Braunschweig. Unsere Karikatur mit dem Nikolaus, der Ungeimpften in die Stiefel uriniert, stieß auf Empörung. Experte Thomas Knieper ordnet die Zeichnung ein.

Ein Nikolaus, der sich in die Stiefel von Ungeimpften erleichtert. Für mehrere Dutzend Menschen, die sich in empörten Mails an unsere Redaktion wandten, war das zu viel. „Das ist so unwürdig“, schreibt eine Verfasserin, „so werden sich Ungeimpfte noch mehr zurückziehen, sich noch mehr in die Ecke gedrängt fühlen“. Über die Karikatur und die Kritik sprachen wir mit Thomas Knieper. Der Kommunikations- und Medienwissenschaftler, der bis 2010 an der TU Braunschweig lehrte, hat mittlerweile einen Lehrstuhl an der Universität Passau. Knieper hat Aufsätze über mehrere Karikaturen-Debatten veröffentlicht – über „Charlie Hebdo“ ebenso wie über die Antisemitismus-Unterstellungen gegen den Zeichner Dieter Hanitzsch.

Herr Prof. Knieper, ist die Nikolaus-Zeichnung von Mario Lars aus Ihrer Sicht eine gelungene Karikatur?

Das hängt natürlich von den Kriterien ab. Geht es um zeichnerische Kompetenz? Geht es um die Kritik an der Gesellschaft? Geht es um die „Punchline“ – also die Pointe?

Fangen wir doch beim Zeichnerischen an.

Der Stil ist nicht realistisch, sondern sehr minimalistisch. Das Ganze geht in Richtung Witzzeichnung – ein Trend, der sich in Deutschland immer mehr durchsetzt. Natürlich kann man es bedauern, dass wir keine Zeichner mehr von der Qualität haben, wie es sie im Simplicissimus gab. Man kann aber auch umgekehrt argumentieren, dass ein so einfacher Strich gerade angemessen ist, um die hier beabsichtigte Kritik zu transportieren.

Damit kommen wir zum Inhalt.

Vielleicht eine Bemerkung vorweg: Genau genommen, zeigt die Karikatur nicht die historische Figur des Nikolaus von Myra, eines Heiligen aus dem vierten Jahrhundert, sondern dessen säkularisierte Fassung, den Weihnachtsmann. Diese Figur wurde übrigens im 19. Jahrhundert maßgeblich von einem Karikaturisten mitgeprägt: dem Deutsch-Amerikaner Thomas Nast. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts dann machte die Coca-Cola-Company den Weihnachtsmann als Werbefigur populär und verpasste ihm den roten Mantel. Aber jetzt zur Karikatur: Natürlich ist der Weihnachtsmann heute dafür bekannt, dass er brave Kinder beschenkt.

Dieser dagegen pinkelt den Ungeimpften in die Schuhe.

In dieser Pandemie kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Impfbefürworter die rationalen Argumente auf ihrer Seite haben. Dafür sprechen etwa die räumliche Verteilung der hohen Corona-Inzidenzen und auch die unterschiedlichen Erkrankungs- und Verbreitungsrisiken, die von Geimpften und Ungeimpften ausgehen. Die Impfgegner haben zwar auch Argumente, allerdings entpuppen sich diese bei näherer Betrachtung größtenteils als Scheinargumente. Es geht hier um Menschen, die die Möglichkeit der Impfung bewusst ausschlagen und dafür in Kauf nehmen, dass die Gesamtbevölkerung stärker belastet wird als nötig. Das greift diese Karikatur auf. Für diesen Nikolaus sind die Geimpften die „braven Kinder“. Und wenn er nun sagt, „natürlich komme ich auch zu Ungeimpften“ und ihnen in die Stiefel uriniert, drückt er damit – natürlich nicht gerade auf die feine Art – seine Geringschätzung aus.

