Braunschweig. . Eckhard Schimpf und Chefredakteur Armin Maus über Zeitungsgeschichte und -gegenwart und das, was Journalisten heute wie früher leisten sollten.

Chefredakteur Armin Maus interviewt Eckhard Schimpf anlässlich des 75-jährigen Jubiläums.

Herr Schimpf, wir haben uns getroffen, um über 75 Jahre Braunschweiger Zeitung zu sprechen. Als diese Zeitung am 8. Januar 1946 zum ersten Mal erschien, waren Sie acht Jahre alt. Was war das für ein Braunschweig, in das die Braunschweiger Zeitung hineingeboren wurde?

Eine Trümmerlandschaft, die sich die heutige Generation gar nicht mehr vorstellen kann. Man hatte einen freien Blick, von der Humboldtstraße bis zur Petrikirche. Berge von Schutt, dazwischen hohl und ausgebrannt die Kirchtürme. Menschen mit ausgemergelten Gesichtern. Ost-Flüchtlinge mit Handwagen, auf denen Kinder hockten. Zerlumpte, gerade entlassene Kriegsgefangene, die nach Angehörigen suchten. Wir Kinder spielten auf den Schuttbergen, kletterten in den Ruinen herum. Es war die Zeit von Hunger, Kälte, Kriminalität. Überfälle waren an der Tagesordnung. Dann überflutete im Februar 1946 die Oker die Stadt. Und schließlich quälte die Menschen 1946/47 auch noch ein Jahrhundertwinter mit vier, fünf Monaten Eis und Schnee. Das war das Umfeld, in dem die neue Zeitung herauskam. All das nahm uns Kindern aber nicht die Fröhlichkeit. Wir hielten, wie ich das mal geschrieben habe, das Chaos um uns herum für das normale Leben.

Dieses Chaos bedeutete ja auch schwere materielle Not. Es war nicht wie heute selbstverständlich, dass man sich sattessen kann. Es gab viele Menschen, die keine Wohnungen hatten. Wie lebten die Menschen?


In Kellern, Baracken, Gartenlauben, Ruinen. Vor allem auch in den Bunkern. Überall war es eng. Zwölf Personen in zwei Zimmern; das gab es. Ich selbst habe nie richtig gehungert, aber es war schon eine Entbehrung, wenn man drei Wochen lang nur Steckrübensuppe bekam oder gefrorene Kartoffeln und ein Stück Maisbrot. Es war die Zeit, wo auf dem Schwarzmarkt – etwa im Bürgerpark – gekungelt wurde. Silber gegen ein Stück Butter, Naziorden gegen Zigaretten. Lucky Strike und Pall Mall: das war die “Zigaretten-Währung.”

Sie haben lange mit sich gerungen, bis Sie anfingen, über diese Zeit zu sprechen und zu schreiben.

Gerungen nicht gerade. Aber 40 Jahre sind vergangen, bis diese Sprachlosigkeit weg war. Ich habe es nicht als Manko empfunden, darüber nicht sprechen zu können oder nicht schreiben zu wollen. Es war einfach verdrängt. Irgendwo im Bewusstsein. Und ganz plötzlich wurde es sehr präsent. Ich war in einem Winterurlaub in Bayern auf dem Hof meines Cousins Günter Mast. Wir konnten nicht Skilaufen, weil schlechtes Wetter war. Ich setzte mich hin und schrieb all diese Geschichten auf. 30, 40, 50 kleine Episoden. Nur Erinnerungsblitze wollte ich zu Papier bringen. In zehn Tagen war das ganze Buch fertig. Titel: “Nachts, als die Weihnachtsbäume kamen.”

Die Nazidiktatur gerade überwunden, Braunschweig in Trümmern. Und dann taucht eine Zeitung auf. Haben Sie eine Erinnerung daran? Hat das Menschen bewegt?

