Braunschweig. Der Historiker Robert Maier spricht über das Russland-Bild der Deutschen zwischen Hass, Hype und schmerzhafter Ernüchterung im Ukraine-Krieg.

Schilder mit der Aufschrift „Russen raus!“ hingen jüngst in Wahrenholz, gerade so, als träfe die russischstämmigen Menschen im Kreis Gifhorn eine Mitschuld an Putins Angriff auf die Ukraine. Über Russenfeindlichkeit – tatsächliche und vermeintliche – sprachen wir mit dem Historiker und Russland-Experten Dr. Robert Maier (68), der für das Braunschweiger Georg-Eckert-Institut jahrzehntelang Gespräche über Schulbuchinhalte mit Vertretern osteuropäischer Länder, darunter Russland und die Ukraine, geführt hat. Dabei ging es auch um die Darstellung nationaler Gruppen und Minderheiten.

Gibt es in Deutschland eine wachsende Russenfeindlichkeit?

Nein, ich halte unser Bild von Russland und den Russen, etwa in den Medien, für durchaus differenziert. Diese Schilder in Wahrendorf halte ich für einen unbeholfenen Reflex. Angesichts dessen, was sich in der Ukraine abspielt, sind die Leute nachvollziehbarerweise voller Empörung. Am liebsten würde man Putin ins Gesicht schreien. Aber da das nicht möglich ist, projizieren manche ihre Wut auf russischsprachige Menschen oder russische Geschäfte in ihrer Reichweite, um ihre Gefühle an ihnen auszulassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute, die solche Schilder machen, über ihr Handeln lange nachdenken. Übrigens überrascht mich der Vorfall wenig. Auch in der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, dass Minderheiten bei Kriegen zur Zielscheibe werden – etwa nach dem Angriff auf Pearl Harbor japanischstämmige US-Amerikaner oder solche, die man dafür hielt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kam es im zarischen Russland auch zu Pogromen gegen die deutsche Minderheit.

Ausgestoßener der zivilisierten Nationen: Eine russenfeindliche Karikatur aus der US-Zeitschrift „Puck“ von 1903. Für Historiker Robert Maier hat das Bild vom „bösen Russen“ längst ausgedient
Ausgestoßener der zivilisierten Nationen: Eine russenfeindliche Karikatur aus der US-Zeitschrift „Puck“ von 1903. Für Historiker Robert Maier hat das Bild vom „bösen Russen“ längst ausgedient © Gemeinfrei | Library of Congress

Wollen Sie sagen, dagegen bewegen wir uns in einem vergleichsweise harmlosen Rahmen?

Schon. Trotzdem ist es selbstverständlich scharf zu verurteilen, dass Menschen, die in keiner Weise am Krieg in der Ukraine Schuld sind, angegriffen werden. Auf der anderen Seite wäre es aber auch gut, wenn sich die Betroffenen bekennen und deutlich machen, was sie vom Handeln Russlands halten. Meine Erfahrung ist, dass das die Stimmung sofort komplett verändert. Ich selbst gehe auch so vor. Natürlich frage ich Russen, mit denen ich zu tun habe: „Was hältst du von Putins Krieg?“ Nur, wenn ich dann höre: „Der Putin hat schon seine Gründe“, dann wird sich dieser einiges anhören müssen.

Russische Medien berichten von angeblichen Anfeindungen. Auf der Webseite der russischen Botschaft ist die Rede von einer „rapiden Verstärkung der Russophobie“ in der EU. Haarsträubende Beispiele werden da beschrieben. Etwa habe ein Berliner Lehrer russische Schüler bloßgestellt und deren Fotos an einem „Schmähbrett“ aufgehängt. Was halten Sie von solchen Meldungen?

Das ist völlig absurd. Ein Lehrer, der so etwas täte, hätte nicht nur ein Disziplinarverfahren am Hals, sondern würde fristlos entlassen.

Aber welche Rolle spielen solche Anschuldigungen in dem „Informationskrieg“, der jetzt läuft?

