Braunschweig. Alle gegen Putin? Fast… Der Braunschweiger Arzt Helmut Käss sieht Schuld bei der Nato und argumentiert gegen die Mehrheit. Ein Streitgespräch.

Zeitungen sollen verschiedene Meinungen abbilden. Das gilt, obwohl das angesichts brennender Hochhäuser nicht leicht fällt, natürlich auch für die Vorgeschichte des russischen Überfalls auf die Ukraine. Sowohl von russisch-national eingestellten Menschen als auch von einem Teil der traditionell USA-skeptischen Linken wird „dem Westen“ und „den Medien“ vorgeworfen, einseitig gegen Putin Stimmung zu machen. Um dieses Phänomen näher zu ergründen, haben wir mit dem Braunschweiger Mediziner Dr. Helmut Käss gesprochen.

Käss, geboren 1946, ist seit fast vierzig Jahren bei den „Ärzten gegen Atomkrieg“ (IPPNW) und anderen Organisationen engagiert.

Herr Dr. Käss, Sie haben uns eine E-Mail geschrieben, in der viel von der Nato-Osterweiterung, vom Jugoslawien- und dem Irak-Krieg die Rede ist, aber leider kein Wort davon, dass Sie den Angriffskrieg der Russen als ein Verbrechen ansehen. Kriegen Sie so eine Formulierung als „Putinversteher“ einfach nicht über die Lippen?

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© privat | Käss

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich das Wort „Putinversteher“ nicht als Schimpfwort empfinde, auch wenn das jetzt als Kampfbegriff verwendet wird, zum Beispiel auch gegenüber der ehemaligen ARD-Journalistin Gabriele Krone-Schmalz. Aber jemanden zu verstehen, ist doch nichts Schlechtes. Wir müssen auf Putin eingehen, mit ihm reden, nicht von oben herab.

Wie verstehen Sie denn Wladimir Putins kriegerische Politik?

Ich verstehe Putin tatsächlich als jemanden, der nicht hinnehmen wollte, dass die führenden Nato-Staaten ihr Versprechen von 1990, die Nato nicht in Richtung Russland zu erweitern, gebrochen haben. Ich kann das durchaus nachvollziehen, zumal ja an der Grenze zu Russland Raketen aufgestellt werden, im Baltikum und in Polen. Im umgekehrten Fall, während der Kubakrise, kam es fast zum Menschheitsuntergang. Jetzt steht die Nato direkt an der russischen Grenze. Außerdem sehe ich das so, dass in der Ukraine die prorussische Regierung mit amerikanischer Unterstützung weggeputscht worden ist. Sodann haben sich die Ukrainer nicht daran gehalten, die Ostukrainer gerecht zu behandeln.

Sie stellen also tatsächlich in Abrede, dass die Ukrainer nicht nur ihr Land, sondern auch ihre hart erkämpfte Demokratie verteidigen?

Ich würde zumindest einschränken wollen, dass das alles nicht so klar ist, wie Sie das offenbar glauben. Es gibt einen starken, in Richtung Russland tendierenden Teil des Landes. Wie demokratisch wurde mit den Menschen dort umgegangen? Wie demokratisch geht es eigentlich bei uns zu, wie demokratisch sind die USA? Das ist ein Land, in dem sowieso kein Mensch Präsident werden kann, der nicht über 100 Millionen Dollar verfügt.

Da Sie die USA erwähnen: Ich habe ja den Verdacht, dass Ihre akrobatische Bemühung, als Pazifist ausgerechnet Putin zu verteidigen, wie überhaupt Ihre Versuche, die Schuldfrage in diesem Krieg zu vernebeln, ein und dieselbe Ursache haben – Ihren eingefleischten Antiamerikanismus. Meiner Meinung nach geht das nach dem Motto „Der Feind meines Feindes muss irgendwie mein Freund sein“ und hat mit dem realen Putin eigentlich gar nichts zu tun. Den Ukrainern gegenüber ist das jedoch eine zynische Haltung…

Gut, das sehen Sie so. Ich habe einen anderen Standpunkt. Es gab viele völkerrechtswidrige Kriege in den vergangenen Jahrzehnten. Denken Sie an Jugoslawien und den Irak, auch an die humanitären Katastrophen, die dort auf die Sanktionen folgten. Ich bin halt gegen jeden Krieg, nicht nur gegen den, der jetzt läuft. Dabei sehe ich durchaus, dass die Situation aktuell brandgefährlich ist. Russland ist militärisch viel schwächer als die Nato. Russland steht sozusagen mit dem Rücken an der Wand. Putin hat mit Nuklearwaffen gedroht. In den USA wird länger schon ernsthaft über einen „Enthauptungsschlag“ gegen Russland nachgedacht. Doch die Idee, einen Atomkrieg „gewinnen“ zu können, ist Blödsinn. Aber das merkt hier kaum jemand. Die Europäer lassen sich weiter von den Amerikanern an der Nase herumführen. Vergessen Sie nicht: Ein Konflikt zwischen Russland und der EU liegt im Interesse der USA. Darum geht’s. Um die Idee der USA, Weltmacht Nummer eins zu sein.

Schon wieder sprechen Sie über die USA… Können Sie sich nicht vorstellen, dass Putin diesen Krieg führt, weil er die Sorge hat, dass die Russen so frei leben wollen wie die Ukrainer?

Nein, das glaube ich nicht. Das ist nicht entscheidend. Es gibt viele Verbrechen auf der Welt, für die sich kaum einer interessiert. In der Türkei, in Syrien. Oder was ist mit Snowden und Assange? Es ist alles nicht so einfach, wie die meisten Menschen sich das vorstellen.

Der Streit um die Ex-ARD-Journalistin

Gabriele Krone-Schmalz (geboren 1949) berichtete lange für die ARD aus Moskau. In Büchern wie „Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“ (2017) vertrat sie Putin-freundliche Ansichten. Der Beck-Verlag teilte nun mit, dass er die Bücher nicht mehr nachdrucke. Krone-Schmalz selbst sagte der „Berliner Zeitung“: „Ich war fest davon überzeugt, dass der Aufbau dieser giga

Gabriele Krone-Schmalz, Journalistin und ehemalige Moskau-Korrespondentin.
Gabriele Krone-Schmalz, Journalistin und ehemalige Moskau-Korrespondentin. © picture alliance / dpa | Paul Zinken

ntischen russischen Drohkulisse in den letzten Wochen und Monaten, so riskant und überzogen er auch sein mochte, einem einzigen Zweck diente: nämlich ernstzunehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen, um Russlands Sicherheitsinteressen endlich zum Thema zu machen. Ich habe mich geirrt.“ Dass sie für den Einmarsch „mitverantwortlich“ gewesen sei, bestreitet sie. . Dieser Vorwurf setze voraus, dass „eine Abschreckungspolitik Putin hätte im Zaum halten können“. Das glaube sie nicht.

Kritikern wie dem FAZ-Journalisten Patrick Bahners genügen diese Sätze der Autorin keineswegs. Die Krone-Schmalz-Bücher waren laut Bahners „im schmutzigen Meinungskrieg gegen den Mainstream der Brückenkopf der verschwörungstheoretischen Gegenöffentlichkeit“. Dass die Journalistin immer noch daran zu glauben scheine, dass der Westen Putin durch Nicht-Verstehen in die Enge getrieben habe, sei nichts anderes als makaber.