Braunschweig. Ausgerechnet in Niedersachsen wird das Braunschweiger Produkt Sormas kaum genutzt. Im Rest Deutschlands hingegen schon. Warum eigentlich?

Eigentlich sollte die Software Sormas bis Ende Februar deutschlandweit in allen Gesundheitsämtern installiert sein. In 10 der 16 Bundesländer wurde dies auch umgesetzt. Besonders viele weiße Flecken zeigt die Karte ausgerechnet in Niedersachsen – einer von ihnen ist Braunschweig. Dabei wurde die Software in der Löwenstadt entwickelt. Woran liegt das? Und was ist Sormas eigentlich?

Sormas ist eine Software zur Infektionsüberwachung und zum Ausbruchsmanagement. Ziel des Programms ist es, Ausbrüche von Infektionskrankheiten früh zu erkennen. Geschaffen wurde Sormas dabei nicht im Zuge der Corona-Pandemie, sondern schon für den Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika. Entwickelt wurde sie von dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), dem Nigeria Center for Disease Control, Hasso-Plattner-Institut, dem Robert-Koch-Institut (RKI) und dem Bernhardt-Nocht-Institut.

Es müssen genug Gesundheitsämter mitmachen

„Das Kernstück der Software ist die Kontaktnachverfolgung. Sormas wurde nicht allein dazu erfunden, primär Falldaten zu melden und die Berichtspflicht zu erfüllen, sondern dazu, Ausbrüche von Epidemien zu bekämpfen. Und das ist ja die Situation, in der wir uns befinden“, sagt Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am HZI. Mit Sormas werden Gesundheitsämter innerhalb des Systems digital untereinander Daten austauschen können. So könne man Infektionsketten, die über Landkreisgrenzen hinweggehen, gemeinsam bearbeiten. Krause sagt: „Das ist ein wichtiger Aspekt und wird eine Premiere in Deutschland.“

Über Schnittstellen ist Sormas auch mit anderen Programmen kompatibel. Aber damit die Kommunikation über Landkreisgrenzen funktioniert, müssen genug Gesundheitsämter mit dem Programm arbeiten. „Dass sich da ausgerechnet die Gesundheitsämter aus unserem Bundesland so zurückhalten, finde ich schade“, sagt Krause.

Nicht mal die Hälfte nutzt Sormas

Sormas ist derzeit in 22 Gesundheitsämtern in Niedersachsen installiert. Wobei installiert nicht bedeutet, dass auch hiermit gearbeitet wird. „Eine Differenzierung, welche Ämter Sormas auch tatsächlich nutzen, ist aktuell nicht exakt möglich“, so Silke von der Kammer, Sprecherin des Niedersächsischen Gesundheitsministeriums, auf Anfrage unserer Zeitung. 22 Gesundheitsämter, das ist die Hälfte der Ämter in Niedersachsen. Setzt man diese Zahl in Relation zu anderen Bundesländern, wirkt sie sogar noch größer: Im Rest von Deutschland haben nur 17 weitere Gesundheitsämter Sormas nicht installiert.

Selbst in Frankreich haben laut Krause zwei Drittel der Regionen und in der Schweiz die Hälfte der Kantone die Software eingeführt. Ein Austausch über die Grenzen hinweg sei – wenn gewollt – technisch möglich. Das Gesundheitsamt Braunschweig nutzt zur Kontaktnachverfolgung Gumax. „Das Gesundheitsamt setzt diese Software bereits seit 2001 ein, also bereits vor der Corona-Pandemie. Sie deckt mit dem Covid-19-Modul das gesamte Aufgabenspektrum des Gesundheitsamtes für meldepflichtige Krankheiten vollständig ab“, so Braunschweigs Pressesprecher Adrian Foitzik auf Nachfrage.

Arbogast generell offen für Sormas – aber nicht jetzt

Matthias Ranft schrieb Anfang März einen offenen Brief an das Gesundheitsamt Braunschweig, in dem er nachfragt, warum die Stadt sich Sormas verweigert, obwohl das System aus dem Braunschweiger HZI stammt. Sozialdezernentin Christina Arbogast antwortete: „Sormas wurde für die Ebola-Pandemie in Afrika entwickelt. Aufgrund der aktuellen Lage ist es für die Corona-Pandemie angepasst worden. Das Programm befindet sich noch im Entwicklungsstadium und ist noch nicht für alle vorgesehenen Bereiche funktionsfähig.“

Generell zeige sie sich offen, die weitere Entwicklung der digitalen Produkte genau zu beobachten, und sich, sobald die Arbeit dadurch wirksam unterstützt würde, dahingehend auszurüsten. Aber eben nicht jetzt: „Mitten in der Pandemie kann das Gesundheitsamt nicht Experimentierfeld für unausgereifte Softwareangebote sein.“ Dabei haben über 85 Prozent der deutschen Gesundheitsämter Sormas installiert und ein großer Teil davon setzt es bereits ein.

Ministerium sieht Sormas positiv

Das Niedersächsische Gesundheitsministerium sagt, dass derzeit noch erforderliche Schnittstellen fehlen würden. Für die Schnittstellen brauche es jedoch immer zwei Seiten, betont Krause. Die relevantesten Systeme seien bereits angebunden, meist liege es daran, dass die anderen Firmen noch nicht bereit dazu seien. Außerdem könne man Sormas auch ohne Schnittstelle benutzen.