Also Sie werden das verwunderlich finden. Ich war ein intensiver Zeitungsleser, und zwar schon als Kind. Wenn ich mittags aus der Schule kam, dann nahm ich die Zeitung und legte mich auf ein Sofa, das im Flur stand und las diese Zeitung. Für mich war das, was ich in der Zeitung las, das aktuelle Leben. Allgemein war ja plötzlich der Hunger nach Information ungeheuer groß. Dieses neue Medium, die Zeitung war mir sehr nah. Alles interessierte. Sport, die Kurzgeschichten, die Reportagen über den Krieg. Hans Eckensberger war ein moderner Verleger, der schon damals Comics brachte. Etwa Nick Knatterton oder Petzi. Und dann das Kino, angefüttert durch die Zeitung. Wir Kinder waren neugierig. Sie dürfen nicht vergessen: Wir hatten als Kinder sehr viel Freiheit. Die Eltern waren ja froh, wenn wir aus der Enge von Wohnung oder Haus ins Freie stürmten. Kino: Was für eine Faszination. Jeder Film wurde in der BZ angekündigt und besprochen. Es gab Tage, da habe ich mir zweimal im Scala-Kino einen Western mit John Wayne angeschaut.

Sie sind selbst Journalist geworden. Was reizte Sie? War es der Gedanke, an etwas Bedeutsamem mitzuarbeiten – oder hatten Sie ganz andere Gründe?

Wir hatten einen bunten Vogel im Bekanntenkreis, im Familienkreis. Das war ein sehr berühmter NWDR-Sportreporter. Dieser Günther Isenbügel. Er hat mein Interesse für den Journalismus geweckt. Übrigens auch für den Motorsport. Isenbügel fuhr Rallyes und hat mich, den 17jährigen, als Beifahrer mitgenommen. Im Eintracht-Stadion machte er mich mit Gottfried Leonhardt bekannt, dem BZ-Sportchef. Und der erlaubte mir, ab und zu für die Zeitung zu schreiben. Als Schüler. Über ein Schwimmfest etwa. Im Januar 1958 erschien ein erster Artikel von mir mit vollem Namen. Da war ich schon stolz. Ich war ein furchtbar schlechter, fauler Schüler. Meine Mutter war in Sorge: Was wird aus diesem Bengel? In der Schnapsfirma meines Onkels Curt Mast, bei dem schon drei meiner Cousins tätig waren, wollte ich nicht arbeiten. An einem Augusttag, es war der 14.8. 1958, wagte ich mich ins Pressehaus der Braunschweiger Zeitung am Hutfiltern. Ich wollte den Verleger sprechen. Unangemeldet. Die strenge Vorzimmerdame, sie hieß Luise Rabkowitz, bügelte mich natürlich sofort ab. Nun muss ich einschieben, dass meine Familie mit Eckensberger bekannt war. Mein in Brasilien lebender Onkel Wilhelm Mast war sogar eng mit ihm befreundet. Wie auch immer: Ich konnte schließlich dem Verleger meinen Wunsch vortragen: Ich möchte bei der BZ gern volontieren. Eckensberger schickte mich zum stellvertretenden Chefredakteur. Dieser Albert Schwibbe wies mich erstmal streng zurecht. ,Ich höre, Sie wollen sich hier bewerben. Nicht mal eine Krawatte haben Sie um.’ Aber dann fragte er mich ein wenig aus, griff schließlich hinter sich in einen Kasten und angelte ein Foto heraus. Er sagte: ,Hier, gehen Sie mal nach nebenan. Da steht eine Schreibmaschine. Machen Sie einen Text zu dem Bild. So 30 Zeilen.’ Das Foto zeigte einen Laternenpfahl, an dem ein Papierkorb hing, der überquoll vor Müll. Auch um den Pfahl herum lag Abfall. Und oben war ein Schild zu sehen: “Halte deine Autobahn sauber.” Ich schrieb was. Schwibbe las es und sagte: “Gar nicht mal sooo schlecht.” Am nächsten Tag, am 15.8. 1958, konnte ich anfangen.

Hans Eckensberger, der erste Verleger der Braunschweiger Zeitung, hat das Fundament der Zeitung nach dem Krieg gelegt. Was war er für ein Mensch?

