Braunschweig. Die HZI-Wissenschaftlerin Lange warnt vor Corona-Leichtfertigkeit mit Blick auf Herbst und Winter. „Wir sollten vorbereitet sein.“

Dr. Berit Lange leitet am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig die Klinische Epidemiologie. Wir haben sie gefragt, worauf man sich in Sachen Pandemie in den kommenden Monaten einzustellen hat.

Sehr geehrte Frau Dr. Lange, ich möchte mit einem Zitat anfangen, das ich etwas gerafft habe. Es geht so: Sollten die Corona-Inzidenzen im Herbst wieder steigen, muss man sich auf Abstand, Masken, Lüften etc. besinnen – erneute Schulschließungen sind die Ultima Ratio! Ahnen Sie, wer das wann gesagt haben könnte?

Ich vor einem Jahr?

Richtig, Sie im Spätsommer 2021. Gilt das auch für dieses Jahr? Oder was ist anders?

Ja, wir gehen alle davon aus, dass es im Herbst wieder zu einem Anstieg der Zahlen kommen wird. Insofern gilt mein Satz aus dem Vorjahr im Prinzip in diesem Jahr genauso. Wobei: Viele Menschen sind geimpft, und wir sind besser geworden, was das Ausrollen von breiten Teststrategien angeht. Insofern bin ich für 2022 recht guter Hoffnung, dass wir selbst bei wieder steigenden Infektionen um überregionale stärker kontaktbeschränkende Maßnahmen herumkommen, während wir Teststrategien und Hygienemaßnahmen, wie Abstand und Masken mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder brauchen werden. Was wir allerdings nicht wissen, ist, welche Varianten des Virus dann vorherrschend sein werden und was das für den Anteil der schweren Verläufe bei Nichtgeimpften und Geimpften bedeutet. Deshalb muss man sich eben doch hüten. Wenn Varianten auf uns zu kommen, die in hoher Zahl problematische Krankheitsverläufe mit sich bringen, d

Dr. Berit Lange, Epidemiologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.
Dr. Berit Lange, Epidemiologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. © HZI | Verena Meier

ann haben wir aufgrund der immer noch bestehenden „Immunitätslücke“, also dem Anteil von Menschen, die keinen adäquaten Schutz vor schweren Verläufen haben, ein großes Problem. Das ist dann das Szenario, zu dem auch wieder stark belastete Krankenhäuser gehören würden.

Zumal es eben auch möglich ist, dass es in diesem Jahr auch wieder eine Influenza-Welle bei Erwachsenen und erneut wie 2021 eine größere RSV-Welle bei Kindern gibt. Kurzum: Es gibt erhebliche Unsicherheiten, wie stark das Gesundheitssystem auch in 22/23 durch Corona belastet sein wird. Und mit dieser Unsicherheit müssen wir wohl auch in den kommenden Wintern umgehen und sollten entsprechend vorbereitet sein.

Sie sprechen das Risiko an, dass sich zu einem saisonalen „Grundrauschen“ der Atemwegserkrankungen dann noch vermehrt Covid-Erkrankungen gesellen. Meinen Sie die somit summierte Belastung fürs Gesundheitssystem oder sogar die doppelte Gefahr für die einzelnen Patienten?

Nein, doppelte Infektionen einzelner Patienten meinte ich jetzt nicht. Dies ist sicher für den einzelnen möglich, aber ich meinte in erster Linie die Doppelbelastung, die sich hier für das Gesundheitssystem ergibt. Ich habe während auch schwererer Grippesaisons in Notaufnahmen und auf Station gearbeitet, mir ist klar, was da unter Umständen los ist. In dieser Hinsicht erinnere ich daran, dass Masken, Abstand, Hygiene natürlich auch in Sachen Influenza das Risiko erheblich vermindern. Sollten diese Maßnahmen wieder eingeführt werden im Herbst, wird also wiederum wie in den letzten zwei Jahren die Influenzasaison eine geringe Belastung für das Gesundheitssystem mit sich bringen. Die Hauptsache ist, dass wir erkennen, dass unser Gesundheitssystem gut vorbereitet bleiben muss. Es darf nicht mehr nach dem Prinzip gehen, dass das, was eine Zeit lang nicht ausgelastet war, kurzerhand zurückgefahren wird. Das können wir uns nicht leisten. Das war früher schon nicht gut – und mit einer zusätzlichen saisonalen Atemwegsinfektion ist es noch unklüger.

Wie groß ist Ihre Hoffnung auf Medikamente, dass also ein Präparat wie Paxlovid vielen Infizierten entscheidend helfen könnte?

Die Entwicklung solcher Medikamente ist natürlich sehr gut und sehr wichtig. Ob sie dazu in der Lage sein werden, flächendeckend bereits zur Reduktion der Belastung im Gesundheitssystem eine große Rolle zu spielen, muss sich aber noch erweisen. Darüber könnte ich nur spekulieren.

Ich habe vorhin ja gleich wieder mit Inzidenzen, also Fallzahlen angefangen. Manche stellen sich aber schon die Frage, wie belastbar, wie valide die Zahlen noch sind. Was sagt die Epidemiologin?

Ich möchte es so formulieren: Die Dynamik der Fallzahlen ist auch aktuell noch valide. Das lässt sich auch an anderen Faktoren ersehen, etwa den Zahlen aus den Krankenhäusern. Die Zahlen selbst sind es sicher nicht – waren es aber auch vorher nicht, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Es gab und gibt immer eine Dunkelziffer. Die war am Anfang der Pandemie sehr hoch. Dann wurde viel mehr getestet, die Dunkelziffer sank, und die meisten Infektionen spiegelten sich auch in der Statistik wider. Und nun wird wieder weniger getestet, und die Dunkelziffer ist ganz sicher gestiegen. Zusammenfassend: Die Fallzahlen sind wichtig, aber sie waren nie und sind natürlich nicht der einzige Parameter, den wir ansehen.

