Braunschweig. Von Pflicht-Schweigeminuten hält Expertin Riem Spielhaus wenig. Sie sagt: „Das Thema Krieg darf nicht in die Lähmung führen“

Wie spricht man mit Kindern und Jugendlichen über den Krieg in der Ukraine? Auf der Suche nach einer Expertin, die bei der Suche nach Antworten hilft, denkt man nicht als erstes an eine Islamwissenschaftlerin. Dass wir uns trotzdem an Prof. Riem Spielhaus wenden, dafür gibt es gute Gründe. Die Professorin der Uni Göttingen und Abteilungsleiterin am Braunschweiger Georg-Eckert-Institut (GEI), dem Leibniz-Institut für Bildungsmedien hat kürzlich mit anderen Wissenschaftlern und Schulexperten eine „Handreichung“ entwickelt. In dem übersichtlich gestalteten 80-seitigen Heft, das sich vor allem an Lehrer wendet, geht es darum, wie man Terroranschläge – islamistische wie rassistische – im Unterricht thematisiert. Und hier sieht Spielhaus durchaus Parallelen zum Thema Krieg. „Daher denken wir jetzt auch über einen entsprechenden Nachfolgeband nach“, erklärt die 48-jährige Bildungsforscherin. „Der Bedarf an Austausch und Tipps zum Umgang mit dem Thema Krieg ist riesig.“

Keine falsche Betroffenheit einfordern

Wenn man Spielhaus nach der wichtigsten Richtschnur fragt, die Lehrer aber auch Eltern beachten sollten, wenn sie mit Kindern und Jugendlichen sprechen, nennt sie zwei Dinge: „Zum einen müssen wir den Kindern selbst Raum geben. Zum anderen dürfen wir sie nicht unter Druck setzen, zu sprechen, oder gar eine Betroffenheit einfordern, die vielleicht erstmal gar nicht da ist.“ Entsprechend wenig hält sie etwa von verpflichtenden Schweigeminuten für alle, erst recht für jüngere Schüler, wie sie nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine auch an manchen deutschen Grundschulen, abgehalten wurden. „Ich finde das nicht günstig“, sagt sie offen, gesteht aber zu: „Wenn man persönlich und zugleich alle gemeinsam betroffen sind, dann kann ich mir vorstellen, dass solche Trauerrituale helfen – etwa wenn es um einen Anschlag geht, der sich in der eigenen Stadt ereignet hat.“

Für die bessere Variante hält die Islamwissenschaftlerin trotzdem eine offene Situation, die es den Kindern erlaubt, individuell über ihre Fragen, Sorgen und Gefühle zu sprechen. Etwa in einem Stuhlkreis im Unterricht. Wie gut das klappen kann, hat Spielhaus an ihrer eigenen 9-jährigen Tochter erfahren. „Sie kam von der Schule nach Hause und hat davon berichtet. Sie war aber weder traurig noch verängstigt. Und das war mir wichtig.“ Zentral ist aus Spielhaus’ Sicht, dass solche Gespräche in der Schule von einer Lehrerin oder einem Lehrer geführt werden, der die Kinder der Klasse gut kennt – also vom Klassen- oder Vertrauenslehrer.

„Aktivierende Momente“ gegen die Ohnmacht

Wichtig sind aus Spielhaus’ Erfahrung auch die „aktivierenden Momente“ – also, zu zeigen, dass man nicht ohnmächtig ist, sondern etwas tun kann. Sie gibt ein Beispiel aus ihrer eigenen Familie: „Als wir gehört haben, dass ukrainische Flüchtlinge in der Braunschweiger Jugendherberge angekommen sind, hatte meine Tochter geguckt, welche Kleidungsstücke und Spielzeuge sie entbehren kann. Die ausgesuchten Stücke haben wir dann dort vorbeigebracht.“ Ob Spielhaus ihre Tochter aktiv dazu ermuntert habe, möchten wir wissen. „Nein, das war ihr eigener Wunsch. Sie wollte etwas machen.“

Prof. Riem Spielhaus leitet die Abteilung Wissen im Umbruch des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig. Die Islamwissenschaftlerin sagt: „Ich möchte auf keinen Fall, dass Kinder im Alter meiner Tochter sich Atomkriegs-Szenarien ausmalen.“
Prof. Riem Spielhaus leitet die Abteilung Wissen im Umbruch des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig. Die Islamwissenschaftlerin sagt: „Ich möchte auf keinen Fall, dass Kinder im Alter meiner Tochter sich Atomkriegs-Szenarien ausmalen.“ © Georg-Eckert-Institut | Archiv

Wie viel vom Krieg einem Kind zugemutet werden kann, ist auch eine Frage des Alters. Je jünger es ist, umso mehr muss es geschützt werden, stellt Spielhaus klar. Das gelte auch und gerade, wenn man als Erwachsener durch die Kriegsberichte selbst extrem niedergeschlagen sei. „Ich möchte nicht, dass mein Kind diese Bedrückung erlebt“, sagt die Forscherin – auch in Erinnerung an ihre eigene Kindheit im Ost-Berlin des Kalten Krieges. Die unterschwellig im Hintergrund drohende Gefahr eines Atomkriegs, habe sie schon frühzeitig bewusst erlebt. „Ich möchte auf keinen Fall, dass Kinder im Alter meiner Tochter sich solche Szenarien ausmalen.“ Wenn das Kind von sich aus fragt, warum die Eltern bedrückt sind, sollten diese wahrheitsgemäß antworten, ohne dem Kind das Gefühl zu vermitteln, bedroht zu sein. „Ich finde es richtig, zu erklären, warum ich gerade traurig bin. Ich würde meinem Kind aber auch sagen: Es betrifft nicht uns, uns es betrifft auch nicht Oma, sondern Menschen, die woanders leben.“