Diese Masche zieht Putin ja schon seit längerer Zeit durch: Was aus dem Ausland gegen ihn gerichtet ist, wird als „Russophobie“ bezeichnet – ganz ähnlich übrigens, wie die sowjetische Propaganda mit dem Schlagwort „Antikommunismus“ agierte. Putin verspricht sich davon eine Mobilisierung, die ihm zugute kommt. Natürlich werden auch Beispiele erfunden, die ins Konzept passen. Lügen zu produzieren, war für die russische Propagandamaschinerie noch nie ein Problem.

Wie gut verfängt diese Propaganda in Russland und hier?

In Russland wird Putin noch viel geglaubt. Das hat verschiedene Gründe. Mit ihm verbinden die Menschen einen Wiederaufstieg – ökonomisch und mit Blick auf die Wiederherstellung der Ordnung, der „Größe“ und des Respekts, den die Welt vor Russland hat. Das wiegt so schwer, dass kritische Nachrichten, wenn sie die Leute überhaupt erreichen, kaum wahrgenommen werden. Eine gewichtige Rolle spielt auch die russisch-orthodoxe Kirche, die Putin Rückendeckung gibt. Unter russischsprachigen Menschen hierzulande gibt es viele, die aus Bequemlichkeit oder mangels Deutschkenntnissen vor allem russische Medien konsumieren. Wenn diese Menschen davon ausgehen „Ein bisschen wird schon dran sein an dem, was ich da zu hören bekomme“, führt das zu der insgesamt putinfreundlichen Haltung, die wir oft beobachten – vor allem in bildungsferneren Schichten. Immerhin haben die letzten Tage vielen die Augen geöffnet.

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Von offenkundigen Lügen einmal abgesehen – entspringt der Vorwurf der Russenfeindlichkeit nicht auch einer Kränkung? Mein Eindruck ist, dass Putin und seine Entourage selbst daran glauben: Der Westen nimmt nicht genug Rücksicht auf unsere Interessen, folglich ist er russenfeindlich.

Mit dem Gedanken „Die ganze Welt ist gegen uns“ sind in Russland viele Generationen aufgewachsen – nach der Revolution, unter Stalin und danach. Nach dem Ende der UdSSR hatte sich das zwar etwas aufgelöst, aber Putin knüpft daran an. Hinzu kommt: Zerfallende Imperialmächte tun sich unheimlich schwer damit, ihre Machtansprüche und die damit verbundenen Privilegien aufzugeben. Das ist übrigens nichts Russlandspezifisches. Denken Sie an den Versailler Vertrag. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es die Deutschen, die nicht akzeptieren wollten, dass sie keine Großmachtrolle mehr spielten und dass etwa in der neu entstandenen Tschechoslowakei die deutsche Bevölkerungsgruppe nicht mehr tonangebend war. Das war eine Kränkung, die die Leute aufwühlte und dazu beitrug, dass Hitlers Expansionspolitik unterstützt wurde. Diesen Effekt sehen wir bei jedem Niedergang eines Imperiums.

Also geht es schon um eine nationale Kränkung?

Nein, „national“ trifft es nicht so genau. Die russische Föderation ist kein Nationalstaat sondern immer noch ein Imperium. Putin spielt weniger die nationale Karte als die imperiale. In seinen Reden legt er großen Wert darauf, die Vielzahl der Völker des Landes anzusprechen. Dazu zählt er in seinem wahnhaften Wunschdenken auch die Ukrainer und Weißrussen. Aber um es klar zu sagen: Diese Kränkung ist eine subjektive. Man darf sich diesen Schuh nicht anziehen. Sonst müsste ich ja etwa auch der Tschechoslowakei Schuld am Zweiten Weltkrieg geben, weil sie die deutsche Minderheit vielleicht nicht fair behandelt hat. Das wäre aber schlicht nationalsozialistische Propaganda. Diesem Muster folgt aber Putins Erzählung von der „Rettung der vom Genozid bedrohten Landsleute“.

