Braunschweig. Der Wolfenbütteler Dieter Jahn war im vorigen Jahr einer der ersten, der an Covid-19 erkrankte. Noch heute leidet der 61-Jährige unter den Folgen.

Dieter Jahn beschäftigt sich täglich mit Mikroorganismen, Lebewesen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind – Pilze, Bakterien oder Viren. Er ist Professor am Institut für Mikrobiologe der TU Braunschweig. Als vor mehr als einem Jahr das erste Mal Meldungen von einem neuartigen Virus auftauchten, nahm er das zunächst mit wissenschaftlicher Neugier zur Kenntnis. „Man geht ja bei solchen Sachen immer davon aus, dass es einen selbst nicht trifft“, sagt er. Ein Jahr später versucht er immer noch, Distanz zu wahren, die Diskussion um das Virus auf das Wissenschaftliche zu reduzieren - obwohl es ihn selbst getroffen hat. Dieter Jahn war im vorigen Jahr einer der ersten, der an Covid 19 erkrankt ist. Und er leidet noch heute unter den Folgen.

Der 61-Jährige sitzt im Büro von Professor Max Reinshagen, Chefarzt für Gastroenterologie und Diabetologie am Städtischen Klinikum. Die beiden kennen sich seit vielen Jahren, tauschen sich oft beruflich etwa über bakterielle Erreger aus. Doch heute reden sie nicht über darmpathogene Keime, sondern über die sogenannten Covid-Spätfolgen, die Dieter Jahn immer noch spürt. „Lange hatte ich mit einer extremen Kurzatmigkeit zu kämpfen und bis heute fühle ich mich sehr oft erschöpft“, sagt er. Professor Reinshagen nickt. „Wir beobachten häufiger, dass die Lungenfunktion auch nach den akuten Symptomen noch länger nicht wiederhergestellt ist.“ Die frühere Leistungsbereitschaft will sich bei einigen Patienten nicht mehr einstellen.

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„Noch ist wenig über die Spätfolgen von Covid-19 bekannt“

Tatsächlich werden Covid-19-Kranke in vielen Statistiken als Genesene geführt, wenn sie die akute Krankheitsphase überstanden haben. In welchem gesundheitlichen Zustand sie sind, darüber geben diese Statistiken keine Auskunft. Genesen heißt nicht immer auch gesund. „Noch ist wenig über die Spätfolgen von Covid-19 bekannt“, sagt Reinshagen. Das Krankheitsbild sei sehr variabel. Einige Patienten klagten über länger anhaltende Lungenprobleme oder chronische Erschöpfung wie es bei Dieter Jahn der Fall ist. Andere beschrieben einen dauerhaften Geruchs- und Geschmacksverlust, Kopf- oder Muskelschmerzen. Auch chronische Entzündungen der Leber- oder Gallenwege seien als Folge einer Corona-Infektion schon vorgekommen. Unklar ist noch, ob sie dauerhaft sind oder nach einer bestimmten Zeit wieder verschwinden. Einen Namen für die Beschwerden gibt es aber bereits: Post-Covid-Syndrom oder „Long-Covid“. Was man inzwischen auch weiß: Ein solches Syndrom entwickelt sich zwar nicht ausschließlich, aber eher nach schweren Verläufen einer Covid-Erkrankung. So war es auch bei Dieter Jahn.

Um den Leidensweg des Wolfenbüttelers nachvollziehen zu können, muss man zurückspringen in die Zeit, in der alles begann. Im Frühjahr 2020 kehrt Jahn von einer Norwegen-Kreuzfahrt zurück. Zu dem Zeitpunkt ist das Coronavirus zwar schon in Deutschland angekommen, es gibt aber noch vergleichsweise wenige Infizierte und kaum Erfahrung im Umgang mit ihnen. Jahn bekommt Atemprobleme, macht sich aber zunächst keine großen Sorgen. „Ich schob es auf meine Pollenallergie.“ Doch dann werden die Symptome grippeähnlicher – Fieber, Husten, Schnupfen kommen dazu. Luftnot, die rasend schnell immer schlimmer wird. Er wird ins Krankenhaus eingewiesen, auf der Fahrt dahin hat er das Gefühl, unter seiner FFP2-Maske zu ersticken. Es ist, als drücke ihm jemand den Hals zu. Im Klinikum Braunschweig kommt Dieter Jahn sofort auf eine neu gegründete Station für Covid-19 Patienten. Ein typisches Symptom für die Erkrankung sind sogenannte Milchglasinfiltrate der Lunge, die mit einer Computertomographie nachgewiesen werden – sie bezeichnen Bereiche der Lunge, in denen die Luft verdrängt wurde. Auf dem CT sehen sie aus wie weiße Verdichtungen, wie ein Spinnennetz. Auch auf der Aufnahme von Jahns Lunge ist das deutlich zu sehen. Er bekommt zusätzlichen Sauerstoff über die Nase. Seine Sauerstoffsättigung liegt bei 89 Prozent. Die kritische Grenze, ab der man mit der künstlichen Beatmung beginnt, ist bei 87 Prozent. „Ich bin also knapp an dieser Grenze vorbei geschrammt.“

