Braunschweig. Zu Beginn der Corona-Krise wurden Pflegekräfte als Helden gefeiert. Nun fordern Experten, dass der Beruf dauerhaft aufgewertet werden muss.

Pflegekräfte sind in der Corona-Krise besonders gefordert. Zu Beginn der Pandemie waren sich daher alle einig, dass sie besondere Wertschätzung verdienen. Was ist aus den Versprechen geworden? Gero Kettler, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Arbeiterwohlfahrt (Awo) Deutschland, und Rüdiger Becker, Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Neuerkerode und Vorsitzender des Diakonischen Dienstgeberverbands Niedersachsen, setzen sich seit langem für bessere Löhne für alle Beschäftigten in der Pflege ein. Beide sind im Vorstand der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche, ein Zusammenschluss von Pflegeanbietern und Wohlfahrtsverbänden, zu dem unter anderem auch der Arbeiter-Samariter-Bund, der Paritätische Gesamtverband und die Volkssolidarität gehört. Im Interview erklären sie, warum es so wichtig ist, den Beruf durch einen bundesweit gültigen Tarifvertrag aufzuwerten.

Herr Kettler, Herr Becker: Vor einigen Monaten noch wurden Pflegekräfte als Helden des Alltags bejubelt. Was ist von den schönen Worten geblieben?

Kettler: Menschen, die in der Pflege arbeiten, haben eine sehr hohe Bereitschaft, etwas für andere zu leisten. Das ist in der Corona-Krise wieder einmal deutlich geworden. Sie haben die moralische Anerkennung und den Respekt, der ihnen zuletzt entgegengebracht wurde, durchaus positiv aufgenommen. Doch nun haben sie die berechtigte Erwartung, dass sich an ihren Arbeitsbedingungen auch dauerhaft etwas ändert. Sie wollen sehen, dass man ihre Arbeit wirklich wertschätzt. Ein Ausdruck der Wertschätzung und Anerkennung ihrer schwierigen Arbeitssituation ist es, endlich einen bundesweit einheitlichen Tarifvertrag einzuführen.

Becker: Durch die Corona-Pandemie ist wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt, dass Menschen, die in der Pflege arbeiten, auch attraktive Arbeitsbedingungen brauchen. Die Bonuszahlung von 1500 Euro, die Pflegekräfte nun infolge der Krise erhalten haben, war schon mal eine finanziell spürbare Anerkennung. Doch nun ist es Zeit für den nächsten Schritt, für eine dauerhafte finanzielle Aufwertung der Pflegeberufe. Es geht hier übrigens nicht nur um die Fachkräfte, sondern auch um die Hilfskräfte und die Betreuungsassistenten. Die dürfen wir in der Diskussion nicht vergessen, denn ein Großteil der Arbeit in der Pflege wird von Hilfskräften vorgenommen.

Personal, das am Limit arbeitet, die Angst vor Infektionen, Mangel an Schutzkleidung – die Lage zu Beginn der Pandemie war in vielen Alten- und Pflegeheimen dramatisch. Nun steigen die Infektionszahlen wieder und viele fürchten sich vor einer zweiten größeren Welle. Wie sind die Heime darauf vorbereitet?

Becker: Uns ist bewusst, dass wir großes Glück hatten: Bislang gab es keine Infektionsfälle in unseren Häusern. Wir wissen aber, dass sich das jederzeit ändern kann. Wenn man die Beschäftigten, Besucher, Therapeuten und Ärzte in die Häuser reinlässt, besteht auch ein Risiko, dass das Virus in die Einrichtungen getragen wird. Inzwischen haben wir aber wertvolle Erfahrungen sammeln können. Die Umsetzung der Hygiene- und Besuchsregeln klappt inzwischen reibungslos. Das Händewaschen, Tragen von Schutzmasken und Einhalten der Abstandsregeln ist zum Standard geworden. Wir sind darauf eingestellt, Patienten auch im Fall einer zweiten Welle gut zu versorgen und alte Menschen in den Heimen bestmöglich zu schützen.

Wie steht es um die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte, hat sich die Situation auch da entspannt?

