Braunschweig. Journalist Hendrik Rasehorn ist unser Polizeireporter. Zum Jubiläum berichtet er von seiner Arbeit.

Den Auftrag zu meinem ersten Polizeieinsatz für unsere Zeitung bekam ich an einem späten Sonntagabend im September 2004. Der fürs Wochenende zuständige Lokalredakteur hatte sein Tageswerk als erledigt erachtet und daheim zum Abendessen eine Flasche Wein entkorkt. Danach durfte er nicht mehr ins Auto steigen. So wurde an mich – damals war ich noch kein Redakteur, sondern freier Mitarbeiter – von einer Spätdienst-Redakteurin die Bitte herangetragen, von einem schweren Unfall an der Autobahnabfahrt am Braunschweiger Hafen zu berichten.

Der erste Einsatz war am Braunschweiger Hafen

Das Blaulicht der zahlreichen Streifen- und Feuerwehrwagen konnte ich bei meiner Anfahrt auf der Hansestraße schon von weitem sehen. Die Unfallstelle war weiträumig abgesperrt. Ich durfte nach Vorzeigen meines Presseausweises und Anmeldung beim Einsatzleiter passieren. Dieser hatte nach Rücksprache mit der Pressestelle der Polizei entschieden, dass die Medien über den schweren Unfall informiert werden sollen.

Seelische Belastung ist vorhanden

Das war eine Stunde vorher geschehen: Ein 29-Jähriger fuhr gegen 21 Uhr mit seinem BMW – auf dem Rücksitz saßen seine ebenfalls 29 Jahre alte Frau und ihr 2-jähriges Kind – von der A2 ab und wollte nun Richtung Walle einbiegen. Dabei missachtete er die Vorfahrt eines entgegenkommenden Golfs, am Steuer ein 18-Jähriger. Auf dessen Spur galt Tempo 100. Sein Auto traf den BMW genau an der Stelle, wo die Mutter saß. Sie starb. Die drei überlebenden Schwerverletzten mussten aus den Resten der Fahrzeuge herausgeschnitten werden.

Scheinwerfer erhellten die Unfallstelle mit ihrem künstlichen, grellen, kalten Licht. Ich positionierte mich mit einigem Abstand, um die Arbeit der Retter nicht zu stören. Metall, Kunststoff, Glas – über 100 Meter verteilt lagen auf dem Boden Stückchen der zerfetzten Fahrzeuge. Auf dem Boden erblickte ich direkt neben mir den Sarg, bereit zum Abtransport – dieses Bild ist mir bis heute in Erinnerung geblieben.

Zurück in der Redaktion schrieb ich nicht vom Leichenabtransport, aber davon, wie Polizisten schweigend am Rand standen, einige ihre Blicke abwandten, derweil Feuerwehrleute emsig bemüht waren, die Trümmerwüste zu beseitigen.

Warum überhaupt über solch schrecklichen Dinge schreiben?

Als Polizeireporter sieht man die Stadt mit anderen Augen, man kann zu vielen Straßen und Gebäuden Schauergeschichten erzählen. Doch warum berichtet die Zeitung überhaupt über den Unfalltod einer jungen Mutter? Weil es im Leben nicht nur freudige Ereignisse gibt und es Pflicht der Presse ist, über das Leben zu berichten, auch wenn sich der Schatten darüber legt. Wenn sich zudem ein derart tragischer Unfall in der Heimatregion ereignet, er dadurch zum Gesprächsstoff wird, ist die Lokalzeitung umso mehr gefordert – auch um Spekulationen entgegenzuwirken.

Von großen Polizeieinsätzen bekommt man als Polizeireporter manchmal zufällig mit, vielleicht weil man selbst daran vorbeifährt oder durch Tipps von Lesern oder anderen Informationsgebern. In den meisten Fällen ist es aber die Polizei, die selbst auf Großlagen hinweist. Deren Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hat sich in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund der neuen Medienlandschaft deutlich verändert und wurde professioneller aufgestellt. Bei größeren Einsätzen rücken sie gleich mit mehreren Sprechern an und setzen parallel Meldungen über die sozialen Medien ab.