Die Zeit im Krankenhaus erlebt Dieter Jahn in einem Dämmerzustand

Dieses CT-Bild zeigt die Lunge eines Covid-19-Patienten. Deutlich zu erkennen sind die milchglastrüben Veränderungen. 
Dieses CT-Bild zeigt die Lunge eines Covid-19-Patienten. Deutlich zu erkennen sind die milchglastrüben Veränderungen.  © Städtisches Klinikum Braunschweig

Zwei Tage ist sein Zustand kritisch. Jahn erlebt diese Zeit im Krankenhaus wie einen Film. Er nimmt Menschen in grüner Schutzkleidung wahr, die sich um ihn herum bewegen, die sich mit Gesichtsschutz über ihn beugen, stündlich Blut abnehmen und regelmäßig neue Infusionen legen. Er hat keine Schmerzen, ist aber auch nicht voll bei Bewusstsein. Mehrere Tage vergehen in diesem Dämmerzustand. Als es wieder aufwärts geht und er aus der Klinik entlassen wird, hat er acht Kilo abgenommen. Zuhause wird ihm das erste Mal bewusst: „Ich hatte riesiges Glück gehabt, ich hätte es auch nicht packen können.“ Doch die Dankbarkeit und Erleichterung wird schnell abgelöst von einem Gefühl der Unsicherheit. Als Jahn in seinem Haus die Treppe zum oberen Stockwerk hochgehen will, muss er auf halber Höhe anhalten und tief Luft holen. Es fühlt sich an wie ein Marathon-Lauf, er ist schon nach wenigen Stufen völlig außer Atem.

„Wochenlang ging das so weiter“, erinnert er sich. Erst will er das nicht akzeptieren, denkt, er müsse bald wieder in seinen alten Rhythmus zurückfinden, seine alte Leistungsfähigkeit wiedererlangen. Doch für Aufgaben, die er sonst fast nebenbei erledigt hat, braucht er nun wesentlich länger. Er kann sich schwer konzentrieren, ist schnell erschöpft. „In der Uni bin ich anfangs fast am Mikroskop eingeschlafen. Das war ein Tiefschlag.“ Inzwischen weiß er, dass er regelmäßig Pausen machen, sich ein kurzes Schläfchen zwischendurch gönnen muss, um über den Tag zu kommen.

Zehn bis 20 Prozent der Covid-Patienten leiden schätzungsweise unter Langzeitfolgen

Warum hat es gerade ihn so schwer erwischt? Das ist eine der vielen Fragen, die die Krankheit aufwirft. Jahn hatte keine Vorerkrankungen, er raucht nicht, ist nicht übergewichtig, fällt nicht unter das, was man sonst als Risikopatient bezeichnet – und trotzdem erwischte es ihn schwer. Seine Frau Dr. Martina Jahn zeigte dagegen nur grippeähnliche Symptome und hatte nach der Infektion kaum nachweisbare Antikörper gegen das Coronavirus. Auch ist unklar, wie viele Menschen noch Wochen und Monate mit den Langzeitfolgen von Corona zu kämpfen haben. Studienergebnisse und Einschätzungen variieren dazu, sagt Professor Reinshagen.

Grob gehen Experten von zehn bis 20 Prozent aus. Manche Studien sprechen sogar von bis zu 70 Prozent. Allerdings kommt dies vor allem auf den Untersuchungszeitraum und die Erhebungsmethoden an. Was sich aber beobachten lässt: Es kann jede Altersgruppe treffen. „Es gibt auch jüngere Patienten, die sportlich sind und keine Risikofaktoren aufweisen, die unter Spätfolgen einer Coronavirus-Infektion leiden“, sagt Reinshagen. Und auch nach milderen Verläufen einer Infektion können „Long-Covid“-Symptome auftreten. Mit steigender Zahl an Infektionen wird es also auch mehr „Long-Covid“-Patienten geben.

Reinshagen: Es muss spezialisierte Ambulanzen und Reha-Angebote geben

Reinshagen ist deshalb überzeugt, dass sich unser Gesundheitssystem besser auf die Versorgung dieser Patienten einstellen muss – etwa mit spezialisierten Ambulanzen und Reha-Angeboten bis hin zu einer spezifischen psychosomatischen Post-Corona-Rehabilitation. Denn auch Depressionen oder Angststörungen könnten zu den langanhaltenden Beschwerden nach einer Covid-Erkrankung gehören.

Dieter Jahn hat einen Weg gefunden, die Folgen seiner durchgemachten Infektion nicht nur körperlich, sondern auch psychisch zu verarbeiten. Bleibende Schäden wie etwa eine Fibrose, die zu einer Vernarbung der Lunge führt, sind bei ihm nicht zu erwarten. Er geht offen mit seinen Erfahrungen um, spricht viel darüber und will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Krankheit nicht verharmlost werden darf. Seine Frau sei dabei eine konstante, motivierende Größe gewesen. „Ohne sie wäre der Erholungsprozess so wahrscheinlich nicht gelaufen“, ist er überzeugt.

Jahn versucht auch, sich immer neue Ziele zu stecken, damit er neuen Antrieb bekommt. „Don’t look back in anger“, sagt er – das sei sein Motto: Nicht im Zorn zurückblicken, sondern nach vorne schauen, frei nach dem Lied der Band „Oasis“. Vor einigen Wochen hat er sogar wieder angefangen, durch den Park zu joggen, es fühlte sich an wie ein Sieg in einem Iron-Man-Wettbewerb. „Ich bin da noch gut weggekommen“, sagt er – auch wenn die Müdigkeit noch bleibt.