Hans Eckensberger betrachte ich jetzt, nach vielen Jahrzehnten, natürlich ein bisschen anders als damals. Er war ein cleverer Mann, der die Chancen im Nachkriegs-Chaos brillant genutzt hat. Er hat ein Unternehmen aus dem Nichts aufgebaut. Das war schon was. Die dominierende Zeitung zwischen Südharz und Heide, zwischen Peine und Helmstedt mit Braunschweig als Zentrum. Die BZ-Auflage schnellte auf 240.000. Die Druckerei boomte. Eine Gärtner-Zeitung, Wildwest-Hefte wie “Tom Mix”, Liebesromane, Klassiker-Reihen, Plakate, Kataloge, Briefpapier – alles entstand bei Limbach. Hans Eckensberger wurde nicht nur wohlhabend, sondern reich. Er war damals, als er ab 1958 mein Chefredakteur war, gerade in dritter Ehe verheiratet. Helga hieß diese neue Ehepartnerin. Seine zweite Ehefrau Margarete Friedmann war 1951 gestorben. Sie war eine bekannte Braunschweiger Schauspielerin mit jüdischen Wurzeln. Und deshalb war sie auch von den Nazis aus dem Ensemble des Staatstheaters entfernt worden. Diese Ehe mit einer “Nicht-Arierin” war der Grund dafür, dass Hans Eckensberger selbst seinen Beruf als Redakteur in Braunschweig nicht mehr ausüben konnte. Sein Vater Hugo Eckensberger war hier ein angesehener Verleger. Ich würde mir sehr wünschen, dass über Hans Eckensberger mal eine ernsthafte Biografie verfasst würde. Von gelernten Historikern. Was jetzt über Eckensberger im Internet zu lesen ist, kann leider nur als böswilliges Geschreibsel angesehen werden. Verfasst von einem Nicht-Historiker. Ich glaube, der Verfasser ist ein pensionierter Lehrer.

Die Titelseite der Braunschweiger Zeitung am 8. Januar 1946.
Die Titelseite der Braunschweiger Zeitung am 8. Januar 1946.

Wie auch immer: Hans Eckensberger war ein sehr gebildeter Mann, der ein Gespür hatte für junge Leute, die er fordern und fördern wollte. Uns jungen Leuten hat er sich – zumindest in der Anfangszeit – sehr intensiv gewidmet. Das hatte Gründe. Ihm war klar, dass der Stamm seiner Redaktion zwischen 1946 und etwa 1960 ja fast ausschließlich aus Journalisten bestand, die schon in der Nazizeit aktiv waren. Darüber war Eckensberger, der Nazigegner war und den die Nazis ja auch – wegen Beleidigung des Führers – ins Gefängnis geworfen hatten, nicht glücklich. Deshalb setzte er auf uns jüngere Leute.

Das Problem der Nazi-Vergangenheit hatte auch die deutsche Justiz.

Es war ja eigentlich überall so. Es betraf ebenso die Lehrer, die Polizei, die Kirchen. Und es ist natürlich einfach, wenn man sich mit dem Wissen von heute hinstellt und die Zustände in der Aufbauzeit der Bundesrepublik kritisiert. Man muss Geschichte immer auch aus der damaligen Zeit heraus bewerten. Jeden Einzelfall gesondert betrachten. Eckensberger hatte also einen Ritterkreuzträger, einen U-Boot-Fahrer, einen Oberleutnant im Team. Auch schlimme Nazi-Propagandisten. Wie den SPD-Mann und späteren dpa-Chef Sänger, der sich als Widerstandskämpfer bezeichnete. Wenn diese Redakteure damals in einer Zeitungskantine saßen, worüber sprachen sie? Über den Krieg. Über die Schlacht am Kursker Bogen. Oder über Narvik. Und dann kamen immer mehr Jüngere, denen Eckensbergers Sympathie gehörte.

Wie äußerte sich das?

Ich begegnete ihm mal auf dem Flur. Er sagte: Was lesen Sie eigentlich? Ich war völlig überrascht. Spiegel und Auto, Motor und Sport, sagte ich. Darauf Eckensberger: Also ich mache Ihnen mal eine Liste. Auf dieser Liste standen dann Tucholsky, Thomas Mann, Stefan Zweig, Steinbecks Straße der Ölsardinen”. Und ich hab’ dann tatsächlich diese Bücher gelesen. Ich dachte, wenn er dich mal wieder sieht, dann schnappt er dich und fragt dich über die Bücher aus. So schuf er bei mir Grundwissen. Dafür bin ich ihm noch heute dankbar. Er hat mich zum Lesen gebracht. Ich lese heute noch intensiv. Jeden Tag. Zeitungen, Magazine, Bücher. Aber es war natürlich schon ein eigentümlicher Typ. Die dritte Ehe mit seiner sehr viel jüngeren Frau hat ihn allmählich verändert. Und das führte dazu, dass er ja eigentlich im Redaktionsalltag gar keine Rolle mehr spielte. Er war manchmal Wochen lang weg. Auf Hawaii, in Mexiko, kaufte sich ein Schloss an der Loire und eine Wohnung in Paris.

