Braunschweig. Er hält die Festrede beim Gemeinsam-Preis 2022: Prof. Dirk Heinz. Im Interview spricht der HZI-Chef auch über Engagement in Pandemiezeiten.

Die Last von Krisen wiegt schwer auf unseren Schultern: Die Corona-Pandemie, die Klimakrise und aktuelle Konflikte wie der Ukraine-Krieg sind nur einige Beispiele. Dennoch gibt es Menschen die in der Krise über sich hinaus gewachsen sind, neue wissenschaftliche Entdeckungen gemacht haben oder neue Formen des Engagements entwickelt haben, um für andere da zu sein. Darüber, welche Auswirkungen insbesondere die Corona-Pandemie auf unsere Gesellschaft hatte, spricht Professor Dirk Heinz, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) im Interview mit unserer Zeitung. Am Dienstag, 31. Mai, hält er die Festrede beim Gemeinsam-Preis unserer Zeitung gemeinsam mit dem Braunschweiger Dom.

Lieber Herr Prof. Heinz, am 31. Mai werden Sie die Festrede beim Gemeinsam-Preis unserer Zeitung halten. Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema Ehrenamt?

Ich muss ehrlich zugeben, dass ich in jungen Jahren nicht aktiv in der Feuerwehr oder im Technischen Hilfswerk war, aber ich habe mich im Sportverein engagiert und verschiedene Aufgaben erfüllt. Zum Beispiel habe ich dort die Pressearbeit übernommen – zumindest ein kleines Ehrenamt. Für die Zukunft, vor allem nach dem aktiven Berufsleben, ist es jedoch eine schöne Aussicht, der Gesellschaft, etwas zurückzugeben. Schließlich gibt so ein Engagement einem ja auch selbst etwas: Austausch mit anderen, Teilhabe, das Erleben von Dankbarkeit und mit Sicherheit auch das Gefühl, etwas Sinnstiftendes zu leisten.

Ist unsere Gemeinschaft, unser Gemeinwesen an der Corona-Pandemie eher gewachsen oder hat das Virus deren Schwächen gnadenlos bloßgelegt?

Wenn ich die Entwicklungen richtig interpretiere, dann ist das Engagement auf hohem Niveau geblieben. Vielleicht hat man nicht mehr so sehr darüber gesprochen, und es haben sich neue Wege entwickelt – Stichwort Digitalisierung. Aber das Engagement ist nicht weggebrochen oder gar verschwunden. Wenn ich mir Studien zu diesem Thema anschaue, dann wird deutlich, dass wir als Gesellschaft neue Wege gefunden haben, Menschen zu unterstützen und an den Herausforderungen der Krise gewachsen sind. Ich würde daher vom Ehrenamt im Wandel und nicht vom Ehrenamt in der Krise sprechen.

Das Interview führten Andreas Eberhard (von links), Dr. Kerstin Loehr und Ida Wittenberg. Im Mittelpunkt standen Fragen rund um die Corona-Pandemie.
Das Interview führten Andreas Eberhard (von links), Dr. Kerstin Loehr und Ida Wittenberg. Im Mittelpunkt standen Fragen rund um die Corona-Pandemie. © regios24 | Stefan Lohmann

Ist eine Pandemie nicht eher ein Fall für einen gut organisierten, handlungsfähigen Staat als für bürgerschaftliches Engagement?

Zu Beginn der Corona-Pandemie war es absolut notwendig, dass der Staat die Kontrolle übernommen hat. Jedoch wurden mit Sicherheit auch Fehler gemacht. Die gesellschaftlichen Konsequenzen eines Lockdowns wurden zunächst gar nicht berücksichtigt, und jetzt sehen wir „Kollateralschäden“, die viele langfristige Probleme mit sich bringen. Besonders die Schulschließungen waren aus meiner heutigen Sicht ein Fehler. Hier hätte man definitiv anders reagieren müssen. Mit der Zeit hat die Gesellschaft jedoch gelernt, mit der Pandemie umzugehen. Und auch das Ehrenamt hat Wege gefunden, zu unterstützen. Das zeigen auch einige Projekte, die in diesem Jahr beim Gemeinsam-Preis nominiert sind.

Hatte die Krise dann auch etwas Positives?

Es sind viele neue Formate entstanden, und die Digitalisierung hat nicht nur einen Schub erlebt, sondern ist zu etwas Selbstverständlichem geworden. Vieles, was sich in der Pandemie bewährt hat, wird uns hier erhalten bleiben, auch wenn es zu Beginn nur als Notlösung gedacht war. In vielen Bereichen kann ich mir auch weitere positive Effekte vorstellen, etwa bei der Mitgliedergewinnung in Vereinen oder generell im Ehrenamt. Die jüngeren Menschen leben mit digitalen Formaten und können dort abgeholt und erreicht werden. Der Aufbruch in das digitale Zeitalter bietet viele Chancen.

Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie stellen das Ehrenamt aber auch vor große Herausforderungen. Eine Studie der Hochschule Luzern hat gezeigt, dass viele Ehrenamtliche, die zu Risikogruppen gezählt werden, ihr Engagement einschränken mussten. Welche Botschaft möchten Sie diesen Menschen mitgeben?