„Der Russe“ wurde hierzulande lange als Feindbild gepflegt. Die Vertreterin eines russischen Vereins in unserer Region äußerte jüngst die Angst, dass das Klischee vom „bösen Russen“ wieder Blüten treiben könnte. Wie ist denn unser Bild von den Russen?

Als ich klein war, hörte ich von meiner Großmutter manchmal den Ausdruck „Der ist ja dumm wie ein Russ!“ Sie war allerdings Jahrgang 1880. Im 19. Jahrhundert war das Bild vom Russen: ein ungebildeter, zivilisatorisch rückständiger Mensch, der unter der Knute des Zaren lebt – gutmütig, aber im Alkoholexzess brutal. Dieses Bild hielt sich bis ins 20. Jahrhundert, so dass die Nazis kaum Schwierigkeiten hatten, daraus ihren „bolschewistischen Untermenschen“ zu machen. Der Zweite Weltkrieg hat dieses Bild kolossal verändert. Einerseits wurden Russen in der Traditionslinie der NS-Propaganda nun als Vergewaltiger und Plünderer wahrgenommen. Andererseits entstand ein enormer Respekt, gepaart mit Furcht: Sie haben tapfer gekämpft und uns besiegt. Nach dem Krieg kamen die Erfolge der UdSSR im Weltraum, ihre Atomwaffen, ihr Aufstieg zur Weltmacht. Ende der sechziger Jahre änderte sich das Bild des Russen dann komplett. Die 68er haben des Bild vom „bösen Russen“ nurmehr ironisch verwendet. Man hat sich den Russen zugewandt, die russische Kultur, Wissenschaft und den Sport bewundert. Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“ war ein Riesenerfolg. Es gab einen regelrechten Hype. Man wollte die sowjetischen Russen unbefangen entdecken. Das Lustige ist, dass die wenigsten Westdeutschen damals je einen Russen kennengelernt haben. Bis Mitte der 80er Jahre bin auch ich hierzulande keinem Russen begegnet, obwohl ich sogar die Sprache gelernt und unterrichtet habe. Nach dem Ende der UdSSR stand dann nicht mehr der „Sowjetmensch“ vor uns, sondern wieder der „echte Russe“. Aber das positive Russlandbild der Eliten blieb bestehen, so dass ich sagen würde: Das alte Bild vom „bösen Russen“ ist heute fast unbekannt.

Die Regierungszeit Gorbatschows gilt als Höhepunkt der deutsch-russischen Annäherung. Einen einmaligen Empfang bereitete die Bonner Bevölkerung dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow und seiner Ehefrau Raissa, als beide das Rathaus besuchten. Beim
Die Regierungszeit Gorbatschows gilt als Höhepunkt der deutsch-russischen Annäherung. Einen einmaligen Empfang bereitete die Bonner Bevölkerung dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow und seiner Ehefrau Raissa, als beide das Rathaus besuchten. Beim "Bad in der Menge" mussten die Gäste aus Moskau zahlreiche Hände schütteln. © picture alliance/dpa | Frank Kleefeldt

Das klingt ja sehr positiv. Aber die Russen oder Sowjets waren im Kalten Krieg doch „der Feind“.

Ja, aber in den achtziger Jahren haben sich die Menschen stärker an den US-Raketen auf deutschem Boden gestört als an den Raketen der anderen Seite. Die Verständigungspolitik war jetzt das Leitmotiv. Das ging teils so weit, dass man die Amerikaner schlimmer fand als die Russen. Gorbatschow sahen dann viele geradezu als Idol. Auch Putin zehrte lange von diesem positiven, völlig unkritischen Bild. Das furchtbare Agieren Russlands im Tschetschenienkrieg wurde nur am Rande wahrgenommen. Obwohl es an Alarmsignalen – die Kriege in Georgien und Syrien, die Knebelung der Opposition, die Mordanschläge – nicht mangelte, versuchte eine breite Strömung der deutschen Politik und Kultur weiter, vor allem das Positive zu sehen. Schröders Ausspruch, Putin sei ein lupenreiner Demokrat, bringt das genau auf den Nenner. Erst jetzt ist die deutsche Elite von Putin abgerückt. Gleichzeitig wird klar unterschieden zwischen Putin und den Russen. Und da wir die Russen glücklicherweise in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten in millionenfachen Begegnungen kennengelernt haben, würde ich sagen: Wir sind geradezu immun gegen plumpe Klischees. Ich halte entsprechende Vorkommnisse für eine Randerscheinung.