Becker: Die Personaldecke in der Altenhilfe ist ohnehin sehr eng. Diese Situation hat sich in den vergangenen Wochen nicht verbessert. Es gibt in unserer Region genügend Häuser, die einen Belegungsstopp hatten, weil einfach nicht mehr genug Personal da war. Das sieht bei uns glücklicherweise anders aus: Nun zeichnet es sich aus, dass wir an der Tarifbindung festgehalten haben – obwohl es sich wirtschaftlich zwischenzeitlich für uns eher zum Nachteil ausgewirkt hat. Wir haben daher als attraktiver Arbeitgeber keine Personalverluste zu verzeichnen oder das Problem, freie Stellen nicht besetzen zu können.

Sie fordern ja seit langem, einen verbindlichen Tarifvertrag für die gesamte Pflegebranche. Woran ist es denn bislang immer gescheitert?

Kettler: Vor allem an der Profitorientierung etlicher Anbieter von Pflegedienstleistungen. Sehr häufig werden Hilfskräfte noch nah am Mindestlohn bezahlt. Wer sich damit eingerichtet und selbst unter diesen Umständen noch genügend Personal bekommen hat, weicht nicht von dem Modell ab. Man muss aber klar sagen: Für eine so sozial- und gesellschaftspolitisch wichtige Aufgabe wie die Pflege müssen Profitinteressen auch einmal zurückgestellt werden. Es sagt ja keiner, dass man mit Pflege nicht Geld verdienen darf. Die Frage ist nur, wie wir den Beruf attraktiv halten können, damit wir auch in Zukunft genügend Pflegekräfte bekommen. Wir brauchen dafür eine verbindliche Mindestausstattung für die gesamte Branche. Bestehende bessere Tarifverträge bleiben davon ja unberührt.

Verschiedene Politiker haben immer wieder versprochen, sich für bessere Bedingungen in der Pflege einzusetzen. Mit welcher Unterstützung rechnen Sie nun?

Kettler: Bis ins letzte Jahr hinein war die Gesetzeslage so, dass ein Tarifvertrag nur allgemeinverbindlich für die gesamte Branche sein kann, wenn der Tarifausschuss, ein paritätisch besetztes Gremium von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, dem mehrheitlich zustimmt. Im letzten Jahr ist das Gesetz aber geändert worden: Nun können Tarifverträge auch allgemeinverbindlich werden, wenn eine Seite im Tarifausschuss auf Blockade setzt. Die Politik kann sich für einen bundesweit einheitlichen Tarifvertrag einsetzen, weil es im öffentlichen Interesse ist.

Wie sehen Sie die Chance, dass sich jetzt zeitnah etwas tut?

Kettler: Wir werden Mitte September die Verhandlungen wieder aufnehmen und hoffen, dass wir die Runden noch im Herbst beenden können. Durch die Corona-Pandemie ist ein ganz anderes gesellschaftliches Klima entstanden. Auch von der Politik kommt vermehrt die Forderung nach Tariflöhnen und besseren Verdienstmöglichkeiten. Wir erwarten daher schon, dass sie das jetzt für die Branche auch verbindlich macht.

Becker: Es liegt doch auch im Interesse der Politik, bundesweit bessere Löhne für die Beschäftigten in der Pflege durchzusetzen. Alle reden über Altersarmut. Wenn wir die Pflegekräfte nicht ordentlich bezahlen, haben wir sie später in der Grundsicherung. Dann ist es doch besser, jetzt ein Gehaltsgefüge zu finden, das es Pflegenden auch im Ruhestand ermöglicht, auskömmlich zu leben. Am Ende wird es aber darauf ankommen, ob wir auch das Arbeitgeberlager überzeugen können. Es geht darum, eine Branche nachhaltig zu sichern, damit wir künftig den steigenden Bedarf an Pflege decken können.

Wie ist es um die kleineren privaten Pflege-Anbieter bestellt, wenn es allgemeinverbindliche Tariflöhne gibt?

Kettler: Renditen werden möglicherweise geringer, aber jeder kann seine Personalkosten refinanzieren. Es wird eben nur nicht mehr möglich sein, Lohndumping zu betreiben. Derzeit haben wir ja einen Unterbietungswettbewerb. Wo der Bedarf an Personal groß ist, wird bei den Löhnen drauf gelegt, etwa bei jungen Fachkräften. Aber bei der großen Gruppe der schon länger beschäftigten Hilfskräfte, die rund 50 Prozent der Belegschaft ausmachen, wird mit dem Mindestlohn agiert, um Gewinne zu generieren. Ein-Euro-Shops brauchen wir aber in der Pflege nicht.