Hans Eckensberger (links) erhält aus der Hand des britischen Brigadegenerals W. L. Gibson die Lizenz-Urkunde. In der Mitte: Captain Hicks, höchster englischer Offizier in Braunschweig. Das Foto wurde in der Erstausgabe veröffentlicht.
Hans Eckensberger (links) erhält aus der Hand des britischen Brigadegenerals W. L. Gibson die Lizenz-Urkunde. In der Mitte: Captain Hicks, höchster englischer Offizier in Braunschweig. Das Foto wurde in der Erstausgabe veröffentlicht. © Repro

Die Zeitung muss floriert haben, sonst hätte er sich weder das Schloss, noch die Wohnung leisten können.

Ja. Hans Eckensberger war reich geworden. Andere Verleger mussten neu bauen und investieren. Sein Glück war ein völlig intaktes Druckhaus, das den Krieg überstanden hatte. Aus gutem Grund übrigens. Dieses Pressehaus am Hutfiltern war ja wichtig für das Nazi-Regime und hatte deshalb eine eigene Feuerwehr. Das heißt also, wenn im Krieg im Dachstuhl eine Brandbombe einschlug, die ja meist mit Zeitverzögerung zündete, war sofort die Feuerwehr da. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, warum dieses Gebäude-Ensemble am Kohlmarkt/Hutfiltern weitgehend erhalten geblieben ist.

Hans und Helga Eckensberger waren nicht unbedingt das Verleger-Paar, das man in Braunschweig erwartet hätte.

Helga Eckensberger war sehr frankophil, sprach fließend Italienisch und Französisch. Sie war eine Frau, die hier gar nicht hin passte. Und unser Verleger, der eigentlich eher bodenständig war, hielt auch während dieser Ehe noch fest an seinem braunschweigischen Gewohnheiten. Am Braunkohlessen mit Brägenwurst, am Skatspielen mit Klempner Aderhold, an den Besuchen im Eintracht-Stadion. Was Helga Eckensberger natürlich gar nicht mochte.

War Eckensberger ein guter Publizist?

Er war durchaus ein Intellektueller. Er konnte nicht unbedingt gut schreiben, aber er hatte das Gespür für das Zeitungmachen. Für Leser-Blatt-Bindung. Mal erschien die Zeitung komplett in Golddruck, dann überraschte er die Leser mal mit einer Duftzeitung oder auch mit einer Ausgabe im 3-D-Druck, wobei eine Blau-Rote-Pappbrille mitgeliefert wurde. Immer kam er von Reisen mit neuen Ideen zurück. Günter Gaus, den späteren Chef beim ,Spiegel’ und eigentlich nur Volontär bei uns, beauftragte er einst mit der Konzeption einer Sonntagsbeilage. Die ist dann auch so verwirklicht worden. Eckensberger traute also jungen Menschen viel zu. Er war oft unterwegs, aber er blieb natürlich der Macher. Und das spielte er auch manchmal aus, wenn er von seinen Reisen zurück war. Dann spielte er Chefredakteur. Ich werde nie vergessen, wie er mal in unsere Sportredaktion stürmte und schrie: Das will ich nicht lesen! ,Bombe’ aufs Tor und ,Trommelfeuer’ der Fäuste im Bericht über einen Boxkampf. Und er strich mit seinem Rotstift dann so wütend über die Zeitungsseite, dass sie zerriss. Aber er war trotzdem ein Mann, der mich persönlich geprägt hat und dem ich etwas verdanke. Er hatte natürlich eine Art Sendungsbewusstsein. Er wollte uns junge Leute zur Demokratie erziehen, vom Nazigedankengut befreien. Deshalb lud er Fritz Bauer ein. Fritz Bauer war ja früher hier in Braunschweig Generalstaatsanwalt gewesen. Der Jude Fritz Bauer sollte uns die Augen öffnen, wozu Rassenwahn führen kann. Ich gehörte ja auch zu denen, die im Kindergarten oder in der Volksschule morgens noch Heil Hitler rufen mussten.

