Braunschweig. Die großen Kirchen schrumpfen. Es rücken weniger Theologen nach. Doch eine junge Pastorin erzählt, warum sie genau diesen Beruf so sehr liebt.

Und dann steht man plötzlich auf dem Kirchhof. Schon schön. Ein paar Minuten vorher, beim Gegurke durch den weitläufigen Landkreis Helmstedt, hätte man das kaum erwartet. Aber nun: Offleben. St. Georg, eine – im Jargon von Niedersachsens Denkmalatlas – „schlichte, aber künstlerisch nennenswerte Dorfkirche“ aus dem Spätbarock. Aber ums Kirchlein selbst soll es nicht gehen. Auch den „Bestand an künstlerisch anspruchsvollen Grabdenkmälern des Klassizismus“ (Denkmalatlas) auf dem Kirchhof lassen wir bei allem Respekt links liegen. Denn gleich dahinter im großen schönen Pfarrhaus wartet Madleen Pätow.

Madleen Pätow, fotografiert vor dem Pfarrhaus in Offleben bei Helmstedt, arbeitet unter anderem und sehr gern in der schmucken, spätbarocken St.-Georg-Kirche.
Madleen Pätow, fotografiert vor dem Pfarrhaus in Offleben bei Helmstedt, arbeitet unter anderem und sehr gern in der schmucken, spätbarocken St.-Georg-Kirche. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Die Pfarrerin sitzt locker im Stuhl, zugewandt, freundlich, selbstsicher. Hinter ihr im Regal leitzt ein Ordner mit alten Loccumer Ausbildungsnotizen vor sich hin. Tusche-Blätter von Kinderhand blinken bunt von der anderen Bürowand herüber. Madleen Pätow spricht mit Verve über ein beileibe nicht nur fröhlich-buntes Thema. Theologiestudium, Vikariat, Pfarrerin auf Probe, sie hat das alles hinter sich. Nun ist sie 37 und trägt die Verantwortung. Pfarrverband Offleben, Gemeinde Büddenstedt.

Ohne Wenn und Aber hat sie sich entschieden, das ist klar. „Ich wusste immer: Das ist das Richtige für mich. Dieser Beruf ist wirklich frei. Und er kann so wunderbar erfüllend sein.“

Dieser Beruf… Um den soll es hier gehen. Pfarrerin, Pastor, Priester, wie man ihn auch nennen mag. Um die Krise dieses Berufes. Dafür müssen wir die positive Offleben-Aura (die freundliche Pfarrerin, die „nennenswerte“ Dorfkirche, der tolle Garten!) erstmal verlassen und ein paar Fakten hubern für eine kritische Bestandsaufnahme. Die Kirchen haben nämlich ernsthafte Nachwuchssorgen. Immer weniger junge Menschen muten sich die Altgriechisch-, Hebräisch- und Latein-Seminare im anspruchsvollen, etwa sechsjährigen Theologiestudium zu, um diesen Beruf zu ergreifen.

Für die großen Kirchen ergibt sich eine ziemlich eigenartige Situation. Auf der einen Seite sinkt grundsätzlich und auf lange Sicht der Bedarf an Theologen. Auf der anderen Seite aber fehlt es für die nächsten Jahre durchaus an Aspiranten. Und dann wäre ja auch noch die Frage, woran das nachlassende Interesse eigentlich liegt – und wie sich die Kirchen vor diesem Hintergrund verändern.

Rotstift, aber auch Ruhestandswelle

Doch zunächst zum sinkenden Bedarf. Die Kirchen schrumpfen. Nur noch (oder doch immerhin?)
57 Prozent der Niedersachsen gehören einer der beiden großen Kirchen an. Die vielen Austritte schlagen ins Kontor, demografische Faktoren kommen hinzu. 72.000 Mitglieder verloren die fünf evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen allein im Jahr 2020 – und die katholischen Bistümer in Niedersachsen auf niedrigerem Niveau in demselben Jahr 23.000. Und dass diese letztere Zahl angesichts der jüngsten Gutachter-Enthüllungen zum Missbrauch in der katholischen Kirche aktuell stark ansteigt, ist wohl so sicher wie das Amen in der Kirche: Zumindest aus Bayern kommen am Mittwoch Berichte über Scharen von austrittswilligen Katholikinnen und Katholiken.