Der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Prof. Thomas Knieper ist Experte für Karikaturen. Er lehrte bis 2010 an der Technischen Universität Braunschweig.
Der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Prof. Thomas Knieper ist Experte für Karikaturen. Er lehrte bis 2010 an der Technischen Universität Braunschweig. © Privat

Ist das legitime Kritik?

Offenbar kommt der Karikaturist zu dem Schluss, dass diese Gruppe mit ihrem Verhalten der Gesamtgesellschaft schadet und sie gefährdet. Und wenn er auf diese Weise deutlich macht, dass er mit diesem Verhalten nicht einverstanden ist, dann ist das eine legitime Kritik, die sogar durch wissenschaftliche Daten gedeckt ist.

Bleibt die Frage nach der Qualität der Pointe. Mehrere Absender von Mails beschweren sich über eine „Grenzüberschreitung“. Die Karikatur wende sich gegen Kinder, die ja größtenteils ungeimpft seien und sich auf den Nikolaus freuten. Können Sie das nachvollziehen?

Nein. Wer das behauptet, will diese Zeichnung aus meiner Sicht vorsätzlich falsch verstehen. Schauen Sie sich allein die Größe der Stiefel vor der Tür an: Das sind eindeutig keine Kinderschuhe. Diese Karikatur enthält keinerlei Anspielungen auf Kinder, sondern will ein Gesamtproblem aufzeigen: Wer hat sich um die Gesellschaft verdient gemacht, und wer nicht? Das ist ein Erwachsenenproblem.

Manche Leserbriefschreiber fragen verärgert, wie sie diese Zeichnung nun ihrem Kind erklären sollen. Sind Karikaturen denn überhaupt für Kinder geeignet?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der oft unterstellt wird, dass das Visuelle trivial sei, dass Bilder etwas für Kinder seien. Dabei wird verkannt, dass auch Sehen erlernt sein will und Kompetenzen braucht. Diese Zeichnung richtet sich an Erwachsene. Natürlich kann es sein, dass das Kind am Frühstückstisch fragt: „Was ist das denn?“ Und dann muss man darüber reden. Wenn das Kind in einem Alter ist, dass es noch an den Nikolausmythos glaubt, wird es schwierig. Aber danach kann man über den Konflikt zwischen Impfbefürwortern und -gegnern und über deren Argumente reden. Und bei vielen Impfgegnern sind das nun mal vor allem Fake News und Verschwörungsmythen. Natürlich gibt es auch Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können oder eine entsprechende Angststörung haben. Das ist etwas anderes. Aber eine Karikatur muss auch verallgemeinern dürfen. Das zu verstehen, braucht gewisse kognitive Fertigkeiten, aber mit älteren Kindern sollte das klappen. Dann können sie diskutieren: Wer hat die besseren Argumente? Natürlich greift die Karikatur das Thema in einer derben Art auf. Aber warum darf ein Cartoon nicht auch mal derb sein?

Ein Leser wendet ein, die Ungeimpften würden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Andere Gruppen dagegen – er nennt Dicke, Alkoholiker, Raucher – seien angeblich unantastbar.

Natürlich sind Adipositas, durch Alkohol hervorgerufene Leberzirrhose, Gefäßkrankheiten oder Krebs bei Rauchern ebenfalls gesellschaftliche Probleme. Wer würde das bestreiten? Allerdings schaden sich die hiervon Betroffenen vor allem selbst. Auch sie verursachen einen volkswirtschaftlichen Schaden, aber den nehmen wir als Gesellschaft hin. Wer sich dagegen nicht impfen lässt und als potenzielle Virenschleuder durch die Gegend läuft, gefährdet auch andere. Das ist ein entscheidender Unterschied.

Erschreckend viele Mails, die wir erhalten haben, vergleichen die Situation der Ungeimpften mit der Unterdrückung in der NS-Zeit.