Ohne Fritz Bauer hätte es die juristische Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit kaum gegeben. Wir verdanken ihm ehrliche eine Auseinandersetzung mit dieser furchtbaren Zeit und auch mit der Schuld, die Menschen auf sich geladen haben.

Das ist schön, dass sie das sagen. Ich glaube, dass die Rolle von Fritz Bauer gar nicht überschätzt werden kann. Den Mut, den er aufbrachte, hier in Braunschweig zuerst den Remer-Prozess zu führen, der zur Rehabilitierung der Widerstandskämpfer führte. Bis dahin galten sie ja als Vaterlandsverräter. Dann ging er nach Frankfurt und führte den Auschwitz-Prozess. An den Wochenenden kam er oft nach Braunschweig. Er hatte Freunde in unserer Redaktion, etwa Peter Ausmeier und Hannes Hobbing. Eckensberger konnte Bauer überreden, sich mit uns jungen Leuten zusammenzusetzen und uns klarzumachen, was Nazizeit überhaupt bedeutet hatte und welchen Wert eine Demokratie hat. Und wie wichtig die Aussöhnung mit Israel ist. Auch Hans Habe sprach mal mit uns. Er war als Schriftsteller sehr bekannt durch Bücher wie ,08/15’. Als Jude emigrierte er von Wien in die USA, kam als Chef einer Stabsabteilung für psychologische Kriegsführung der US-Armee nach Europa zurück. Er übernahm die Aufgabe, in Deutschland neue Zeitungen aufzubauen. 18 Zeitungen hat er gegründet. So entstand ja hier durch Hans Habe auch der Braunschweiger Bote. Und Habe hatte den Briten Hans Eckensberger als Lizenznehmer empfohlen, für diese erste Zeitung in Niedersachsen und die zweite Zeitung in der britischen Besatzungszone.

Was änderte sich nach dem Tod Hans Eckensbergers?

Die Zeitung kam in den Besitz Helga Eckensbergers. Sie sorgte auch allmählich für eine neue politische Grundhaltung.

Eine Zeitung sollte doch für alle offen sein, sollte den Austausch aller Meinungen auf demokratischer Basis ermöglichen.

Das war ein bisschen schwieriger mit Helga Eckensberger. Die neue Richtung lautete: rechts von der Mitte. Für mich persönlich war es kein Problem, für viele andere schon. Die Zeitung hat von der Auflage her allerdings keineswegs darunter gelitten. Hans Eckensberger hatte in seinem Testament bestimmt, dass Hans-Jürgen Heidebrecht neuer Chefredakteur werden sollte. Er war also Nachfolger von Eckensberger. Heidebrecht war ein lieber Mensch, theologisch gesinnt, stammte aus einem Pastorenhaushalt. Er war kein Macher, aber redlich. Es gab in der BZ den berühmten Spruch: ,Wenn zwei sich streiten, gibt Heidebrecht im Zweifelsfalle beiden recht.’ Er war ein Vermittler, aber kein durchsetzungsfähiger Chefredakteur. Der kam dann nachher mit Dr. Arnold Rabbow. Das war ein hochintelligenter, kluger Mann, ein wenig verschroben und in sich gekehrt. An seiner Seite Chefkommentator Joachim Hosang. Das war natürlich ein Bollwerk der Meinungsmache.

Die Linie blieb konservativ.

Ja, da gab's nix anderes. Da wurden natürlich auch Kommentare von unseren Linken angeboten; wir hatten ja in der Redaktion durchaus eine extrem linke Fraktion. Aber die hatte keine Chance.

Für uns ist es heute selbstverständlich, überparteilich zu arbeiten. Wir sind nur dieser Region und ihren Menschen verpflichtet, aber keiner Partei.