Becker: Wir müssen uns vom Modell des Pflege-Mindestlohns verabschieden. Das ist für junge Leute, die vor der Berufswahl stehen, nicht attraktiv. Wer will schon in einem Bereich arbeiten, der über Mindestlöhne geregelt ist? Höhere Löhne werden sicherlich Pflegeberufe attraktiver machen.

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Doch wird das reichen, um langfristig mehr Fachkräfte zu gewinnen?

Becker: Natürlich lösen wir mit einem Tarifvertrag nicht den gordischen Knoten. Aber unter den vielen Aspekten, die einen Beruf attraktiv machen – Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Mitspracherechte, Entwicklungsmöglichkeiten – spielt ein angemessener Lohn eine entscheidende Rolle. Die Auszubildendentarife haben wir zum Glück schon verhandeln können. Seitdem haben wir mehr junge Leute in den Beruf bekommen. Die Frage ist nur, wie lange sie auch im Beruf bleiben.

Kettler: Man kann ja das Gute tun, ohne das Bessere zu lassen. Ich habe nie verstanden, warum man eine bessere Vergütung lassen soll, nur weil es auch andere wichtige Parameter für die Zufriedenheit im Beruf gibt.

Gibt es denn auch ein Konzept dazu, wie die zusätzlichen Kosten in der Pflege refinanziert werden können?

Becker: Es zeigt sich jetzt schon, dass die Pflegeversicherung längst nicht mehr in der Lage ist, die Versorgung abzusichern. Die Eigenanteile, die Menschen im Alter für ihre Versorgung aufbringen müssen, sind bereits erheblich gestiegen. Und künftig wird es aufgrund der demografischen Entwicklung noch mehr alte Menschen geben, die ambulante oder stationäre Dienste in Anspruch nehmen. Wir schlagen daher eine grundlegend neue Pflege-Finanzierung vor, einen sogenannten Sockel-Spitze-Tausch: Der Eigenanteil der Pflegebedürftigen an den reinen Pflegekosten sollte gedeckelt und alle darüber hinaus gehenden Kosten von der Pflegeversicherung getragen werden. Derzeit zahlt diese einen Sockelbetrag, den Rest müssen die Pflegebedürftigen selbst tragen. So kann die Pflegeversicherung aber das Versprechen, das Armutsrisiko bei Pflegebedürftigkeit zu begrenzen, künftig nicht mehr einlösen.

Infos zur Pflege

Nach einer Erhebung der Bundesagentur für Arbeit von Ende Augustverdienen bundesweit 28,3 Prozent der sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigten Altenpfleger in Deutschland nur einen Niedriglohn. In Westdeutschland liegt der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten bei einem Viertel (25,3 Prozent) – im Osten weit höher bei 40,7 Prozent. Von niedrigen Löhnen besonders betroffen sind Helfer in der Altenpflege, die keine Fachausbildung vorweisen können. Hier arbeiten 58 Prozent im Niedriglohnsektor. Im Osten liegt der Anteil sogar bei 78,5 Prozent.

Der Fachkräftemangel in der Altenpflege hat sich in den vergangenen Jahren verschärft. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2018 waren 23.862 Stellen bei Altenpflegediensten unbesetzt. Im Jahr 2017 waren es 23.300 Stellen. In der Altenpflege dauere es 205 Tage, um eine freie Stelle mit einer Fachkraft zu besetzen.

Die Löhne für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Altenpflege sind zuletzt gestiegen. Laut Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit lag der Durchschnitts-Lohn für vollzeitbeschäftigte Altenpflegefachkräfte 2019 bei 3032 Euro im Vergleich zu 2877 Euro im Jahr 2018. Für Altenpflegehelfer belief sich das mittlere Entgelt auf 2146 Euro. Allerdings variieren die Löhne stark. In Niedersachsen liegt der Durchschnitts-Lohn bei 2841 Euro.