Wer hier das Dritte Reich als Vergleich heranzieht, hat offensichtlich nichts von der Geschichte verstanden. Das ist ein Grad der Geschichtsverfälschung, bei dem mir schlecht wird.

Die Karikatur sei auf dem Niveau des NS-Hetzblatts „Der Stürmer“, schreibt ein Leser.

Die abstoßenden Karikaturen im Stürmer hatten eine ganz andere, eine hetzerische Qualität. Da ging es um die willkürliche Herabwürdigung, um ein Niedermachen von Gruppen. Das ist etwas völlig anderes. Hier hingegen wird niemand entmenschlicht. Ein weiterer Unterschied ist: Während Juden im Nationalsozialismus keine Gelegenheit hatten, der Stigmatisierung zu entgehen, haben Ungeimpfte heute viele Möglichkeiten, dem gesellschaftlichen Druck auszuweichen: etwa indem sie bestimmte Orte meiden oder sich einfach impfen lassen.

Wegen der Nikolaus-Karikatur erleben wir gerade einen „Shitstorm“. Einzelne Abonnenten drohen mit Kündigung. Viele drastische Mails kommen aber erkennbar von außerhalb unserer Leserschaft. Sie haben einen Lehrstuhl für „Digitale und Strategische Kommunikation“. Zu welcher Strategie raten Sie?

Die Karikatur hat ein seriöses Anliegen und verpackt dieses in einen derben Witz. Ich sehe da keinen Grund, sich zu entschuldigen. Man darf ja nicht vergessen: Die Karikatur ist eine meinungsbetonte journalistische Darstellungsform. Also darf, ja, muss dort sogar eine Meinung vertreten werden. Was die Kritik anbelangt, könnte man abwarten, bis sich die Aufregung wieder legt. Oder man steht zur redaktionellen Entscheidung, diese Karikatur abzudrucken, und setzt sich mit den Argumenten der Kritiker auseinander.

Diese Argumente darzustellen und zu diskutieren, dazu dient auch dieses Interview. Allerdings macht die aufgeheizte Atmosphäre das nicht einfacher. Ich denke etwa an den Aufmarsch militanter Impfgegner vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin.

In der Szene der Impfverweigerer gibt es Hassprediger und Leute, die sich bereitwillig radikalisieren. Diese „Coronisten“ sind längst bereit, zur Gewalt zu greifen und andere einzuschüchtern – alles mit voller Absicht. Gleichzeitig reklamieren sie für sich die Opferrolle, ohne zu erkennen, dass sie bereits zu Tätern geworden sind. Ich sehe da eine klassische Umkehr von Täter und Opfer. Leute, die sich aus egoistischen Gründen nicht impfen lassen, inszenieren sich als Opfer, haben aber bei anderer Gelegenheit überhaupt kein Problem damit, Politiker mit Fackelaufmärschen einzuschüchtern. Das ist eine Spirale, die sich noch weiterdrehen wird. Und leider mir fehlt auch die Fantasie, wie man hier deeskalierend eingreifen könnte.

Stichwort Deeskalation: Manche Leser werfen uns vor, mit der Karikatur unnötig Öl ins Feuer einer aufgeheizten Situation zu gießen und die vorhandene Spaltung zu vertiefen. Wie sehen Sie das?

Wenn man anfängt zu fragen, „War das nötig?“, kann man natürlich auch fragen: Ist es überhaupt noch nötig, für die eigene Meinung einzustehen? Brauchen wir überhaupt meinungsbetonte Darstellungsformen wie Kommentare, Kritiken und Karikaturen? Aus meiner Sicht kann die Antwort nur „Ja“ lauten. Natürlich müssen wir über Positionen und die Konsequenzen, die daraus folgen, diskutieren. Die Alternative wäre ja, dass in der Zeitung nur noch Nachrichten stehen...

...und nichts mehr, woran man sich reiben kann.

Ja. das ist ja das Tolle an Meinungen. Sie sind selten bei allen gleich.

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