Ja, das ist richtig. Aber wenn wir heute darüber reden, dürfen wir Folgendes nicht vergessen: Wir lebten ja hier noch im Schatten der Grenze. Die Ost-West-Konfrontation spielte eine große Rolle. Der Kalte Krieg lief. Wir erinnern uns alle an die Nachrüstungsdebatte. Die Situation hier am äußersten Ende der westlichen Welt, direkt am Stacheldrahtzaun, war schon speziell. Wir hatten bei jedem Ausflug in den Harz oder in die Heide diese Todesgrenze vor Augen. Sahen den Stacheldraht, hörten auch hin und wieder mal eine Mine hochgehen. Die Angst vor dem Kommunismus war stark. Nach der Wende wurde uns ja durch Dokumente aus der Gauck-Behörde auch klar, wie intensiv hier DDR-Spione und IM’s gewirkt hatten. In fast jeder Firma, in Behörden, Hotels, auch in der BZ. Ich glaube, man muss die damalige Haltung der Zeitung auch vor diesem Hintergrund sehen.

Natürlich. Die Redaktion arbeitete nicht im luftleeren Raum. Viel hat sich seither verändert.

In den neunziger Jahren hat sich tatsächlich viel verändert. Da kam dann wirklich diese ausgleichende Zeitungsarbeit, die wir heute kennen und die ja die einzig richtige ist. Verleger Henning Voigt und Geschäftsführer Peter-Jürgen Lesemann wollten zum Beispiel, dass ich als Nachfolger von K .J. Krause BZ-Lokalchef werde. Das war 1991. Aber ich lehnte das auch deshalb ab, weil Chefredateur Dr. Rabbow mir einige Vorschriften aufdrücken wollte. Das hörte sich dann so an: ,Also die Grünen. Und die Brunsviga und diese Sachen. Das spielen Sie dann aber ganz am Rande.’ Ich machte diesen Job dann zweimal nur vorübergehend, um neue Leute einzuarbeiten. Herrn Dr. Reichardt und Luitgard Heissenberg, die ja heute noch zum BZ-Team gehört. Ich blieb aber stellvertretender Chefredakteur.

Ich kam als Ihr Nachfolger und Stellvertreter von Chefredakteur Paul-Josef Raue 2003 nach Braunschweig. Damals habe ich mich gewundert, warum der Braunschweiger Zeitung der Ruf anhing, sie sei eine rechte Zeitung. Aber die Leser haben natürlich ein gutes Gedächtnis. Woher kam der Umschwung? Dass plötzlich Tendenz nicht mehr gefordert war, dass die Verleger das getan haben, was Verleger tun sollten, nämlich die Journalisten in Ruhe arbeiten lassen?

Peter-Jürgen Lesemann überzeugte den Verleger, dass sich etwas ändern müsse. Seitdem haben wir eine Zeitung, in der sich jeder wiederfinden kann. Jeder kommt zu Wort. Es wird nix unterdrückt. Als diese Zeitung 1946 gegründet wurde, hatten die Briten ja eigentlich vor, in dieser Stadt drei Zeitungen zu gründen. Eine politisch konservativ, eine links, eine in der Mitte. Das war die Idealvorstellung. Im Chaos der Nachkriegsmonate ließ sich so etwas aber überhaupt nicht verwirklichen.

Die Verlegerfamilie Eckensberger war zu einem abrupten Ende gekommen. Helga Eckensberger wurde ermordet.

Da gibt es viel Spekulation. Bei jedem Mord wird erst einmal gefragt: Cui bono, wem nützt das? Und da war ja nun sofort klar: Das nützt der Familie Voigt. Dieses ganze Imperium in Braunschweig, dieses gesamte Presseunternehmen fiel der Familie Voigt zu. Das heißt ja nun aber keineswegs, dass sie den Mord in Auftrag gaben. Die Familie Voigt hatte die Braunschweiger Zeitungen in den 1920er-Jahren schon beherrscht. Nach dem Krieg konnten die Voigts ihre Unternehmungen aber nicht wieder in Besitz nehmen, weil der entscheidende Mann – Harald Voigt – ein glühender Nazi gewesen war. Und das hatte ja Hans Eckensberger sofort durchblickt. Er nahm Kontakt zu den Voigts auf, sie liehen ihm 80.000 Mark und dann stellte er sich bei den Briten vor: Ich will die Zeitung machen. Mit seiner Vergangenheit – von den Nazis kaltgestellt, im Gefängnis gesessen, jüdische Ehefrau – war er der Favorit.

