Celle. Ein ehemaliger Polizeispitzel beschäftigt noch heute die Politik und Justiz. Auf dessen Angaben fußt auch die Anklage im Celler Terror-Prozess.

Der Mann, der sich Murat Cem nannte, war jahrelang ein Phantom. Er arbeitete als Spion für die Polizei in Nordrhein-Westfalen, überführte Dutzende Verbrecher, tauchte tief in die Islamistenszene ein. Er bewegte sich im Umfeld von sogenannten Gefährdern, war in der Moschee des Hildesheimer Predigers Abu Walaa unterwegs und heftete sich an die Fersen des Berliner Attentäters Anis Amri. Er warnte sogar mehrfach vor ihm, das erste Mal im Herbst 2015 und anschließend immer wieder – bis er als V-Mann abgezogen und zum Schweigen verdammt wurde. Warum?

Warum wurden die Warnung von „VP01“ nicht gehört?

Bis heute beschäftigt Murat, der von den Behörden unter dem Kürzel VP01 geführt wurde, sowohl die Politik als auch die Justiz. Inzwischen haben Journalisten des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ sogar ein Buch über ihn geschrieben und ihn zum berühmtesten Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte erklärt. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags will die Umstände des Terroranschlags am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 aufklären und beleuchtet auch die Frage, warum die Warnungen des V-Mannes im Behördendschungel untergingen.

Und vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Celle läuft nach wie vor das Verfahren gegen Abu Walaa und seine mutmaßlichen Helfer, die junge Gläubige für die Terrormiliz Islamischer Staat rekrutiert haben sollen. In diesen Wochen sind sogar Vertreter der Bundesanwaltschaft als Zeugen geladen, um Hintergründe zu beleuchten, die sich um Murats Einsatz drehen. Dieter Killmer, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, betont vor einigen Tagen erneut, es hätten sich keine Hinweise ergeben, dass Murat unzuverlässig sei. Die Anklage stützt sich im Wesentlichen auf die Angaben von VP01. Doch die Verteidigung sieht auch knapp drei Jahre nach Beginn des Mammut-Prozesses noch nicht alle Zweifel ausgeräumt.

Tief in der Salafisten-Szene

Wer die Geschichte von Murat Cem verstehen will, muss abtauchen in die Details. Als Polizeispitzel bringt er jahrelang Drogendealer, Waffenhändler, sogar Mörder hinter Gitter. Nach und nach taucht er auch immer tiefer in die salafistische Szene in Deutschland ein, in die Außenstehende sonst nur schwer Zugang haben.

Er besucht salafistische Moscheen und knüpft Kontakte zu den Männern, die Einfluss haben in diesem Milieu. Im September 2015 betritt er das erste Mal das Reisebüro von Hasan C in Duisburg, in dessen Hinterzimmer der türkische „Hoca“ (Lehrer) auch Arabisch-Unterricht erteilt. Schon bald bekommt Murat mit, dass es aber nicht nur um Vokabeln und Grammatik geht, sondern auch um den Dschihad, um Terror und Gewalt. Einige Schüler bekommen sogar IS-Videos zu sehen, in denen Gefangene exekutiert werden. So wird Murat es den VP-Führern übermitteln – jenen Polizisten, die ihn betreuen. Über diesen Kreis lernt der V-Mann auch Boban S. kennen, einen Deutsch-Serben aus Dortmund, der dort eine Madrasa, eine Religionsschule, betreibt. Das Vertrauen ist offenbar so groß, dass dieser Murat Anfang November mit einer Frage konfrontiert. „Würdest du auch hier was machen?“ Die Ermittler sind elektrisiert: Wie konkret ist die Gefahr, dass Islamisten Anschläge in Deutschland vorbereiten?

Treffpunkt Hildesheimer Moschee

Die Wege führen Murat Cem aus dem Ruhrgebiet hinaus nach Niedersachsen, in die Moschee des „Deutschsprachigen Islamkreises“ in Hildesheim, wo der Iraker Abu Walaa quasi als höchste geistliche Instanz in der Szene predigt. Aus ganz Deutschland und Europa kommen Anhänger zu den Seminaren. Auch Murat Cem wird ein Dauergast – und er sammelt so viele Informationen, dass die Ermittler zu dem Schluss kommen, einem bundesweiten Netzwerk auf die Spur gekommen zu sein, das Gläubige für den IS rekrutiert – mit Abu Walaa an der Spitze.

Die Szene geht konspirativ vor, über „heikle“ Themen sprechen die Anhänger nur in vertrauten Kreisen und auch nur, wenn alle ihre Handys vorher abgegeben haben. Die VP-Führer haben deshalb eine Legende zurecht gelegt: Murat soll sich „anschlagsbereit“ zeigen. Tatsächlich ist der Einsatz von V-Leuten immer eine Gratwanderung. Sie müssen in der Szene mitschwimmen, um sich nicht verdächtig zu machen, müssen manchmal auch bis an die Grenze gehen, um Entwicklungen mitzubekommen und interessant zu bleiben. Aber sie dürfen nicht andere zu einer Tat anstacheln, die diese zuvor gar nicht begehen wollten. Anhänger aus dem islamistischen Milieu werden Murat später vorwerfen, diese Grenze überschritten zu haben. Seine VP-Führer versichern dagegen vor dem Oberlandesgericht in Celle das Gegenteil.

