Braunschweig. Die Gefahr außerhalb der Sperrzone scheint gebannt, die Langzeitfolgen der Reaktorkatastrophe sind aber kaum abzuschätzen. Eine Bilanz.

Erst kam die Natur-, dann die Atomkatastrophe. Infolge des mächtigen Erdbebens und der mächtigen Tsunami-Flutwellen, die vor zehn Jahren Nordostjapan verwüsteten, kam es im Atomkraftwerk Fukushima-Daichi zum Supergau. Im direkt an der Küste gelegenen Reaktor fielen zunächst die Kühlsysteme aus. Durch übermäßige Erhitzung der Reaktorkerne kam es in dreien der vier Kraftwerksblöcke zur Kernschmelze. Wasserstoffexplosionen schleuderten radioaktives Material in die Luft über Japan. Die Auswirkungen auf Menschen und Umwelt waren enorm – bis heute. Rund 120.000 Menschen in einem Radius von bis zu 40 Kilometern um das Kraftwerk mussten evakuiert werden – teils aufgrund der hohen Strahlung, teils vorbeugend. Ein Gebiet von 300 Quadratkilometern, mehr als das Anderthalbfache der Fläche Braunschweigs, ist bis heute gesperrt.

Fälle von Strahlenkrankheit nicht bekannt

Zehn Jahre danach bittet das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) zur Videopressekonferenz. In den vergangenen Jahren war die Behörde an mehreren Fukushima-Berichten für den Wissenschaftlichen Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung beteiligt. Der jüngste, der am Dienstag, 9. März vorgestellt wird, sei ein „Meilenstein“ bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Reaktorunglücks, sagt der aus München zugeschaltete Mitautor Florian Geling.

Bis heute seien keine Fälle von Strahlenkrankheiten infolge des Reaktorunfalls bekannt, beginnt Gering seine Schadensbilanz. „Die gibt es nicht einmal unter den Arbeitern, die direkt nach dem Unglück in unmittelbarer Nähe des havarierten Kraftwerks eingesetzt waren“. Auszuschließen seien erhöhten Krebsraten in der Zukunft deshalb keineswegs, da Krebserkrankungen oft erst nach langer Zeit auftreten. Todesopfer hat die Nuklearkatastrophe dennoch gefordert: Mehr als 2000 Todesfälle werden allein in der Präfektur Fukushima als Folge der Katastrophe betrachtet.

Strahlung außerhalb der Sperrzone gebe keinen Anlass zur Sorge

Darunter sind ältere und kranke Menschen, die infolge der Evakuierung mangels medizinischer Versorgung starben. Oder Menschen, die außerhalb ihres gewohnten Umfelds nicht zurück ins Leben fanden, auch solche, die sich umbrachten. „Die Selbstmordrate unter den Evakuierten ist deutlich erhöht“, so Gering. Viele Evakuierte leiden noch immer an psychischen Erkrankungen. Die seelischen Folgen nuklearer Katastrophen künftig auch beim Notfallschutz in Deutschland „einzupreisen“, ist für BfS-Chefin Inge Paulini daher eine wichtige Lehre.

Laut Florian Gering gibt die Strahlung außerhalb der Sperrzone keinen Anlass mehr für Sorge. Der Rückgang der Strahlenbelastung sei sowohl dem radioaktiven Zerfall der abgelagerten Stoffe zu verdanken als auch der Witterung. Ein Großteil sei durch Regen „abgewaschen“ oder mittlerweile tiefer in den Boden eingedrungen. Heute sei die Strahlenbelastungen außerhalb der Sperrzone auf einem ähnlichen Niveau wie die durch natürliche Strahlung in Deutschland.

Anders im Sperrgebiet, der sogenannten „Difficult-to-Return-Zone“: In deren Boden lagert ein Großteil des bei der Katastrophe freigesetzten Radionuklids Cäsium-137, das laut BfS noch heute mit einer ähnlichen Aktivität strahlt – 1,6 Petabecquerel – wie die Kontaminationen in Deutschland unmittelbar nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986.

Anti-Atom-Aktivist: Gefahr der Verharmlosung

Das BfS hat die aktuelle Situation in Japan anhand international verfügbarer Daten bewertet. Paul Koch jedoch hat Zweifel, dass diese Daten – vor allem die offiziellen der japanischen Regierungen – ein treffendes Bild der Lage zeichnen. Der 73-Jährige aus Watzum im Landkreis Wolfenbüttel ist Mitglied im Arbeitskreis Japan der evangelischen Landeskirche, Mitorganisator der „Europäischen Aktionswochen für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima“ und regelmäßig im Austausch mit japanischen Projektpartnern. Er fürchtet einen bedenklichen Trend zur Verharmlosung: „Erfolgsmeldungen zur Dekontamination sind fehl am Platze.“

Tatsächlich berichtet Gering in der Videokonferenz: „Die Dekontamination ist in Summe erfolgreich.“ Allerdings weist er auf die rund 20 Millionen Tonnen verseuchter Erde hin, die bei den Arbeiten außerhalb der Sperrzone abgetragen und in große Plastiksäcke gefüllt wurden. Diese würden nun „mindestens für die nächsten 30 Jahre“ in ein Zwischenlager gebracht. Was danach damit passiert, ist offen.