So oder so wird angesichts des Mitgliederschwunds der Rotstift angesetzt. In der Landeskirche Braunschweig plant man in den nächsten Jahren den Abbau von 32 Stellen. In der ungleich größeren Landeskirche Hannover geht man davon aus, dass statt der derzeit 1647 Pastorinnen und Pastoren (die nicht alle volle Stellen haben) im Jahr 2030 nur noch gut 1200 und zehn Jahre später 1000 des Sonntags auf der Kanzel stehen. Ganz ähnlich ist die Lage in der katholischen Kirche. In einem Wort: Priesterschwund! In Deutschland sank zwischen 1990 und 2020 ihre Zahl von 19.707 auf 12.565. Im Bistum Hildesheim wirken laut Domkapitular Martin Tenge jedes Jahr vier oder fünf Theologen weniger als im Jahr zuvor.

Und dennoch: Es fehlen nachrückende Geistliche. Denn eine „Ruhestandswelle“ rollt auf die Kirchen zu. Allein die Landeskirche Braunschweig geht bis 2030 mit Ruheständen im Umfang von 76 Stellen aus. Und Michael Grimmsmann, verantwortlich für die Nachwuchsförderung in der Landeskirche Hannover, sagt es frei heraus: „Wir haben Sorgen, Nachwuchs zu kriegen.“ Die Lücke werde immer größer. Einige Stellen müssten jetzt schon unbesetzt bleiben. Doch die Zahl der Theologiestudentinnen und -studenten stagniert im Gegensatz zu der in anderen Fächern. Auch entschließen sich viele an den theologischen Fakultäten, doch lieber Religionslehrer zu werden als Pfarrer.

Kleine Zuschüsse zum Studium

Was kann dagegen getan werden? Mehr Werbung, mehr Aufmerksamkeit für Theologie und Kirche, wird häufiger gesagt. In einem Papier der Braunschweiger Landessynode steht der Satz, man bitte „alle Ebenen des kirchlichen Lebens, ihre Bemühungen um die Gewinnung von Nachwuchs für alle kirchlichen Berufe in der Landeskirche zu intensivieren“. Und die Landeskirche Hannover hat sich sogar entschlossen, jungen Menschen das Theologiestudium mit kleinen Zuschüssen zu versüßen. „Wir müssen ganz neu darüber nachdenken, wenn man weniger Leute hat, den Beruf attraktiv zu halten“, sagt der Lüneburger Pastor Eckhard Oldenburg der dpa. Für ihn sei die Arbeit eine Berufung gewesen, was man in der nachwachsenden Generation jedoch nicht voraussetzen könne – vor allem, was die Arbeitszeit anbelangt. Und auch Domkapitular Martin Tenge in Hildesheim teilt klipp und klar mit, man könne die Zahl der Neupriester gar nicht erhöhen, dafür seien „viel zu wenige im Studium“. Tenge fügt hinzu: „Es gäbe die Möglichkeit, Priester aus anderen Ländern hinzuzugewinnen, der Anteil dieser Priester im Bistum Hildesheim ist aber bereits recht hoch, sodass darin nicht der Lösungsweg gesucht wird.“ Man werde halt, meint der Katholik, „mit weniger Priestern die Kirche der Zukunft gestalten“. Die Gruppe der „engagierten Getauften“ werde eine größere Rolle spielen und generell „die Volkskirche ihre Gestalt wandeln“.

Gut, Wandel also. Wie auch anders? Doch nochmal zurück zur Frage nach den Gründen, zurück nach Offleben, zehn Kilometer südlich von Helmstedt. Das eben schon erwähnte Problem der schwieriger als in anderen Jobs zu definierenden Arbeitszeit kennt Madleen Pätow gut. „Ja, ich arbeite an jedem Feiertag. Und wenn hier jemand vor der Tür steht und mit mir reden möchte, dann ist das halt so.“ Aber sie empfinde genau diesen seelsorgerischen Aspekt als Kern ihrer Arbeit. „Es geht darum, für Menschen da zu sein“, sagt sie. Und erzählt wie es sei, nach einem Trauergottesdienst mit verzweifelten, erschütterten Angehörigen trotz aller Bitterkeit sich immerhin sagen zu können, dass sie versucht hat, in schwerer Stunde Beistand zu leisten. Und da sie gerade begonnen hat, über das zu sprechen, was ihr wichtig ist an diesem Beruf, erzählt sie noch von der Selbständigkeit einer Pastorin („Wenn ich eine politische Predigt halten will, dann mache ich das einfach“) und wie viel sicherer sie in kurzer Zeit geworden sei, was freie Rede und bestimmtes Auftreten angeht. Wichtig sei, dass gegebenenfalls die Familie – in ihrem Fall der Mann und die zwei Kinder – mitzieht. „Mein Mann ist Ingenieur, er hat mir oft gesagt, wie sinnvoll er meine Arbeit findet.“ Und das Leben auf dem Dorf, das Pendeln zwischen Offleben, Büddenstedt und Reinsdorf? „Das ist toll. Wir haben das Landei in uns entdeckt“, sagt die neue Pastorin.

