Abbesbüttel. Seit einem Jahr herrschen die Taliban in Kabul. Chaos, Gewalt und Unterdrückung regieren. Abed Nadjib leidet. Er hofft auf eine nationale Versöhnung.

Auch wenn Abed Nadjib es versucht, er kann die Tränen nicht unterdrücken. Jetzt laufen sie ihm auf beiden Seiten über die Wangen. Der 73-Jährige zieht seine Brille ab, wischt sich mit den Handflächen über das Gesicht. „Es tut mir leid, immer wenn ich daran denke, ist das ganze Leid meines Volkes so nah und greifbar.“

Was bringt den Mann, der zwischen 1994 und 2018 fast 25 Jahre im diplomatischen Dienst Afghanistans tätig war, jetzt so aus der Fassung? Es ist die Erinnerung an einen ganz besonderen Moment, er nennt ihn den „größten Tiefpunkt“, seiner Zeit im Botschaftsrat.

Im April 2010 nimmt Nadjib an einer Trauerfeier im niedersächsischen Selsingen für drei gefallene Bundeswehrsoldaten teil. Die politische Elite des Landes ist da. Kanzlerin Merkel, Niedersachsens Ministerpräsident McAllister, SPD-Chef Gabriel ebenfalls. Verteidigungsminister zu Guttenberg spricht den Hinterbliebenen sein persönliches und das Beileid der Bundesrepublik Deutschland aus.

Fünf vor oder doch eher fünf nach zwölf für Afghanistan? Der Ex-Gesandte des afghanischen Botschaftsrates, Abed Nadjib, hofft weiter auf einen Weg der Versöhnung.
Fünf vor oder doch eher fünf nach zwölf für Afghanistan? Der Ex-Gesandte des afghanischen Botschaftsrates, Abed Nadjib, hofft weiter auf einen Weg der Versöhnung. © Dirk Breyvogel | Dirk Breyvogel

Nadjib beobachtet eine Frau, sie ist hochschwanger. „Die Witwe eines Soldaten, wie ich später erfahren habe. Auf dem Schoß steht ihre Tasche, darin ein letzter Gruß an ihren Mann. Als der Sarg sie passiert, wirft sie den Brief drauf. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten“, schildert Nadjib die Szenerie in der Kirche, die ihn heute noch so sehr anfasst.

Die große Trauer der Frau würden die Menschen in seiner Heimat Afghanistan seit 43 Jahren erleben. Seitdem herrsche Krieg, der Leid über so viele Familien gebracht habe. „Was müssen Mütter, die ihre Söhne, was Frauen, die ihre Männer, was Kinder, die ihre Eltern verloren haben, denken?“, fragt er.

Tief verwurzelt in der niedersächsischen Gemeinde

Nadjib ist tief verwurzelt in seiner niedersächsischen Gemeinde. Seit Jahrzehnten lebt er unweit von Braunschweig im Landkreis Gifhorn. Auch das sei Heimat, sagt er. Mittlerweile ist er sogar als Bürgervertreter im Gemeinderat tätig. Seine vier Kinder sind längst erwachsen, stehen auf eigenen Füßen. Elf Enkelkinder halten auch ihn und seine Frau mitunter auf Trab. Seine Geschwister, mit denen er aufwuchs, lebten und leben in Deutschland, den Niederlanden oder den USA. Das Leben könnte so einfach sein, so unbeschwert, wenn man nicht an das denken will, was etwa 7000 Kilometer von Deutschland entfernt passiert. Aber so denkt Nadjib nicht. „Auch das ist meine Heimat“, sagt er. Das Land, das er immer in in sich trage, und nie vergessen könne. Afghanistan.

Die Rückkehr der Taliban vor genau einem Jahr nach Kabul und der fluchtartige Rückzug der Isaf-Truppen haben schlimmste Befürchtungen hervorgerufen – sie sind alle mehr oder weniger eingetreten. Afghanistan sei heute weiter weg von den demokratischen Prinzipien – von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – als jemals zuvor, sagt Nadjib. „All das, was ich hier in Deutschland habe, will ich auch für die Menschen dort“, sagt er.

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Abbesbütteler verhandelte am Petersberger Abkommen 2001 mit

Doch wie realistisch ist das angesichts der jetzigen Lage? Auch Nadjib kennt politische Entscheidungswege. Er verhandelte in seiner Funktion als Gesandter des afghanischen Botschaftsrates mit, als es in Bonn beim Petersberger Abkommen Ende 2001 darum ging, Afghanistan eine neue politische Verfasstheit zu geben. Auch da ging es nach dem Ende der ersten Schreckensherrschaft der Taliban darum, den Einfluss regionaler Stammesfürsten und den Gedanken an eine staatliche Einheit unter einen Hut zu bekommen. Mehr als 20 Jahre später muss auch Nadjib sich eingestehen, dass das Abkommen von Bonn Geschichte ist, und an der Macht wieder die sind, die schon einst ihre Überzeugungen aus den Regeln der Scharia zogen.