Berichtet wird heutzutage nahezu in Echtzeit

Unser Verlag hatte schon vor der Jahrtausendwende mit dem Portal „newsclick“ den Sprung ins digitale Zeitalter unternommen. Im Jahr 2004 hatte das Internet aber längst noch nicht die Bedeutung für aktuelle Berichterstattung, wie es heute der Fall ist. Zur Einordnung: Facebook startete erst im Sommer 2008 in Deutschland. Dadurch, dass heute über das Handy neue Nachrichten nur einen Drücker entfernt liegen, ist das Tempo für alle Medien im Jahr 2021 sehr viel rasanter und die Konkurrenz größer geworden. Das hat die Arbeitsweise unserer Redaktion verändert: „online first“ ist unsere Devise.

Ende September 2019 gab es um 7 Uhr einen ICE-Unfall bei Fallersleben. Sturmtief Mortimer fegte über das Land und brachte einen Baum an der Eisenbahnstrecke zum Umkippen. Dabei krachte ein Ast gegen die Frontscheibe des entgegenschellenden Zuges. Der Zugführer, der dabei leicht verletzt wurde, leitete die Notbremsung ein.

Nach einem Hinweis durch die Polizei an unserer Redaktion war ich der erste Reporter am Unfallort. Dort angekommen sprach ich mit dem Einsatzleiter und verschaffte mir einen ersten Überblick, verfolgte, wie Retter die 250 Passagiere des Zuges evakuierten und parallel Bahnmitarbeiter die Schäden reparierten. Minuten, nachdem ich vor Ort eingetroffen war, setzte ich eine erste Zusammenfassung über mein Handy an die Zentralredaktion in Braunschweig ab und hängte Fotos sowie Videos an. Kollegen der Internetredaktion bereiteten all das in der ersten Online-Meldung auf, ergänzt mit dem Service-Hinweis an alle Zugreisenden zu Verspätungen und Umleitungen.

Verbreitet wurde die Nachricht über unsere Internetseite, über unsere Angebote in den sozialen Medien und als „Push“-Sofortmeldung auf die Handys unserer Leser. Der Text wurde in kollegialer Zusammenarbeit fortlaufend aktualisiert. Die Zusammenfassung dieses ereignisreichen Tages konnten Online-Abonnenten im E-Paper bereits am Abend lesen und die Print-Leser am nächsten Morgen in der gedruckten Ausgabe.

Die Konkurrenz durch das Internet ist größer geworden und ebenso der Druck auf Redaktionen, die Leser schnell zu informieren. Trotzdem ist stets die Rücksprache mit Sprechern von Polizei und Feuerwehr, das sorgfältige Prüfen von Informationen – insbesondere wenn diese nicht von vertrauenswürdigen Quellen wie Behörden stammen –, das Abwägen und zuweilen das Innehalten eher angeraten als jeder Schnellschuss. Die Grundlage unserer Berichterstattung bilden die Richtlinien des Pressekodex. Darin hat der Schutz der Opfer besondere Bedeutung, auf unangemessene Darstellung ist zu verzichten.

Polizei wie Feuerwehr wägen ab, ob Infos an die Medien und ihr Hinzuziehen einen Einsatz gefährden könnte. Ein hohes Gut ist dabei das gegenseitige Vertrauen, wie Thorsten Ehlers, Sprecher der Polizeidirektion Braunschweig, betont: Zielrichtung war und ist es, die Medien mit wahrhaften und möglichst schnellen Informationen zu versorgen. Andererseits wird so dem eigenen polizeilichen Anspruch professioneller Informationsvermittlung Sorge getragen. „Ein Pressevertreter muss darauf vertrauen können, dass die Polizei sämtliche Informationen weitergibt, sobald dies möglich ist. Seitens der Polizei muss darauf vertraut werden können, dass freigegebene Informationen und Zitate unverfälscht und nicht aus dem Zusammenhang gerissen veröffentlicht werden.“

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

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