Ja, der Gottesdienstbesuch sei zum Teil spärlich, das Gemeindeleben habe aber auch mit Frauenhilfe zu tun, mit Spielenachmittagen, Chor, Seniorenkreis und so fort. „Hier wird das Wir großgeschrieben. Es geht nur zusammen“, sagt die Pfarrerin – und man erwischt sich sogar als Ortsfremder bei der Überlegung, ob man zur nächsten Andacht nicht wenigstens eine Kanne Kaffee mitbringen könnte…

„Du darfst keinen Sex mehr haben“

Doch so ansteckend die Pfarrerin über ihre Zufriedenheit mit diesem Beruf berichtet: Ein Detail ihres Werdegangs scheint für unser Thema bezeichnend. Madleen Pätow wurde – noch zu DDR-Zeiten – in Hagenow bei Schwerin geboren. Zum Glauben, zur Kirche fand sie als Jugendliche. „Das kam irgendwie von allein.“ Dann aber, als sie den Entschluss zum Theologiestudium gefasst hatte, habe es unter Gleichaltrigen schon merkwürdige Reaktionen gegeben. „Wie? Dann darfst du ja keinen Sex mehr haben!“ Oder „Wie? Dann darfst du ja keinen Alkohol mehr trinken!“ Es sei erstaunlich, meint die Pastorin, welch fremdartig-schräge Vorstellungen einige Leute von der evangelischen Kirche hätten.

Unwissenheit, schräge Ideen mögen in der Tat ein Faktor sein beim Thema Theologen-Ebbe. Ein sich verstärkender Faktor sogar, denn je weniger Menschen mit Geistlichen zu tun haben, desto seltener dürfte der Beruf in Betracht gezogen werden. Aber auch am grundsätzlichen Image-Problem kommt niemand vorbei. Kirche? Veraltet. Staubig. Dazu die Skandale: Alles irgendwie merkwürdig… Die Arbeit mag Freude machen, die Bezahlung ist nicht übel (mit rund 3400 Euro brutto kann man in den ersten Berufsjahren rechnen), und neuerdings werden gute Leute sozusagen mit Kusshand genommen. Als Eckhard Oldenburg 2006 seine Stelle in der St.-Nicolai-Kirche in Lüneburg antrat, gab es 19 Bewerber. Heute ist die Aussicht auf eine Wunsch-Stelle um einiges besser. Doch das haarige Studium und womöglich auch das Problem, sich selbst in den Dienst der anderen stellen und gleichzeitig als moralische Autorität fungieren zu müssen, scheint viele abzuschrecken. Pastor werden: Och nö!

Was meint eigentlich Dietrich Kuessner dazu, der nach 1963 mehr als 30 Jahre lang evangelischer Pfarrer in Offleben war und sich zudem den Ruf eines geradlinigen und kritischen Theologen erarbeitet hat? Kuessner, Jahrgang 1934, „ein alter Knabe und ein echtes Kriegskind“, wie er sagt, wundert sich über die telefonische Anfrage höchstens fünf Sekunden lang. „Moment, ich mach mal den Fernseher leiser“ – und dann geht es los: „Dieser Beruf ist der freieste von allen. Er ist wunderbar. Ich würde ihn sofort wieder ergreifen. Dieser Beruf ist etwas für Leute, die fleißig sind, die Ideen haben und gern mit anderen Menschen arbeiten. Doch davon gibt es offenbar nicht mehr genug.“

Wie sagte der Domkapitular? Die „Volkskirche“ werde sich wandeln müssen. Doch wie genau? Kuessner findet, die Kirchen sollten Regeln lockern, um weniger abzuschrecken. Doch der Spagat, auf diese Weise andere Menschen zu erreichen, ohne die Traditionalisten zu verprellen, dürfte die Kirchen voll herausfordern. Immerhin meint Madleen Pätow mit Blick auf die esoterische Szene, dass das Bedürfnis nach Religiosität gar nicht grundsätzlich abgenommen habe. „Das Interesse an unserer Kirche aber schon. Dagegen müssen wir etwas tun“, sagt sie. Und sieht dabei unternehmungslustig aus.