Sonst fällt das Urteil des Ministeriums überwiegend positiv aus. Die Sprecherin sagt: „Nach fachlicher Bewertung der auf dem Markt befindlichen beziehungsweise angebotenen digitalen Anwendungen durch das Niedersächsische Gesundheitsamt zeigte Sormas das größte Potenzial für die einheitliche Unterstützung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Kontaktnachverfolgung und dem Kontaktpersonenmanagement. Als einziges Programm wies es zum Zeitpunkt der Planung des niedersächsischen Förderprojektes alle geforderten Eigenschaften auf.“Und das Programm wird weiterentwickelt. „Wir nehmen die Wünsche der Ämter auf. Jeden Monat gibt es ein neues Release. Die Gesundheitsämter sind so Mitgestalter des Prozesses“, sagt Krause.

Die Entscheidung für Sormas kam spät

Auf den verpflichtenden Einsatz von Sormas in Niedersachsen sei laut dem Niedersächsischen Gesundheitsministerium bewusst verzichtet worden. Der Braunschweiger Sprecher sagt: „Die Migration zu einem anderen System unter laufendem Betrieb inmitten der Pandemie erfordert zudem einen erheblichen zusätzlichen Aufwand und bedeutet ein beträchtliches technisches Risiko. Deshalb ist ein Wechsel in Braunschweig in der aktuellen Situation nicht beabsichtigt.“

Dieses Argument kann auch Krause vom HZI nicht von der Hand weisen. „Wenn ohnehin schon viel

Gérard Krause vom HZI in Braunschweig. 
Gérard Krause vom HZI in Braunschweig.  © Bernward Comes

improvisiert werden muss, einen Systemwechsel einzuführen, ist eine besondere Herausforderung“, so der Leiter der Abteilung Epidemiologie. Allerdings stecke da wohl oft die Hoffnung dahinter, dass die Corona-Pandemie bald vorbei sei. Im vergangenen Sommer sei es beispielsweise leichter gewesen, auf Sormas zu wechseln. Als die Pandemie im März Deutschland erreichte, hätte sich die Politik auf ein System einigen können. Dies geschah erst im November und die Ämter kümmerten sich selbst um Programme – teilweise teuer bezahlt. Vielleicht auch ein Grund, warum manche nun nicht umsteigen, vermutet Krause.

„Sormas hat Funktionen, die viele Systeme nicht haben“

Die Schulung der Mitarbeiter und Installation übernimmt das HZI gemeinsam mit der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen. Außerdem wird Sormas zentral beim Informationstechnikzentrum des Bundes betrieben. Die Gesundheitsämter müssen die Software also nicht warten und neue Versionen aufspielen. Sormas ist webbasiert, Mitarbeiter der Ämter können es also auch außerhalb des Amtes nutzen.

Kontaktdokumentations-Apps wie Luca lassen sich an Sormas andocken. Auch Symptomtagebücher sind eingebunden: Per App können Kontaktpersonen hier ihre Symptome eintragen, die dann direkt im Programm landen. „Es ist ja nicht nur das Kontaktpersonenmanagement selbst, sondern auch viele andere Funktionen. Sormas hat zum Beispiel ein automatisches Dashboard, das Infektionsketten darstellt, epidemiologische Parameter werden sofort generiert. Das sind Funktionen, die viele Systeme nicht haben“, so Krause.

Gute Erfahrungen in Peine

Das Gesundheitsamt Peine nutzt Sormas laut Fabian Laaß, Sprecher des Landkreises Peine, seit dem vierten Quartal 2020. Seither werde fast nur noch digital gearbeitet. „Alle MitarbeiterInnen haben zu jedem Zeitpunkt Zugriff auf die gleichen Datensätze, so dass man jederzeit zu den jeweiligen Indexfällen, Kontaktpersonen, Quarantäneanordnungen sprachfähig ist“, so Laaß. Die Menge der Daten sei nicht größer, sondern die Kontaktpersonennachverfolgung durch die Digitalisierung übersichtlicher, schneller und einfacher geworden.

„In unserem Fall hat Sormas zu einer großen Entlastung geführt. Die Arbeitsabläufe ermöglichen es, schnell auf die Daten zuzugreifen, dadurch können positive Fälle schneller bearbeitet, die Kontaktpersonennachverfolgung zügig in die Wege geleitet werden, was zu einer schnellen Übersicht über das Infektionsgeschehen führt und damit zu einer schnelleren Eindämmung“, sagt Laaß.

Sormas wird Virus nicht ausrotten

Auch, wenn das Peiner Fazit positiv ausfällt, würde Corona selbst dann nicht verschwinden, wenn alle Gesundheitsämter auf der Welt Sormas verwenden würden. Das weiß auch Krause. „Wir werden dieses Virus durch Kontakt-Tracing allein nicht ausrotten können. Aber die Beschleunigung der Melde- und Kontaktverfolgungsprozesse ist immerhin ein Beitrag zur Bewältigung der Pandemie“, so der Braunschweiger Epidemiologe.