Atommüllfrage besteht immer noch

„Die ungelöste Frage, was langfristig mit dem Atommüll wird, haben wir hier wie dort“, betont Koch die Hauptgemeinsamkeit, die er zwischen den Menschen in Nordost-Japan und etwa dem Bergwerk Asse sieht. Zudem kenne Radioaktivität keine Ländergrenzen. „Wenn in Frankreich ein Atomkraftwerk hochgeht, sind wir genauso mit dran“, sagt Koch – aus seiner Sicht lauter gute Gründe für Atomkraftgegner, sich grenzüberschreitend zu vernetzen.

Ein Video-Screenshot vom 12.03.2011 zeigt das havarierte Atomkraftwerk Fukushima 1. Japan sehnt sich nach Normalität. Doch ein Jahr nach der Dreifach-Katastrophe sitzt bei vielen Menschen die Angst vor der Strahlung und der eigenen unsicheren Zukunft tief.
Ein Video-Screenshot vom 12.03.2011 zeigt das havarierte Atomkraftwerk Fukushima 1. Japan sehnt sich nach Normalität. Doch ein Jahr nach der Dreifach-Katastrophe sitzt bei vielen Menschen die Angst vor der Strahlung und der eigenen unsicheren Zukunft tief. © picture alliance / dpa | Abc News 24/handout

Mit Blick auf Fukushima stören Koch vor allem die „Signale der Unbedenklichkeit“, die die japanische Regierung, die weiter auf Atomkraft setzt, immer wieder aussende. Er gibt zwei Beispiele: Bei den kommenden olympischen Spielen, die coronabedingt von 2020 auf 2021 verschoben wurden, sollen Läufer mit der olympischen Fackel auch durch Teile des Sperrgebiets laufen. „Das ist fahrlässig und unverantwortlich“, empört sich Koch. Schon vor einem Jahr hat Koch deshalb eine Internet-Petition gestartet: „Gegen die Verharmlosung zu Fukushima/ Olympia 2021“. Adressat ist das Bundesamt für Strahlenschutz. Bisher haben 350 Personen,darunter auch zahlreiche Japaner unterzeichnet.

Lebensmittel aus Fukushima unbedenklich

Das andere Beispiel: „Bei der staatlichen Schulspeisung in der Stadt Fukushima, die ja knapp außerhalb der Sperrzone liegt, werden bewusst Lebensmittel aus der Region auf den Tisch gebracht, um Normalität zu suggerieren.“ Ein Unding, findet Koch. Eltern jedoch, die mit den Speiseplan nicht einverstanden seien, würden gemobbt.

Für das BfS ist diese Sache klar: „Lebensmittel aus Japan und der Region Fukushima können heute unbedenklich verzehrt werden.“ Gleich nach dem Unfall habe man begonnen, die Radioaktivität in Lebensmitteln zu überwachen, berichtet Gering. Die Messungen hätten gezeigt, dass die Belastungen „deutlich geringer“ waren, als in Deutschland nach Tschernobyl. Zwar könnten Wildpilze und Wildschweine in den stärker betroffenen Gebieten Japans erhöhte Messwerte aufweisen, jedoch liege die zusätzliche Dosis durch kontaminierte Nahrung in der Präfektur Fukushima bei weniger als 0,01 Millisievert im Jahr. Das, so das BfS, sei lediglich ein Dreißigstel dessen was man in Deutschland pro Jahr durchschnittlich mit der Nahrung an natürlicher Radioaktivität aufnehme.

Erst vier Reaktoren in Japan wieder in Betrieb

BfS-Präsidentin Inge Paulini ist trotzdem überzeugt, dass Deutschlands Entscheidung, aus der Kernenergie auszusteigen, richtig war. Der Atommüll ist für sie der strahlende Beweis: „Das Problem der Endlagerung haben wir noch lange nicht gelöst“, sagt die Toxikologin. „Und das, obwohl wir in Deutschland ja nur relativ wenige Jahrzehnte der Kernkraft-Nutzung hatten.“

Von den 54 Atomreaktoren, die in Japan vor der Katastrophe in Fukushima in Betrieb waren, sind bislang erst neun Reaktoren wieder genehmigt und davon lediglich vier in Betrieb – wohl auch wegen des Widerstandes in der Gesellschaft, mutmaßt der Umweltverband BUND. In Deutschland hingegen sollen die letzten drei Atomkraftwerke Ende 2022 vom Netz gehen.