Ist der jetzige Krieg ein Krieg der Russen gegen die Ukrainer?

Nein, dies ist ein Krieg eines Imperiums gegen die Nation Ukraine. Wer will, kann die ukrainische Nationsbildung bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Aber so richtig zur Nation geworden sind die Ukrainer in den letzten Jahrzehnten.

Schließt das die russischsprachigen Ukrainer im Osten des Landes und die Krim-Bewohner ein?

Die Krim betrachte ich als Sonderfall, weil sehr viele Russen dorthin migriert waren. Deshalb war das nationale russische Element dort wirklich stark – heute umso mehr, da viele Ukrainer und Krimtataren vertrieben sind. Was aber die Ostukraine angeht, so ist es schon mehr als erstaunlich, dass sich ausgerechnet Charkow, die – wenn man von der Sprache ausgeht – „russischste“ Metropole des Landes, sich derart gegen die russischen Angriffe wehrt. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass der Widerstand so stark sein würde. Putin hatte erwartet, dass es nur eines Anstoßes bedürfe, damit ihm diese Region wie ein reifer Apfel in den Schoß fällt. Die Nationsbildung der Ukraine hat er nicht mitgekriegt. Und die umfasst auch die russischsprachigen Ukrainer wie den Präsidenten Selenskyj.

Vorurteile gedeihen, wo man einander nicht begegnet. Viele deutsch-russische Kooperationen und Programme wurden jetzt auf Eis gelegt, was den Austausch vorläufig schwieriger macht. Sehen Sie darin eine Gefahr?

Nein. Die Russen, die den Westen und die Demokratie kennen, verstehen, dass das Problem im diktatorischen Regime in ihrem Land liegt. Die verstehen sehr wohl, warum die Welt jetzt mit Sanktionen reagiert. Am dritten Tag nach der Invasion erhielt ich einen Brief von einem russischen Bekannten. Er schreibt: Das ist nicht mein Krieg. Niemand, den ich kenne, hat das gewollt. Durch diesen Krieg zerstört Putin den bisherigen Zusammenhang zwischen Russen und Ukrainern. Die Ukrainer werden uns jetzt genauso hassen wie die Polen.

Wagen Sie eine Prognose, wie es in dem Konflikt weitergeht?

Natürlich ist der Ausgang offen. Aber auf mittlere Sicht hat Putin verloren, selbst wenn er das Land niederwirft. Er wird seine Ziele nicht mehr erreichen. Weder militärisch noch mental kann er die Ukraine in sein Imperium zurückholen.

Militärisch auch nicht?

Selbst wenn Putin die großen Städte erobert, so wie er Grosny und Aleppo erobert hat, wird er das Land nicht halten können. Es wird ihn teuer zu stehen kommen, die Ukraine zu kontrollieren – erst recht, wenn ihm durch Sanktionen die Einnahmen wegbrechen. Technisch und ökonomisch ist Russland auf einem katastrophalen Pfad. Über kurz oder lang wird dieses Land ruiniert sein, wenn die Ukrainer ihren Widerstand durchhalten und der Westen seine Unterstützung auf allen Ebenen intensiviert. Auch die russische Bevölkerung bekommt das Ganze zunehmend mit. Viele Intellektuelle wissen längst darum. Einer verglich Putins Situation jüngst mit der von Hitler im Jahr 1942/43. Wenn das Regime zusammenbricht und die Bevölkerung merkt, was da gespielt worden ist, wird es kein Halten mehr geben. Dann wird es nicht bei einem Regimewechsel bleiben. Dann wird die russische Föderation zerbrechen und Russland machtpolitisch endgültig absteigen.

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