Auch für den Exil-Afghanen muss sich das wie eine persönliche Niederlage anfühlen. Immer wieder erwähnt er im Gespräch die Verhandlungen, die er mit Spitzendiplomaten aus Deutschland darüber führte, wie Frieden für sein Land und der Aufbau dauerhafter demokratischer Strukturen gewährleistet werden könne. Nadjib verhandelte unter anderem mit dem Geheimdienstkoordinator Helmut Kohls, Bernd Schmidbauer, und im Namen von Burhānuddin Rabbāni. Dieser gilt bis heute als Staatspräsident des Islamischen Staats Afghanistan. Nach der erstmaligen Ergreifung der Macht durch die Taliban im Jahr 1996 floh dieser aus Kabul in den Norden des Landes, nach Faizabad, wo er einst geboren wurde. Er galt in der Folge als politischer Führer der dortigen Nord-Allianz, die der Westen im Gegensatz zu den Taliban als Gesprächspartner anerkannte. Nach dem 11. September 2001, dem Beginn der unter den USA geführten Militärintervention „Enduring Freedom“ und der Vertreibung der Taliban kehrte Rabbāni nach Kabul zurück. Im Jahr 2011 fiel er einem Attentat in seiner Wohnung zum Opfer.

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Kritik an Unterwerfungsgesten gegenüber Taliban

Über ihn sagt Nadjib heute: „Rabbāni hatte seine Prinzipien, er hat sich niemandem im Vorhinein unterworfen. Am Ende hat er aber gewusst, dass er selbst als Präsident für den Neuanfang seines Landes nicht in Frage kommt. Für die Menschen seines Landes hat er auf Ansehen für sich verzichtet“, so Nadjib. Heute ärgerten ihn bei Politikern und Diplomaten vorschnelle Unterwerfungsgesten. Nichts anderes sei es, wenn die Bedeckung der Haare durch ein Kopftuch von den Taliban verlangt werde und dem umgehend gefolgt würde. „Unterwerft Euch nicht einer Sache, die ihr nicht wollt. Übernehmt nicht Prinzipien, die Ihr eigentlich ablehnt.“

Schwere Vorwürfe macht Nadjib heute den USA. Die hätten bei den Verhandlungen in Doha mit den Taliban nur ihren eigenen Vorteil, angesichts eines schon vorbereiteten Abzugs, im Blick gehabt. „Was mit den Menschen, insbesondere mit den Frauen passiert, war kein Thema. Nun sieht man, wie verheerend das war. Sämtliche rote Linien wurden verschoben, die Rechte der Mädchen und Frauen werden immer weiter ausgehöhlt.“

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    Afghanistan sei seit jeher ein Spielball verschiedenster Interessen von anderen Staaten gewesen, sagt Ex-Diplomat Nadjib ganz undiplomatisch. Pakistan nennt er dabei immer wieder. Der Nachbarstaat sei noch nie an einem wirtschaftlich starken Afghanistan interessiert gewesen. Auch Chinas Hoffnung, bestimmte Transportwege zu nutzen und Rohstoffquellen abzuschöpfen, sei eine bedenkliche Entwicklung.

    Aber nicht nur die anderen, auch man selbst trage eine gewisse Mitschuld an der negativen Entwicklung. Die Menschen hätten Chancen verpasst, die nach 2001 besser waren als je zuvor. „Heute sind die Reichen reicher, die Armen ärmer und die Korrupten korrupter“, so seine bittere Bilanz. Die Flucht vieler junger und gebildeter Menschen aus dem Land sei verheerend.

    Nadjib ist allerdings noch nicht bereit, den Ist-Zustand als „gottgegeben“ anzuerkennen. „Afghanistan ist noch nicht verloren“, sagt er. Zusammen mit Mitstreitern des „Afghanisch-Deutschen Forums“ (ADF), das er einst mitgründete, will er nun, vom Exil aus, einen Plan erarbeiten, in dessen Zentrum die nationale Versöhnung des Landes steht. Er selbst leite die dafür vorgesehene Arbeitsgruppe. „Wir müssen diejenigen zusammenholen, die sich ausschließlich für das Wohl des afghanischen Volkes einsetzen wollen.“ Dieser Gedanke müsse künftige Verhandlungen prägen. „Wer nicht über Aussöhnung sprechen will, weil ihm der ein oder andere Verhandlungspartner nicht zusagt, auf den müssen wir im Sinne der nationalen Einheit verzichten.“

    Kann es zu einer nationalen Versöhnung kommen?

    Über das Wohl des Landes dürften nur die Afghanen selbst verhandeln. Diese Erfahrung sei für ihn in den letzten Jahren maßgeblich gewesen. Zum Projekt einer nationalen Versöhnung gehörten natürlich auch die Taliban. Von den Vereinten Nationen erhofft sich Nadjib künftig eine gewichtige Rolle, wenn es um Überwachung von Frieden und die Einhaltung vereinbarter Ziele gehe. Blauhelme auf den Straßen Kabuls? „Ich hoffe, dass das keine Utopie ist, sondern irgendwann Realität“, sagt er. Ob er glaubt, so ein Szenario selbst noch zu erleben? Zweifel seien da. Aber: „Meinen Kindern und Enkeln wünsche ich es, meinen Landsleuten sowieso.“