Braunschweig. Die Hochschulen in der Region versuchen, mit Offenheit, Sensibilität und Regeln Übergriffe zu verhindern. Sie bleiben aber anfällig.

Puh, zum Glück ist der Vortrag gut gelaufen. Internationales Publikum. Die Referentin ist nicht unzufrieden. Auch ein Professor aus Frankreich gratuliert. Bald wird klar, warum er das tut. Er habe mit Bedauern bemerkt, dass sie einen Ring am Finger trage, sagt er. Ob sie denn Französisch spreche? Der beste Weg, eine Sprache zu lernen, sei doch ein Liebhaber…

Schlecht und gut eignet sich die Geschichte für den Einstieg in das heikle Thema Sexismus an Hochschulen. Ihr Nachteil: Sie ist unüberprüfbar, wurde anonym auf „gender-macht-wissenschaft.de“ veröffentlicht – übrigens mit dem Hinweis, dass die Beschwerde-Mail an die Veranstalterinnen des Kolloquiums ohne jede Reaktion verhallt sei. Der Vorteil der Geschichte: Sie ist aus dem interessanten Graubereich. Sind die zitierten Sprüche hochgradig sexistisch oder nur ein bisschen aufdringlich? Da kommt es auf Feinheiten an, auf Betonungen. Und natürlich nimmt man derlei je nach eigenen Vorurteilen zur Kenntnis. Denn die einen halten so eklatante, nun gerichtlich zu klärende Vorwürfe wie die aus Göttingen - einen ausführlichen Bericht dazu lesen Sie hier - für die exzessive Spitze eines riesigen, junge Frauen fortwährend touchierenden und dann lange belastenden Problems – während andere den Eindruck haben, von einer feministischen Gesinnungspolizei umstellt zu sein, die nur darauf warte, Verfehlungen zu skandalisieren.

Oder liegt die Wahrheit, die olle Langweilerin, womöglich mal wieder irgendwo in der Mitte?

Nun, eher sensibel-optimistisch denkt man nach einem Gespräch mit Prof. Dr. Dorothea Hilliger über diese Themen nach. Sie ist kommissarische Präsidentin der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste. Vor Jahrzehnten studierte sie selbst in Berlin, seit 2004 ist sie an der HBK. Einen tiefgreifenden Wandel in Fragen der Sexualmoral an den Hochschulen habe sie erlebt, sagt sie. „Natürlich sind wir in hohem Maße sensibler geworden – und das ist auch gut so.“ Früher seien unterschwellige Anzüglichkeiten häufig vorgekommen. Die 2017 durch die „#Metoo“-Bewegung angestoßene Debatte habe gezeigt, wie wesentlich es sei, nicht nur in allgemeinen Wendungen Diskriminierung und Übergriffe gegenüber jungen, oft auf das Wohlwollen einer akademischen Leitfigur angewiesenen Menschen zu geißeln, sondern auch subjektive Erfahrungen einzubringen, sagt sie.

Genau deswegen begnügt sich die HBK nicht mit der Richtlinien- und Leitbild-Prosa, in der sie – wie alle Hochschulen – sämtlichen Sexis- und Chauvinismen klare Absagen erteilt. Sondern man hat zweimal Aktionstage unter dem Motto „Let’s talk!“ veranstaltet, damit die Fragen nach dem erwünschten und dem unerwünschten Umgang möglichst konkret zur Sprache kommen. „Ich glaube, es gibt nur eine Lösung: Wir müssen darüber reden“, findet Dorothea Hilliger, und das ist dann auch gleich ihre Antwort auf die Frage nach dem Graubereich und nach den Sorgen mancher Männer, man dürfe „ja nichts mehr sagen“.

„Das kann man miteinander regeln“

Reden also, immer wieder. Dazu passt eine Ankündigung Ulrike Wrobels, der Gleichstellungsbeauftragten der TU Braunschweig: Im März wolle man an der TU eine „aktionsorientierte“ Kampagne machen, um das Thema sexuelle Belästigung an der Hochschule bewusster zu machen und zu vertiefen.

Auch an der TU Clausthal verspricht man sich viel von offener Diskussion und klarer Zuständigkeit im Präsidium, wie Dr. Natalia Schaffel-Mancini für die Uni sagt. Dass bei solchen Bemühungen eine hysterische Überempfindlichkeit in sexuellen Fragen entsteht, glauben die Gesprächspartnerinnen allesamt nicht.

Auch Daniela Kock, die seit 2008 an der Ostfalia-Universität mit Gleichstellungsproblemen befasst ist, verneint die Frage. „Das können vernünftige Menschen miteinander regeln“, meint sie. Im Ganzen habe sich das Klima in dieser Hinsicht verbessert. Auch die Tatsache, dass im „Mittelbau“ der Ostfalia wieder mehr Lehrende unbefristet beschäftigt seien als vor Jahren, erwähnt sie diesbezüglich. „Sie haben dann ein anderes Standing.“ Schwere Vorwürfe oder gar Anzeigen von Studentinnen kommen laut Daniela Kock sehr selten vor. „Da muss der Leidensdruck wohl schon groß sein.“ Dann aber würden sie gründlich untersucht und könnten gegebenenfalls auch harte Konsequenzen inklusive Abmahnung oder Entlassung haben.

Wie hoch ist die Dunkelziffer?

Kann man also sagen, dass der Teppich, unter den die sich Vorwürfe gegen übergriffige Dozenten früher oft gekehrt wurden („Der Sowieso ist halt so“) längst nicht mehr in Benutzung ist an deutschen Hochschulen? Jein, meint Dr. Beate von Miquel. Sie lehrt „Gender Studies“ an der Ruhr-Uni Bochum und ist seit dem Vorjahr Vorsitzende des Deutschen Frauenrats. „Es hat sich wirklich viel verändert, es wird anders durchgegriffen“, sagt sie im Gespräch mit unserer Zeitung.

Dass Frauen in den vergangenen zwanzig Jahren „an die Spitze der Hochschulen gestürmt“ seien, wirke sich halt aus. Gleichwohl warnt Beate von Miquel vor Friede, Freude, Eierkuchen. „Wir dürfen nicht vergessen: Die Universität ist anfällig. Wir nennen das ,vergeschlechtlichter Raum‘“, sagt sie. Das Thema habe auch viel mit Scham zu tun. Entsprechend hoch müsse man wohl die Dunkelziffer ansetzen, auch bei Übergriffen unter Studenten oder im Wohnheim oder bei Seminaren in Video-Formaten...

Vor einigen Jahren habe eine Untersuchung ergeben, dass jede zweite Studentin an der Uni schon einmal Opfer sexueller Belästigung geworden sei. Sie hoffe, sagt die Historikerin und Gender-Forscherin, dass eine nun angelaufene Studie zu einem günstigeren Schluss gelange. Ja, die Aufmerksamkeit sei nun größer. Ja, auch habe eine Tagung zum Thema mit 400 Teilnehmern zum Thema im Vorjahr durchaus etwas in Bewegung gesetzt. Aber man müsse dranbleiben, meint Beate von Miquel. „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.“