen dazu schiebt er schon im Vorfeld einen Riegel vor. So sagt Brockmann auch, die Niederlande dienten nur begrenzt als Vorbild, wenn es um Sicherheit im Radverkehr gehe. „Berechnet auf die Zahl der Einwohner ist die Bilanz dort nicht besser oder schlechter als in Deutschland. Es gibt ähnlich viele Unfälle.“

Weniger tote Radfahrer seit Jahren

Auch ein wie im Nachbarland praktiziertes Ampelsystem, das Grün- und Rotphasen für verschiedene Verkehrsteilnehmer separat schaltet, garantiere keine zusätzliche Sicherheit. Es könne nur punktuell Gefahrenzonen entschärfen.

In Deutschland bewegt sich die Zahl der getöteten Radfahrer seit Jahrzehnten auf sinkendem Niveau. Starben 1980 noch mehr als 1300 Personen, waren es im vergangenen Jahr 372.

Um für mehr Sicherheit von Radfahrern zu sorgen, dürfe man sich aber nicht auf bestimmte Rezepte versteifen, ist Unfallforscher Brockmann überzeugt. So seien etwa die derzeit häufig diskutierten sogenannten Pop-Up-Radwege, also farblich und mit Pollern abgetrennte Fahrradspuren, nicht die Lösung aller Probleme. Unfallschwerpunkte wie Kreuzungen, Ausfahrten oder am Straßenrand parkende Autos würden dadurch nicht oder nur teilweise entschärft.

„Kommunen fehlt bei Projektplanung oft Grundverständnis für Radfahrer“

Professorin Dr. Jana Kühl lehrt seit Ende 2020 am Institut für Verkehrsmanagement der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter.
Professorin Dr. Jana Kühl lehrt seit Ende 2020 am Institut für Verkehrsmanagement der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter. © Ostfalia | Nadine Zimmer

Auch Jana Kühl, Professorin für Radverkehrsmanagement an der Ostfalia Hochschule in Salzgitter, bezeichnet beispielsweise die farbige Unterlegung von schon bestehenden Radwegen im innerstädtischen Raum, wie zuletzt in Braunschweig geschehen, allenfalls als „Schönheitskorrekturen“. Zwar fühlten sich Fahrradfahrer kurzzeitig mehr wertgeschätzt, sie würden aber in der Regel an der nächsten Ecke mit wesentlich größeren Problemen alleingelassen, so Kühl.

Solche Maßnahmen zeigten keinesfalls eine Wende in der kommunalen Verkehrsplanung. So mangele es oftmals in den Behörden an Grundverständnis und an der Entschlossenheit bei der Umsetzung von Radfahr-Projekten. Es würden „immer wieder Kompromisse gemacht, die zuungunsten von Radverkehr und Fußgängern“ ausfielen, erklärt sie.

Der Autoverkehr beanspruche weiter ein Übermaß an Flächen. Es brauche höhere Standards für Fahrradwege, um steigenden Radverkehrszahlen sowie den Anforderungen von Lastenrädern oder Pedelecs gerecht zu werden. Unter anderem brauche es überall da, wo es möglich ist, bauliche Trennungen zwischen verschiedenen Verkehrsteilnehmern. Radverkehr sei ein Grundbaustein bei der Verkehrswende, hin zu mehr Klimaschutz und lebenswerteren Städten, betonte die Wissenschaftlerin, die wie Brockmann ihre Vorstellungen dem Plenum vorstellen wird. Kühl sagt, die Klammer für fast alles sei die Frage der Sicherheit. Sie sagt aber im Gegensatz zu Brockmann, diese sei elementar auf dem Weg hin zu mehr Radverkehrsförderung in Deutschland.

Zahl der Unfälle auch außerhalb großer Städte steigt

Die Gründe, warum Menschen heute das Rad anstelle des Autos nehmen, sind sehr unterschiedlich. Eine klimagerechtere Fortbewegung sei ein Motiv, aber nicht das einzige, betont Kühl. „Menschen fühlen sich dabei aktiver und gesünder, haben es in der Kindheit erlernt oder gute Erfahrungen gemacht, so von A nach B zu kommen. Andere machen finanzielle Anreize oder eine höhere Flexibilität aus.“ Der Umstieg aufs Rad gelinge im urbanen Raum leichter als auf dem Land, erklärt sie. Kürzere Wege zum Ziel würden die Umstellung erleichtern. „Aber oft fehlt auch an Landstraßen ein vom Autoverkehr abgetrennter Radweg.“ Hier müsste investiert werden, wolle man eine Verkehrswende schaffen, die ihren Namen verdiene. Die Notwendigkeit einer stärkeren Förderung von Radwegen außerhalb großer Städte sieht auch Brockmann. Er leitet sie auch von der Unfallstatistik ab. „48 Prozent aller Radunfälle finden heute außerhalb geschlossener Ortschaften statt.“

Informationen zum Verkehrsgerichtstag:

Der Verkehrsgerichtstag (VGT) in Goslar startet am Donnerstag mit einem Plenarvortrag von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) eröffnet.

Anschließend wird in sieben Arbeitskreisen zu verkehrspolitischen Themen diskutiert. Die Veranstalter gehen nach coronabedingter Pause von mehr 1000 Teilnehmern aus.

Am Freitag um 11.30 Uhr diskutieren in einem Streitgespräch Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza (CDU) und Pia Scholten, Sprecherin der Grünen Jugend Niedersachsen, zur Frage: „Blockieren fürs Klima – verboten oder legitim?“