Braunschweig. Die Greifvogel-Zähler haben im Braunschweiger Norden nur wenige Jungvögel registriert. Doch immerhin gibt eine lokale Adler-Sensation!

Plötzlich ein Schrei. Gellend. Dann, irgendwo oben, raschelt irgendwas. Ganz kurz sind zwei, drei Schatten zu erahnen. Ein Flattern noch. Und Schluss. Ende. Geradezu lähmende Stille.

Äh, was war jetzt genau los? Ich habe es gar nicht richtig mitbekommen. Aber zum Glück stehe ich an diesem Morgen um 8 Uhr nicht allein auf der Wiese. „Das ist ja wirklich allerhand“, sagt Dietmar Schomburg, „zwei Krähen haben den jungen Bussard angegriffen – und der ist gleich davongeflogen.“

Nichts gegen die Krähen, die wollten womöglich nur ihre eigene Brut schützen („Vorneverteidigung“ könnte man das wohl nennen, und für Bussis sind Bussarde ja nun gerade nicht bekannt), aber uns geht es hier schon um den vor vier Wochen geschlüpften Mäusebussard. Der hat’s nämlich eh nicht leicht.

Prof. Dietmar Schomburg vor einem Horst in Braunschweig-Thune, der etwas oberhalb seines Kopfes zu sehen ist.
Prof. Dietmar Schomburg vor einem Horst in Braunschweig-Thune, der etwas oberhalb seines Kopfes zu sehen ist. © Likus, Harald | Likus, Harald

Die Population des in Mitteleuropa traditionell so häufigen Greifvogels ist unter Druck geraten. Dies ist kein diffuses Artenschützer-Gefühl. Dank einer siebenköpfigen, ausdauernd zählenden Schar von Vogelfreunden, die seit knapp dreißig Jahren die Brut der hier vorkommenden Greifvogelarten kontrolliert, lässt sich dies präzise nachweisen. „Mit Blick auf den Mäusebussard würde ich die Lage als dramatisch bezeichnen“, sagt Dietmar Schomburg als Vorsitzender der Gruppe und schaut noch mal in Richtung Pappel. Doch der Vogel, der da jetzt segelt, ist eindeutig eine Taube, das erkennt sogar der Reporter als Gelegenheits-Birdwatcher.

Wir befinden uns in einem kleinen Park in Braunschweig-Thune. In dessen Mitte steht die Schwarzpappel, in deren Astgabel die Bussarde auch in diesem Jahr wieder ihren Horst gebaut haben. Dietmar Schomburg lehrte als hoch dekorierter Professor für Biochemie in Braunschweig und Köln. Hier jedoch steht er als Greifvogelbeobachter, -zähler und -kenner. Er hat diesen Horst regelmäßig im Blick. Er scheint zufrieden, dass er den jungen Bussard noch kurz vorführen konnte. Denn der endgültige „Auszug“ des „Einzelkinds“ (immer häufiger gibt es nur einen Jungvogel pro Brut) aus dem Nest steht auf jeden Fall demnächst an. „Wollen wir noch zu den Turmfalken?“, fragt Schomburg, der übrigens so aussieht und sich so bewegt, dass man das mit den von ihm erwähnten 72 Jahren ebenso wenig glauben mag wie er sich wohl vorstellen kann, dass irgendein Mensch keine Lust haben könnte, jetzt gleich bei den Turmfalken vorbeizuschauen.

Federbündel am Kanal

Auch bei den Falken ist das dann mit dem Schauen nicht ganz so einfach, vor allem, wenn man kein Falke ist. Die Vögel haben ebenfalls in Thune gebrütet, in einer dafür gedachten und seit jeher angenommenen runden Aussparung am Gebäude eines Verwaltungsgebäudes am Mittellandkanal. Durch Schomburgs Fernglas sind die etwa drei Wochen alten Jungen zumindest als wackelnde Federbündel dann doch noch zu erkennen. Es sind zwei, wie der Kenner weiß und übrigens auch aus der Menge der Kotspritzer routiniert zu schließen wüsste. Zwei von auch nicht mehr so vielen. Im Vorjahr haben die sieben Zählerinnen und Zähler im gesamten Beobachtungsgebiet 20 junge Turmfalken entdeckt, das waren vor einigen Jahren auch schon mal 80 oder 90.