Offenbar frühe Hinweise auf Anis Amri

Im November 2015 will Murat in Hildesheim jedenfalls mitbekommen haben, wie ein Vertrauter Abu Walaas, Mahmoud O., über mögliche Anschlagspläne fabuliert. Von Handgranaten auf Polizeireviere ist die Rede. Oder von Kalaschnikows, die man erwerben könne. Dass die deutschen Sicherheitsbehörden fortan in höchster Alarmbereitschaft sind, ist auch auf Murats Aussage zurückzuführen: In Hannover soll wenige Tage später das Freundschaftsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Niederlande stattfinden. Doch die deutschen Behörden bekommen eine Warnung von einem französischen Geheimdienst. Außerdem kommt heraus, dass ein Salafist aus dem Umfeld der Hildesheimer Moschee als Ordner im Stadion sein soll. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagt das Spiel kurz vor Beginn ab. Mahmoud O. und fünf weitere Islamisten werden in Hildesheim festgenommen. Die Ermittlungen laufen allerdings ins Leere.

Dieser Vorfall wird Zweifel an Murats Aussagen gesät haben. Als der V-Mann in der Szene auf Anis Amri trifft und sich an dessen Fersen heftet, berichtet er seinen VP-Führern wieder von Anschlagsplänen. Der Tunesier wolle sich Waffen beschaffen. „Amri macht auf mich einen sehr radikalen Eindruck, er will unbedingt für seinen Glauben kämpfen“, berichtet er den Beamten – mehr als ein Jahr, bevor dieser tatsächlich in Berlin einen Anschlag begeht. Doch wie glaubhaft sind diese Warnungen?

Wie glaubwürdig ist Murat?

„Wir haben bei uns ein dickes Fragezeichen gemacht“, erinnert sich ein Beamter des Bundeskriminalamtes, der im Februar dieses Jahres vor dem OLG in Celle als Zeuge aussagt. Die Spezialisten des BKA halten es für unwahrscheinlich, dass jemand, der erst so kurz in die Szene eingebunden ist, an so brisante Informationen gelangt – und dass auch noch zweimal hintereinander. Doch das Landeskriminalamt NRW und der Generalbundesanwalt halten an ihrer Einschätzung fest – die Angaben des V-Mannes sind maßgeblich für das Verfahren gegen Abu Walaa und seine mutmaßlichen Helfer.

Im Februar 2016 kommt es zu einem Gespräch in Karlsruhe, an dem Vertreter der Bundesanwaltschaft, Beamte des BKA und der Landeskriminalämter Niedersachsen und NRW teilnehmen. Diese können die Experten der Bundesbehörde schließlich davon überzeugen, dass ihr V-Mann glaubwürdig und äußerst zuverlässig ist. „Wir hatten keine Anhaltspunkte dafür, dass VP01 uns wissentlich falsch berichtet hat“, sagt Oberstaatsanwalt Killmer vor Gericht.

Streit über Bewertungen der Aussagen des Polizeispitzels

Bis heute gibt es einen Streit über die genauen Hintergründe der unterschiedlichen Bewertungen. Darf es keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des V-Mannes geben, weil sonst das wohl größte Ermittlungsverfahren gegen Islamisten in Deutschland, der Prozess gegen Abu Walaa, zum Scheitern verurteilt gewesen wäre? Die Verteidiger der Angeklagten halten es zumindest für fragwürdig, dass die Anklage im Wesentlichen auf den Angaben eines Kronzeugen aus der Szene und eines Spitzels fußt.

Als Zeuge darf Murat nicht vor dem Oberlandesgericht in Celle auftreten, mehrfach hatte der Vorsitzende Richter im Innenministerium Nordrhein-Westfalens angefragt, selbst eine Videobefragung wurde abgelehnt. Auch als sich der ehemalige V-Mann selbst dazu bereit erklärt, Fragen vor dem Untersuchungsausschuss in Berlin zu beantworten, bleibt Innenminister Herbert Reul bei seinem Nein. Es sei davon auszugehen, dass für Cem Leib- und Lebensgefahr bestehe, sollte er identifiziert werden, heißt es. Tatsächlich wurde Murat schon einmal bedroht: Als die Polizei im August 2016 die Moschee und Wohnung des Predigers Abu Walaa durchsucht, ahnt der Iraker, wer ihn verraten hat. Über soziale Medien hetzt er gegen den „abtrünnigen Spion“. Murat lebt seitdem unter Zeugenschutz – und von Hartz IV.