Braunschweig. Im Interview spricht die Nobelpreisträgerin über ihre Sorgen um die Welternährung, die Bedeutung von Forschergeist und erinnert sich an Braunschweig.

Es war ein Besuch an „alter Wirkungsstätte“, wie man so sagt. Die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier war zurück in Braunschweig, wo sie bis 2015 eine Abteilung des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) leitete. Der Termin stand schon seit Monaten fest, doch nun erhielt er zusätzlichen Glanz, denn: Zehn Tage vorher war bekannt gegeben worden, dass die Französin den diesjährigen Chemie-Nobelpreis erhält – zusammen mit ihrer US-amerikanischen Kollegin Jennifer Doudna. Für die von beiden Forscherinnen entwickelte sogenannte Gen-Schere „Crispr/Cas9“, das heute wohl wichtigste Werkzeug der Gentechnik, zeichnete die Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft die 51-Jährige mit der Carl-Friedrich Gauß-Medaille aus. Vor der Preisverleihung in der Dornse trafen wir die Spitzenforscherin im Braunschweiger Altstadtrathaus zum Videointerview. In dem auf Englisch geführten Gespräch berichtet sie gegenüber unserer Zeitung über ihre bahnbrechende Entwicklung, betont die Bedeutung guter Laune für erfolgreiche Forschung und schwelgt in Erinnerungen an ihre Zeit in Braunschweig.

Frau Charpentier, wie geht es Ihnen, zehn Tage nach der Nobelpreis-Bekanntgabe? Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?

Die Nachricht vor einer guten Woche war überwältigend. Ich fühle mich sehr geehrt, aber mittlerweile auch sehr erschöpft – nach neun Tagen voller Interviews, neben denen ich ja auch noch die Arbeit in meinem Labor erledigen muss. Aber, wie gesagt, ich bin sehr geehrt und sehr glücklich.

Interview mit Emmanuelle Charpentier

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    Durch den Chemie-Nobelpreis haben Sie jetzt eine riesige Aufmerksamkeit weltweit, die weit über den Kreis der Wissenschaftsgemeinde hinaus reicht. Haben Sie eine Botschaft an dieses breite Publikum?

    Öffentlich ist meine Entdeckung natürlich schon seit Längerem. Aber, es stimmt: Die Auszeichnung mit dem Nobelpreis erlaubt mir, deutlich mehr Menschen zu erreichen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist es halt der ultimative Preis. Was ich gerne herausheben möchte, ist: Obwohl dieser Preis für Chemie verliehen wird, ist er doch auch eine Anerkennung für die Forschung allgemein – für reine Grundlagenforschung an Mikroben, an Bakterien und Viren. Erst diese Forschung hat zur Entwicklung der Technologie geführt, die heute weltweit benutzt wird, um Änderungen um Erbgut vorzunehmen oder zu verändern, wie die DNA in Zellen und Organismen in Erscheinung tritt. Diese Technologie ist außerordentlich beliebt und gerade dabei, die Lebenswissenschaften grundlegend zu verändern. Aber das Entscheidende aus meiner Sicht ist: Dahinter steckt Grundlagenforschung an Bakterien und Viren.

    Wie die schwedische Akademie betont, kann die von Ihnen entwickelte Gen-Schere von größtem Nutzen für die Menschheit sein. Manche fürchten aber auch, dass die neuen Möglichkeiten bedeuten, dass die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Wie können wir sicherstellen, dass die positiven Auswirkungen überwiegen?

    Die Anwendungsmöglichkeiten dieser Technologie in Forschung und Entwicklung, in der Biomedizin und im Bereich der Produktion von Nahrungsmitteln sind sehr weitreichend und positiv. Die ethischen Bedenken, die es gibt, betreffen den Missbrauch der Technologie, etwa um Designer-Babys zu schaffen. Die Technologie kann benutzt werden, um das Erbgut der menschlichen Keimbahn zu modifizieren und Babys zu entwerfen. Aber selbst wenn es nicht gelingen sollte, die Nutzung der Gen-Schere für solche Zwecke zu verbieten – die Wissenschaftsgemeinde, die Akademien, eine große Zahl Experten und die Öffentlichkeit arbeiten zusammen daran, ethische Erwägungen einzubringen und Regeln zu setzen, um solchen Missbrauch zu verhindern.

    Verleihung der Gauß-Medaille an Emmanuelle Charpentier

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    Wie nehmen Sie öffentliche Debatte über Gentechnik in Deutschland wahr? Die Deutschen gelten mitunter als besonders ängstlich und zögerlich. Sind wir zu skeptisch gegenüber Eingriffen ins Erbgut?

    Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen, denke ich. In Europa ist die Diskussion rund um die Genetik grundsätzlich mit Skeptizismus verknüpft. Und trotzdem hat sich hier auf diesem Gebiet eine Menge

    Mikro-Injektion: Ein Schritt des „Crispr/Cas9“-Verfahrens in einem Labor am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in vielfacher Vergrößerung auf einem Monitor.
    Mikro-Injektion: Ein Schritt des „Crispr/Cas9“-Verfahrens in einem Labor am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in vielfacher Vergrößerung auf einem Monitor. © picture alliance / dpa | Gregor Fischer

    entwickelt. Ich denke, die Sorgen der Wissenschaftler kreisen am ehesten darum, dass es dazu kommen könnte, dass die Entwicklung dieser Technologie für die Erzeugung von Nahrungsmitteln blockiert wird. Angesichts der Rahmenbedingungen des Klimawandels und der vorhandenen Problemen, große Teile der Weltbevölkerung zu ernähren, ist es extrem wichtig, die nötigen Lebensmittel produzieren zu können, um diese Erdteile zu versorgen.