Auch auf Fallzahlen gehen besorgniserregende Meldungen aus Südafrika zurück. Es gibt mehr „Reinfektionsfälle“, also erneute Ansteckungen. Die US-Wissenschaftlerin Juliet Pulliam wird sogar mit dem Satz zitiert, sie rechne damit, dass es Menschen geben wird, die sich ihr ganzes Leben lang immer wieder anstecken werden, weil die Virus-Subtypen die Abwehr immer wieder überwinden…

Ja, die Virusvarianten scheinen vermehrt zur Überwindung der Immunabwehr in der Lage zu sein. Doch die Grundimmunität in der Bevölkerung spielt auch bei den Reinfektionen eine Rolle. Die verlaufen generell voraussichtlich milder – analog zu den Infektionen trotz Impfung, über die wir ja schon länger sprechen – allerdings ist nicht sicher, ob das auch für Reinfektionen nach der Erstinfektion durch eine der Omikronvarianten gilt.

Dazu eine Frage: Halten Sie die Annahme, dass die Impfung den schweren Verlauf viel unwahrscheinlicher macht, für ganz sicher? Einige Menschen sind ja angesichts der vielen Impfdurchbrüche doch enttäuscht von der ganzen Impfkampagne.

Ja, das geht ganz klar aus den Studien hervor. Ich kenne keine Daten, die dagegen sprechen. Das gilt auch für die Omikron-Infektionen. Die Vielzahl der milden Verläufe liegt natürlich nicht nur an Omikron selbst, sondern auch an der Impfquote. Die Enttäuschung, die Sie angesprochen haben, empfinde ich überhaupt nicht. Ich erinnere mich immer noch an den Moment, als im Herbst 2020 die erste Impfstudie herauskam. Da haben wir gesehen, wie durch die Impfung ein Großteil der schweren Verläufe verhindert werden konnte. Das war ein toller Moment, da haben wir in der Epidemiologie aufgeatmet… Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn solche Impfstoffe nicht hätten produziert und massenhaft bereitgestellt werden können. Aber es ist natürlich Glück, in einer Region zu leben, in der wir so leichten Zugang zu solchen Impfstoffen haben.

An welche Gegenden denken Sie hinsichtlich der Frage, wie es zugeht, wenn das nicht so ist?

Mir fallen zunächst die großen Probleme in einem Partnerstandort von meiner Arbeitsgruppe in Malawi und ähnlichen Ländern ein, die deutlich später als wir die Bevölkerung oder auch nur das Gesundheitspersonal impfen konnten. Man kann die Verteilung der Impfstoffe global durchaus als ungerecht bezeichnen. Das war und ist schon immer auch bei anderen Impfstoffen und Medikamenten so, sollte jedoch nie wieder in dieser Form passieren. Ich denke auch daran, wie die Pandemie in 2021 Indien getroffen hat, mit sehr vielen Toten und einem zu spät zur Verfügung stehenden Impfstoff. Das ist schon eine Mahnung.

Gibt es zum Beispiel im HZI jetzt auch wieder die Neigung, sich verstärkt um andere Themen als Corona zu kümmern?

Ja, zum Beispiel in meiner Arbeitsgruppe findet das durchaus statt. Natürlich konnten wir nicht alles gleichzeitig machen – aber nachdem viele Projekte wie z.B. in Malawi zur Tuberkulose eine Zeit eher weniger aktiv waren, versuchen wir die jetzt auch wieder fortzuführen. Und natürlich erweitert sich das eigene Arbeitsgebiet durch die Lehren aus der Corona-Pandemie auch. So ist es mir z.B. wichtig, dass wir in Deutschland in der Zukunft Forschungsinfrastrukturen in der Infektionsepidemiologie schaffen, die die Bekämpfung einer nächsten Epidemie oder Pandemie erleichtern würden, wie z.B. die Etablierung eines großen und schnell einsetzbaren bevölkerungsbasierten Panels oder von zentralen Modellierungsplattformen.

Und nicht zuletzt führen die Erfahrungen in der Pandemie auch dazu, dass wir noch mal anders auf unsere ursprünglichen Arbeitsgebiete blicken. Bei mir geht es da etwa um die Frage, wie die Prävention von Tuberkulose am besten durchgeführt werden kann und wie viel Geld dies kosten darf. Mit Blick auf die schnelle Etablierung auch durchaus komplexer Präventionsprogramme während der Pandemie, formulieren wir vielleicht aus wissenschaftlicher Sicht notwendige Veränderungen auch in anderen Bereichen zukünftig mit mehr Selbstbewusstsein.

Eine letzte Frage noch zu Corona: Werden wir uns dauernd neu impfen lassen müssen?

Ich würde grundsätzlich schon davon ausgehen, dass der Impfstoff immer mal wieder angepasst werden muss. Das ist jedoch kein Schreckgespenst, das ist auch bei anderen Impfungen notwendig und gut etabliert. Oder wird es einen Impfstoff geben, der „breit“ genug ist? Werden wir irgendwann – wie bei Grippe – mit hoher Immunität in der Bevölkerung nur bestimmte Risikogruppen impfen müssen? Das alles ist schwer vorherzusagen, da sollte man jetzt vorsichtig sein. Die Delta-Welle im Winter 2021 hat uns ja gelehrt: Auch ein relativ kleiner Anteil von Menschen ohne Schutz vor schweren Verläufen kann eine sehr große Belastung für das Gesundheitssystem bedeuten.