Das Besondere am Ehrenamt ist, dass Menschen zusammenkommen und interagieren. Dieses Engagement wurde manchen quasi per Dekret verboten. Gerade in der ersten Welle war dies ein großes Problem: Viele, die helfen wollten, konnten oder durften nicht. Betroffen hat dies vor allem die älteren und vulnerablen Bevölkerungsgruppen. Die Angst, sich anzustecken, hat hier einfach überwogen, und das ist auch verständlich. In der zweiten Corona-Welle sieht man – das zeigt auch die Studie –, dass sich die Entwicklung nivelliert hat. Und heute, würde ich sagen, ist das Engagement mindestens genauso stark wie vor der Pandemie. Das Ehrenamt ist also im Grunde krisenfest. Irgendwo findet es immer seinen Weg. Es steckt in uns Menschen drin, dass wir helfen möchten.

Wo sehen Sie darüber hinaus im gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie Verbesserungsbedarf?

Eine schwierige Frage – gerade mit Blick auf das Ehrenamt. Ich glaube, dass die Politik das Ehrenamt zu Beginn gar nicht auf dem Radar hatte. Sprich: Da werden Verordnungen und ein Lockdown beschlossen, und man hat einfach vergessen, dass es dieses freiwillige Engagement von Bürgern braucht, damit die Gesellschaft funktioniert. Es ist ein systemrelevantes Element unseres Gemeinwesens. Spürbar wurde dieses Versäumnis aber etwa auch in Form von Bewegungsmangel. Sportliche Aktivitäten im Verein waren nicht mehr möglich. Hier hätte man frühzeitig schauen müssen, wie man trotz der notwendigen Corona-Maßnahmen die Vereine unterstützt, neue Wege für ihr Engagement zu finden.

Und wie sieht es in der Wissenschaft aus? Hat diese in der Pandemie in einer Weise zusammengefunden, die es vorher so nicht gab?

Ja. Gerade in der Anfangsphase der Corona-Pandemie war die Zusammenarbeit wirklich überwältigend. Normalerweise konkurrieren wir. Das ist eben das Geschäft, es ist ein Wettbewerb. Neue Ergebnisse möchte man möglichst als erster publizieren. Besonders erstaunlich und wirklich positiv war der Austausch von Informationen innerhalb der Wissenschaft. Nationale und internationale Konsortien haben sich zusammengefunden und zusammengearbeitet. In der Anfangsphase hat das der Wissenschaft und dem Fortschritt einen enormen Schub verliehen. Mittlerweile herrscht allerdings schon wieder ein gesunder Wettbewerb.

Wie bewerten Sie die im Bundestag gescheiterte Impfpflicht?

Es gibt bei allen Dingen, die man macht, ein „Window of opportunity“ – eine günstige Gelegenheit. Und bei der Entscheidung über eine Impfpflicht haben wir diesen günstigen Zeitpunkt verpasst. Wir hätten handeln müssen, als die Delta-Variante grassierte und die Krankheitslast auf den Intensivstationen gestiegen ist. Jetzt allerdings hat man eine andere Lage: Zum einen ist Omikron nicht mehr so gefährlich. Es befällt vor allem die oberen Atemwege, man hat eigentlich eine Erkältung und nur noch sehr selten schwere Verläufe. Zum anderen gibt es die Durchbruchsinfektionen bei Geimpften oder Genesenen. Das bietet Gegnern einer Impfpflicht natürlich eine große Angriffsfläche in der Debatte. Für eine weitere Welle, die im Herbst auf uns zukommen könnte, wäre es aber in jedem Fall gut, wenn wir eine noch größere Grundimmunität hätten und so mehr schwere Verläufe verhindern könnten.

Wie können wir uns jetzt schon auf die nächste Welle vorbereiten?

Im Umgang mit einer Pandemie sind wir geübt. Die Regeln, die es bereits gab – Masken tragen, Abstand halten – werden wir uns wieder aneignen. Und auch die Firmen sind in Bezug auf Impfstoffe und Medikamente gut vorbereitet. Jetzt kommt allerdings noch eine weitere Krise hinzu: Der Krieg in der Ukraine. Wir können noch nicht abschätzen, wie sich die Lage entwickelt und ob es noch weitere Fluchtbewegungen oder Hunger-Krisen geben wird. Die Krisen werden sich vermutlich gegenseitig verstärken, und damit wird die Herausforderung größer. Kommunikationsschwierigkeiten durch Sprachbarrieren könnte dann zusätzlich zu einem Problem für die Pandemiebekämpfung werden. Hier sollten wir schon jetzt handeln und uns darauf vorbereiten.

Die Folgen des Klimawandels, Corona, der Krieg und all seine Auswirkungen – viele Krisen lasten auf unseren Schultern. Wie leicht fällt Ihnen Optimismus in diesen Zeiten?

Ich bin noch nie ein Fan von Weltuntergangstheorien gewesen. Die Kreativität der Menschen, der Umgang mit Krisen, das Entwickeln von neuen Ideen, um Lösungen zu schaffen, das ist es, was wir aus Krisen mitnehmen sollten. Die globalen Krisen können wir als Individuen ohnehin nicht lösen. Aber in der Tat kann man sich vor Ort umschauen, dort, wo man ist: Wo kann ich helfen? Wie kann ich unterstützen? Wichtig ist, dass wir jetzt die Lehren aus der Corona-Krise auch für das Ehrenamt ziehen. Mit
einem weiterhin starken und krisenfesten ehrenamtlichen System haben wir guten Grund, optimistisch zu sein.

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