So gut wie auf Schomburgs Foto sind die kleinen Falken selten zu sehen.
So gut wie auf Schomburgs Foto sind die kleinen Falken selten zu sehen. © Privat | Privat

Panikmache gilt nicht. Die aufmerksame Brutschau ist jedoch mehr als angebracht. Dieser Eindruck stellt sich ein, als Schomburg all die Ergebnisse anschließend noch in seinem Querumer Garten erläutert. Entstanden sind diese Ergebnisse im nördlichen Braunschweiger Stadtgebiet mit Ausläufern in den Kreisen Gifhorn und Peine, summa summarum auf knapp 100 Quadratkilometern. Die Idee des Vogel-Monitorings entstand Anfang der 90er, eigentlich in einem größeren Radius, doch in diesem Braunschweig-Nord-Bereich haben die Vogelfreunde halt nie nachgelassen. In einem gemeinsam mit Gunhild Bentlage und Hans-Joachim Schlosser verfassten Text hat Schomburg schon vor Jahren festgehalten, dass die Vögel nicht nur um ihrer selbst willen von Interesse sind, sondern in ihrer Eigenschaft als „Endglieder von Nahrungsketten“ die Funktion von „hochsensitiven Umweltindikatoren“ einnehmen. Was zum Beispiel den Mäusebussard angeht, kommt man – Nomen sollte Omen sein – sehr schnell auf seine Schwierigkeiten zu sprechen, ausreichend Mäuse zu erbeuten. „Ein gutes Mäusejahr ist immer auch ein gutes Bussardjahr“, sagt Schomburg. Experten gingen davon aus, erklärt er, dass vor allem der verstärkte Maisanbau die Mäusepopulation drückt. „Der Mäusejahr-Zyklus ist wohl nicht mehr so wie früher. Vielleicht kann der Bussard die Mäuse auch nicht so gut entdecken. Zuckerrüben- und Sommergetreide-Felder sind für ihn am besten, auch Brachflächen spielen eine große Rolle“, sagt Schomburg. Der Austausch mit Naturschutzbehörden, der Landwirtschaft und den Forstverwaltungen sei durchaus gegeben, aber natürlich ausbaufähig. „Ich bekomme nicht auf jede Mail zum Thema eine Antwort – nun ja“, sagt Schomburg, wirkt dabei jedoch nicht so, als ob er sich rasch entmutigen ließe.

In der Gruppe ist man über den teils fünfzigprozentigen Rückgang des Bussard-Bestands so besorgt, dass man sogar überlegt, umzäunte „Luderplätze“ anzulegen, um Greifvögel gezielt mit Wildfleisch zu füttern. „Viele Leute glauben noch, den Mäusebussard gebe es fast überall, das stimmt aber leider nicht“, sagt Schomburg zur Bussard-Baisse. Die Rotmilan-Population, über die man sich anderswo große Sorgen macht, ist im Braunschweiger Norden hingegen konstant.

„Uns entgeht kaum ein Vogel“

All dies wissen die Greifvogelzähler, weil sie ihr großes Gebiet in Reviere eingeteilt haben, deren regelmäßige Beobachtung für jeweils einen umtriebigen Menschen zu schaffen ist. Das bedeutet natürlich viel Bewegung. Je nach Jahreszeit bzw. Balzzeit, Brutzeit und dem Stand der Belaubung schauen sie alle paar Tage an den einschlägig bekannten Ecken vorbei. Wird der alte Horst wieder bezogen, gibt es vielleicht einen neuen? Wie steht es um die Partnersuche der Tiere, werden sie fündig, gibt es Konkurrenz? Sind nun etwa die Zweige in dem alten Horst verdächtig verändert worden? Ist später womöglich der „Stoß“ (Schwanz) eines brütenden Weibchens zu sehen? Kann man vielleicht sogar bei den immer wieder sehenswerten Flugübungen der jungen Greifvögel zuschauen? Und wenn ja: Wie viele Nachkommen mögen es sein? Haben wir sie auch alle in der Liste? „Ich glaube, sagen zu dürfen: Uns entgeht kaum ein Vogel“, sagt Schomburg, „entsprechend solide sind unsere Zahlen.“