Nicht nur die ausgelieferten Opfer in den Blick nehmen

Etwas anders sei es da schon bei Jugendlichen ab der 7. oder 8. Klasse: „Bei dieser Altersgruppe sollte es schon ein Ziel sein, dass sie auch imstande sind, die Lage, wenn auch nicht zu verstehen, so doch zumindest einzuordnen.“ Dies könne etwa durch die Beschäftigung mit Medienberichten oder politischen Dokumenten im Schulunterricht erreicht werden. Damit bedrückende Kriegsnachrichten nicht zu einem lähmenden, hoffnungslosen Gefühl führen, kann es auch hilfreich sein, nicht ausschließlich Opfer, die dem Geschehen hilflos ausgeliefert sind, in den Blick zu nehmen. „Eine Frage, die man stattdessen auch mal stellen kann, ist etwa: Wem möchte ich nacheifern? Sie prägt übrigens auch meinen Umgang mit Geschichte“, sagt Spielhaus. „Was hilft mir, mich für ein friedliches Zusammenleben in einer vielfältigen Welt einzusetzen?“

Einen bewussten Umgang mit Bildern lernen

Ein heikles Thema, das bei Kriegen in ähnlicher Form auftaucht wie im Zusammenhang mit Terroranschlägen, ist der Umgang mit Bildern und Medien. Ob am Zeitschriftenkiosk, im Fernsehen oder im Internet: Auf die Kinder strömen permanent Bilder ein – oft schreckliche Gewaltdarstellungen. „Selbst wenn man diese vielleicht gar nicht gezeigt bekommen möchte, hat man oft keine Wahl“, sagt Spielhaus. Hinzu kommt: „Wenn in einem Kriegsgebiet keine Journalisten mehr vor Ort sind, ist man auf die inszenierten Bilder angewiesen, die die Kriegsparteien zur Verfügung stellen.“

Umso wichtiger ist es aus ihrer Sicht, Fragen zu stellen: „Was sehe ich hier genau? Will ich das sehen? Was wird mit dem Zeigen dieser Bilder beabsichtigt? Und in den Sozialen Medien besonders von Bedeutung: Will ich das wirklich mit anderen teilen?“ Damit Kindern und Jugendliche einen reflektierten Umgang mit Kriegs-Bildern und Gewaltdarstellungen lernen können, sei es aber auch notwendig, dies im Alltag und ohne aktuellen Anlass zu tun. „Das hilft, damit die Bilder in der Ausnahmesituation, in der die Emotionen hohe Wellen schlagen, einen nicht überfordern“.

Den Kindern nicht vorab Rollen zuweisen

Besondere Sensibilität ist gefragt, wenn Schüler aus der Kriegsregion in die Klassen der deutschen Schulen aufgenommen werden. Unbedingt müsse vermieden werden, dass den Schülern bestimmte feste Rollen zugewiesen werden – etwa indem man sie befrage nach dem Motto: „Du bist doch Ukrainer. Nun erzähl uns mal, was ihr erlebt habt!“ Solche Fragen seien hochgefährlich, weil sie schlimme Erinnerungen triggern könnten, erklärt Spielhaus. Erst recht gelte dies vor versammelter Mannschaft: „Alles, was dann womöglich zum Vorschein kommt, kann anschließend auf dem Schulhof die Runde machen“, sagt sie. Deswegen sei es auch sinnvoll, die Schulklasse auf Neuzugänge dezent vorzubereiten. Damit die Schüler unvoreingenommen sind, sollten Lehrer keinesfalls zu viel Informationen vorab preisgeben. „Aber sie sollten schon thematisieren: Wir bekommen Zuwachs. Die Kinder kommen aus der Ukraine und haben vielleicht Schlimmes erlebt. Seid ein bisschen sensibel!“ Eine gute Möglichkeit, dann miteinander ins Gespräch zu kommen, bieten Patenprogramme, bei denen sich eingesessene Schüler um die neuen kümmern. „Das beugt dann hoffentlich auch einer Lagerbildung auf dem Schulhof vor.“

Die Ungerechtigkeit der Aufmerksamkeit

Als Wissenschaftlerin, die sich mit Migration auseinandersetzt, ist Riem Spielhaus noch ein weiteres Thema wichtig. Sie nennt es „die Ungerechtigkeit der Aufmerksamkeit“. Was sie damit meint: „Der russische Krieg in der Ukraine ist ja weder der erste noch der einzige Krieg, den wir in den letzten Jahren erleben.“ Für Spielhaus heißt das: Sie kann zumindest nachvollziehen, wenn Menschen, die vor wenigen Jahren – ebenfalls vor russischen Bomben – aus Syrien nach Deutschland geflohen sind, es nun vielleicht befremdlich finden, dass hierzulande erst jetzt erregt vom Krieg geredet wird.

Die Forscherin möchte Lehrerinnen und Lehrer durchaus ermutigen, hierzu Fragen zu stellen: „Sind die Kriegsopfer etwa nicht gleichwertig? Und wenn man zum Schluss kommt – Ja, jeder Mensch ist gleichviel wert – dann darf man auch fragen: Woran liegt es dann, dass es sich trotzdem für viele hier unterschiedlich anfühlt?“ Diese Fragen sollten nicht dazu führen, Schuldgefühle einzufordern. Sie könnten Kindern und Jugendlichen aber helfen, den eigenen Blick auf die Welt zu reflektieren.

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