    Als ich kürzlich mit HZI-Chef Dirk Heinz über Ihren Nobelpreis sprach, lobte er besonders Ihren Forschergeist und Ihren Enthusiasmus. Wie wichtig als Forscher ist die innere Haltung?

    Die Haltung ist wirklich wichtig. Als Wissenschaftler hat man mit einer Menge Hürden zu kämpfen. Man muss sehr hartnäckig sein, sehr engagiert. Und es ist wichtig, sich eine positive Grundeinstellung zu bewahren. Ich bin eine Frau, die genießt, was sie tut. Und das hilft mir sehr. Als Wissenschaftler ist es wirklich wichtig, einen guten Spirit zu haben, an das zu glauben, was man tut und davon überzeugt zu sein, dass es am Ende klappt, selbst wenn man vielleicht gerade an einem Experiment sitzt, das nicht so funktioniert, wie es soll. Man darf sich die gute Laune nicht verderben lassen.

    Sollte Wissenschaft Spaß machen?

    Wenn man, wie ich, ein Team leitet, arbeitet man auch mit sehr jungen Leuten zusammen. Die sind sehr enthusiastisch und wollen wirklich ihre Zeit in die Forschung stecken. Forschung ist heutzutage sehr gemeinschaftlich, sehr international und sehr hilfreich. All das bereitet Vergnügen.

    Sie haben drei Jahre am HZI in Braunschweig geforscht. Wenn Sie zurückblicken, welchen Platz in Ihrer wissenschaftlichen Karriere nimmt diese Zeit ein?

    Alle Stationen, an denen ich gearbeitet habe, sind wichtig für mich. An jedem Ort habe ich etwas Besonderes dazugewonnen. Das hat mir geholfen, zu wachsen – als Wissenschaftlerin und als Führungskraft. Es hat mir geholfen, verschiedene Systeme besser zu verstehen und mich meiner Forschung und der Entwicklung meiner Führungsqualitäten immer wieder auf verschiedene Art zu nähern. Ich habe gelernt, besser zu verstehen, auf welche Forschungsthemen ich mich konzentrieren muss, welche Botschaften ich senden muss – sei es an die Öffentlichkeit oder an Nachwuchswissenschaftler. Und dafür war jeder einzelne Ort wichtig. Aber das HZI hat natürlich dafür gesorgt, dass ich nach Deutschland gekommen bin. Ich bin den Helmholtz-Kollegen dankbar dafür, dass sie mich entdeckt haben und ich meine Karriere in Deutschland hier in Braunschweig beginnen konnte.

    Was kommt Ihnen heute in den Sinn, wenn Sie an Ihre Zeit in Braunschweig zurückdenken – was verbinden Sie mit der Stadt, mit den Leuten hier?

    Ich muss an die Geschichte denken, und daran, dass Braunschweig, wie viele deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg, stark zerstört worden ist. Als ich, bevor ich hierher zog, Bekannten erzählte, dass ich nach Braunschweig gehe, verzogen viele sogar erst mal ein bisschen den Mund. Aber dann habe ich Braunschweig wirklich sehr genossen. Auch die Innenstadt gefällt mir sehr. Ich habe dort alles gefunden, was ich brauche. Versorgungstechnisch war das wunderbar für mich, weil ich alles, was ich benötige, in kürzester Zeit besorgen konnte. Und was die Art der Menschen hier angeht, so fand ich, dass sie in vieler Hinsicht dem ähnelt, was ich aus der Pariser Gegend gewohnt war: Leute, die sehr gerade heraus sind. In meiner Karriere habe ich mit sehr vielen Deutschen zusammengearbeitet. Deshalb kam es mit ein Stück weit natürlich vor, nach Deutschland zu gehen. Bevor ich ans HZI kam, hatte ich schon 18 Jahre lang deutsche Kollegen – in den USA, in Wien und in Schweden. Auch deswegen war es ganz natürlich, hierherzukommen. Ich fühle mich sehr willkommen hier – und ausgesprochen wohl.

    Zur Person:

    Emmanuelle Charpentier wurde 1968 nahe Paris geboren, wo sie Biochemie, Mikrobiologie und Genetik studierte. Nach Aufenthalten in den USA, Wien und Schweden leitete sie von 2012 bis 2015 eine Forschungsabteilung am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Heute führt sie die Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin. Für die Entdeckung der Gen-Schere „Crispr/Cas9“ erhält sie zusammen mit der Amerikanerin Jennifer Doudna den diesjährigen Chemie-Nobelpreis.

    In Kürze erklärt: Crispr/Cas9 – Das „Schweizer Taschenmesser der Gentechnik“

    Wohl keine andere Entdeckung der letzten Jahre ist mit so vielen Superlativen bedacht worden wie die von Emmanuelle Charpentier und der Jennifer Doudna entwickelte Gen-Schere „Crispr/Cas9“. Die Technologie erlaubt, deutlich einfacher, schneller und kostengünstiger in das Erbgut von Lebewesen einzugreifen denn je. Charpentier hat ihre Entwicklung einmal treffend als „Schweizer Taschenmesser der Gentechnik“ bezeichnet.

    Wichtige Anwendungsverfahren der Gen-Schere sind die Pflanzenzüchtung und die Medizin, wo sie etwa Therapien für Krebs und Erbkrankheiten verspricht. Im Jahr 2018 sorgte der chinesische Wissenschaftler He Jiankui weltweit für Entsetzen, als er die Geburt zweier Mädchen bekanntgab, deren Erbgut er zuvor mit der Genschere manipuliert hatte.