Viele, viele Runden durchs Revier

Auch wenn man sich die ehrenamtlichen Runden durch Wald und Flur natürlich irrsinnig summieren: Die Kontrolltouren durchs Revier seien bloß nicht als freudlose Arbeit aufzufassen, stellt Schomburg klar. Die schöne Landschaft, die viele Bewegung, gelegentlich ein Reh, eine Nachtigall oder ein ernsthaft interessierter Spaziergänger, all dies hebe die Stimmung, sagt er. Und passend dazu stupst jetzt sein Hund den Reporter am Gartentisch freundlich in die Seite – der Hund darf natürlich auch mit in den Wald.

Doch, er habe immer schon gern Vögel beobachtet, erinnert sich der 1950 in Braunschweig geborene Schomburg. Vor allem hat er sich dann jedoch um andere Themen gekümmert. Chemie studiert, sich auf theoretische Biochemie spezialisiert, Proteinstrukturen und solche Dinge analysiert und die in Fachkreisen viel beachtete Braunschweiger Enzymdatenbank bebrütet. Als ornithologisches Schlüsselerlebnis fällt ihm eine Vogelstimmen-Exkursion ein, die er in den Jahren nach 1996, als er Professor an der Universität Köln war, mit seiner Frau im Rheinland unternommen hat. „Das fand ich großartig, das wollte ich vertiefen.“

Die kleine Adler-Sensation

Wozu es jetzt, fünfzehn Jahre nach der Rückkehr in die Braunschweiger Forschungsregion – in Sachen Chemie liefen nur noch „ein paar Projekte“, wie er sagt –, ohne jeden Zweifel gekommen ist. Ja, er investiere jede Menge Zeit in die Greifvogelbeobachtung, sagt er, aktuell kontrolliere er wegen eines Ausfalls auch gleich zwei Reviere der Gruppe. Doch immer wieder empfinde er all dies als überaus richtig und wichtig. „Wir müssen etwas für die Greifvögel tun“, sagt Schomburg mit Nachdruck. Natürlich habe das viel mit dem ökologischen Gleichgewicht zu tun, mit der Gestaltung der Landschaft. Doch auch von Stürmen, Waschbären, zuweilen sogar von Kolkraben und Taubenzüchtern seien die stolzen Vögel bedroht, ob sie nun Bussard oder Milan, Sperber, Weihe oder Habicht heißen. All die sind selten in unserer Gegend, doch all die kommen vor. Und dann wäre da ja auch noch der… – Adler!

Ein Seeadler im Oderbruch. Auch in Braunschweig gibt es Neuigkeiten über den riesigen Vogel.
Ein Seeadler im Oderbruch. Auch in Braunschweig gibt es Neuigkeiten über den riesigen Vogel. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul

Ja, den schönen alten Löwen-Witz kann man zwar auch auf den König der Lüfte ummünzen („Bei Adlern ist keiner schon viel“), doch gegen Ende des Gesprächs lässt sich Schomburg tatsächlich überreden, hier und jetzt eine in ornithologisch entflammten Kreisen brisante Nachricht verbreiten zu dürfen: Es gibt aktuell im Beobachtungsgebiet der Gruppe auch wieder einen Seeadler-Horst mit Nachwuchs.

Seeadler, wow, der kapitale Segler, Flügelspannweite bis zu 2,40 Meter. „Wo der Horst genau ist, sollte man nicht an die große Glocke hängen, es gibt manchmal wirklich Seeadler-Tourismus, der zum Problem werden kann“, sagt Schomburg betont cool. Aber seine Augen leuchten, wenn er den Adler-Nachwuchs in Braunschweig erwähnt. Und man ahnt: Schon bald wird es den Professor wieder in den Wald ziehen. Er kann, soll, muss dort nach schönen, stolzen und zum Teil sehr seltenen Vögeln schauen.