Die Familie Voigt gehört zur Geschichte der Braunschweiger Zeitung. Sie hat mit dem erfahrenen Geschäftsführer Lesemann viel für die Weiterentwicklung dieser Zeitung getan. Inzwischen ist sie wichtiger Teil der Funke Mediengruppe. Zu den vielen Dingen, die sich in diesen 75 Jahren verändert haben, gehört: Die Zeitung ist heute Papier, wird auch noch ganz, ganz lange Papier bleiben. Aber sie ist eben auch Internetportal. Sie ist Instagram. Sie ist Facebook. Wie wirkt diese neue Medienwelt, ganz allgemein gesprochen, auf Sie?

Mir ist die Internet-Welt durchaus nützlich, aber ein bisschen zu oberflächlich. Zu ungenau. Und es wäre mir auch zu stressig, mich dort dauernd – etwa auf Instagramm oder Twitter – betätigen zu müssen. Aber ich glaube auch fest daran, das eine gut gemachte, informative, gründlich arbeitende Print-Zeitung auch weiterhin Bestand haben wird. Genau wie gedruckte Bücher.

Was muss ein Journalist heute wie vor 75 Jahren leisten, damit er für diese Region, für Braunschweig, Wolfsburg, ein guter Journalist ist?

Ich glaube, es ist immer noch wichtig, dass man die Spezifika dieser Region erkennt und herausarbeitet. Die Wissenschaft wird international beachtet, Stichwort Helmholtz-Institut, Volkswagen ist ein Gigant. Eintracht ist wichtig, wir genießen vielfältige Kulturangebote, aber es gibt auch nach wie vor das Interesse an braunschweigischer Geschichte und braunschweigischer Eigenheit. Beides muss bedient werden. Das Vermächtnis von Hans Eckensberger ist immer noch gültig. Er hatte hinter seinem Schreibtisch diesen Spruch von Wilhelm Raabe hängen: ,Blick auf zu den Sternen, gib’ acht auf die Gassen.’ Hans Eckensberger animierte das zu einem anderen BZ-Slogan, der unverändert gültig ist: ,Weltoffen und heimatverbunden’. Das ist der Spagat, den ein guter Journalist schaffen muss. Das Lokale, das Regionale und Lebenshilfe für die Leser. Das bleibt wichtig.

Es ist passt ja ins Bild, dass unter Paul-Josef Raue, mit dem Sie und ich noch gearbeitet haben, die Bürgerzeitung entstand, dass wir hier gemeinsam versucht haben, wirklich ein Gesprächspartner unserer Leserinnen und Leser zu sein. Das ist, glaube ich, etwas sehr Klassisches im Sinne Hans Eckensbergers, aber auch etwas sehr Modernes.

Ja, das ich finde das wunderbar. Das war in der Zwischenphase der Braunschweiger Zeitung von den 70er bis zu den 90er Jahren ein bisschen verloren gegangen. Das hat Paul-Josef Raue toll erkannt, und Sie führen es weiter. Ich finde, das ist der richtige Weg.

Das Internet hat viel verändert. Wir können heute jederzeit bei unseren Lesern sein. Wir haben ganz neue Formen, den Podcast etwa. Und wir sehen, dass wir Menschen davon überzeugen können, für unabhängigen, guten Journalismus Geld zu bezahlen, auch in den digitalen Formen. Dennoch ist unser Geschäft schwerer geworden. Was müssen die jungen Kolleginnen und Kollegen, die jetzt den Journalistenberuf ergreifen, lernen – und was sollten sie anstreben?

Sie müssen lernen, diesen Zweiklang zu spielen. Erstens eben das Regionale und Lokale sehr, sehr wichtig zu nehmen. Und zweitens dem Servicegedanken gerecht zu werden. Sie müssen sich auch ständig bilden, sie müssen lesen, sich informieren. Sie müssen Begeisterung mitbringen für diesen Beruf, der ja jeden Tag neue Gesprächspartner bieten kann. Und die jungen Leute müssen lernen, gute Geschichten zu erzählen. Nichts interessiert die Menschen so wie andere Menschen und deren Schicksale. Aber ist das nicht auch ein wunderbarer Beruf, der so große Vielfalt besitzt?

Ich kenne viele Journalisten, die sagen, und ich gehöre auch zu ihnen: Ich mache diese Arbeit seit 30 Jahren und ich hatte noch keinen einzigen langweiligen Tag.

Ja, sicher. Und wenn ich heute immer noch schreibe, dann mache ich das ja auch nicht nur, um vielleicht ein paar Euro zu verdienen. Mir macht das einfach Freude. Und es hält frisch im Kopf.

Wir blicken auf 75 ereignisreiche Jahre. Über ein Ereignis sprechen alle: 1967 wurde Eintracht Braunschweig wider alle Wahrscheinlichkeit Deutscher Fußball-Meister. Wie haben Sie das erlebt?

Ich bin kein Fußballfreund und auch kein Fußballkenner. Aber natürlich bin ich ein Eintracht-Freund. Wo immer ich in der Welt unterwegs war, habe ich immer nachgesehen, wie Eintracht gespielt hat. Wenn Sie 1967 ansprechen, dann muss ich auf etwas hinweisen, was heute sich gar keiner mehr vorstellen kann. Das waren ja zum großen Teil echte Braunschweiger. Die Hälfte der Mannschaft kannte ich. Klaus Meyer war bei mir in der Schule. Mit Jürgen Moll haben wir früher Fußball gespielt. Bäse, Gerwien. Das waren Braunschweiger Jungs. Die Begeisterungsstürme von 1967 haben viel damit zu tun. Das waren Spieler, die lebten hier in der Stadt und die wurden auf der Straße angesprochen. Werner Thamm, der Torjäger, arbeitete übrigens in der BZ im Papierkeller. Das erwähne ich nur, um mal deutlich zu machen, wie wenig man damals mit Oberliga-Fußball (später auch Bundesliga-Fußball) verdiente. Nämlich sehr wenig. Das galt auch 1967 noch.

Ein anderes einschneidendes Ereignis: Sie waren der Erste, der Missstände öffentlich gemacht hat, die später als VW-Korruptionsaffäre weltweit Schlagzeilen gemacht haben.

Paul-Josef Raue hatte mich bestärkt, eine Serie über VW zu schreiben. Forschung bei VW, Motorsport bei VW, VW International und so weiter. Das größte Echo dieser Serie hatte mein Artikel über die Rolle des Betriebsrats. Titel: “Selbsbedienungsladen VW”. Ich habe sogar Morddrohungen bekommen. Aber Sie haben es ja miterlebt. Hunderte Anrufe. Es war ein gigantischer Shit-Sturm. Aber ich hatte auch zwei Anrufe, die mir noch heute im Gedächtnis sind. Der erste kam von Carl Hahn, dem früheren VW-Vorstandsvorsitzenden. Carl Hahn, der Hochverehrte und heute immer noch in Wolfsburg Lebende, rief an und sagte mit seiner Diplomatenstimme: “Das war sehr mutig von Ihnen. Und richtig. Kompliment.” Der andere war Ferdinand Piëch. Der fragte in seiner kauzigen Art: “Na, sind die Fensterscheiben noch heile?” Ein Journalist muss etwas aushalten können. Hier war für mich aber die Grenze erreicht. Ich war zuerst noch einigermaßen dickfellig. Naja, und es kam dann ein Schreiben. Da stand drin: Ihre Frau bietet ein gutes Ziel abends vor dem Fernseher, vom Garten aus. Da merkte man, da waren auch Leute am Werk, die radikal dachten. Ich fand es dennoch richtig, dass wir berichtet haben. Und ich habe damals auch viel Ermunterung erfahren.

Zu unserem Dienst für den Leser gehört auch, dort hinzugehen, wo es weh tut...

Mich bestärkt immer wieder das Echo. Und das ist enorm – und deshalb übrigens auch ein wenig anstrengend, weil ich möglichst jede Zuschrift auch beantworte. Aber dieser Zuspruch ist auch berührend. Und über solch ein Echo muss jeder Journalist dankbar sein. Die Menschen twittern also nicht nur, sondern sie lesen auch Zeitung.

Das Grußwort von Julia Becker, Aufsichtsratsvorsitzende der Funke Mediengruppe: Grußwort zu 75 Jahren Braunschweiger Zeitung

Und das Grußwort von Chefredakteur Armin Maus und Geschäftsführer Claas Schmedtje: 75 Jahre Braunschweiger Zeitung, 75 Jahre, die verbinden