Braunschweig. Deutschland wollte die Schwächsten der Gesellschaft vor dem Virus schützen. Die erst wenig gemachten Obduktionen zeigen: Das gelingt offenbar nicht.

Man kann es elegant formulieren, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble es vor Wochen tat. „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“ Oder man wählt die rüde Form wie der Grünen-Politiker Boris Palmer, der – ebenfalls vor Wochen – das gleiche meinte, es aber so ausdrückte: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Auch diese Aussage hat dazu geführt, dass in Deutschland die Stimmen, die die Maßnahmen des Staates für übertrieben halten, lauter wurden. Und die Diskussion geht weiter.

COVID-19-Todesfälle nach Altersgruppe und Geschlecht Stand 9.6.
COVID-19-Todesfälle nach Altersgruppe und Geschlecht Stand 9.6. © Jürgen Runo

Kritische These: Der Schutz der Alten- und Pflegebedürftigen wird zur unverhältnismäßigen Last für alle anderen in der Corona-Krise.

Über Palmers Worte ist öffentlich schon viel diskutiert worden. Man darf aber nicht verkennen, dass er, bei aller Kritik an der Wortwahl, für den Inhalt seiner Aussagen Zuspruch erhielt – auch aus unserer Leserschaft. Siegfried Pella aus Braunschweig hat in mehreren E-Mails an diese Redaktion seinen Unmut darüber ausgedrückt, wie „unfrei“ aus seiner Sicht die Presse über die Frage der Letalität des Virus berichtet, also über die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben.

Diese Form der Darstellung würde den Menschen Angst machen und sei wenig hilfreich. Im konkreten Fall bezieht sich Pella auf den Artikel „RKI: 87 Prozent der Corona-Toten sind älter als 70 Jahre“, der im Mai in dieser Zeitung veröffentlicht wurde. Darin wurde mit Verweis auf die Süddeutsche Zeitung“ der Hamburger Rechtsmediziner Prof. Klaus Püschel zitiert, der sich differenziert äußert. So sagt Püschel, dass die von ihm obduzierten Corona-Toten nicht wegen, sondern mit Corona gestorben seien. Der übergroße Anteil habe Vorerkrankungen gehabt. Laut offizieller Sterbeurkunde starben jedoch 61 der bis zu diesem Zeitpunkt 65 von Püschel obduzierten Personen an Corona, erklärt die Zeitung weiter.

Der Leser weist zudem auf ein TV-Interview mit Püschel hin: in einer Sendung von Markus Lanz. Schon im April habe er gewarnt, mit der Angst vor dem Virus zu spielen und zu übertreiben. Und Ende Mai – mehr als 140 Obduktionen später – waren Püschels Erkenntnisse dieselben. Er kann sogar genauer eingrenzen, woran die Menschen gestorben sind. Auffällig ist unter anderem die hohe Zahl der erlittenen Thrombosen bei den verstorbenen Covid-19-Patienten. Für seine Wortwahl entschuldigt er sich in einem Interview mit der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ allerdings. Er habe niemanden verletzen wollen.

Argumente der Gegenthese:

Das Wissen über Corona verändert sich. Virologen sagen, das geschehe beinahe täglich. Das Virus sei eben neu. Was vor Wochen noch bewiesen schien, kann bald widerlegt sein. Die Frage, ob Masken helfen, das Virus einzudämmen, ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Einschätzungen ändern können. Um mehr Klarheit über Covid-19 zu bekommen, hat der Deutsche Pathologenverband schon früh darauf gedrängt, mehr Menschen zu obduzieren, um von „den Toten für die Lebenden zu lernen“. In Zeiten einer grassierenden Pandemie und den umfangreichsten Beschränkungen für die Menschen, die es in Friedenszeiten je gab, ist das ein nachvollziehbarer Ansatz. Die Diskussion mit Lesern zeigt aber auch, dass das Virus gerade wegen seiner Neuartigkeit Interpretationsspielräume zulässt. Die Debatte, wer an Corona stirbt, ist nicht selten mit einer Stoßrichtung versehen, die es dabei mitzudenken gilt. So ist sie in dem Moment abgeflaut, als die Absetzbewegungen der Ministerpräsidenten von der Position der Bundeskanzlerin immer deutlicher wurden – und immer mehr gelockert wurde, in dem einen Bundesland schneller als in dem anderen.

Das Robert Koch-Institut (RKI) hat nie bestritten, dass Menschen mit Vorerkrankungen einem höheren Risiko ausgesetzt sind. Im Gegenteil. Das RKI schreibt: „Das Risiko, an Covid-19 zu versterben, ist bei Personen, bei denen bestimmte Vorerkrankungen bestehen, höher. Daher ist es in der Praxis häufig schwierig zu entscheiden, inwieweit die Sars-CoV-2-Infektion direkt zum Tode beigetragen hat.“ Welche Vorerkrankungen zugrunde lagen, ist weitgehend unklar. RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher teilt unserer Zeitung dazu mit: „Vorerkrankungen werden dem RKI im Rahmen der gesetzlichen Meldungen nur sporadisch übermittelt.“

Eine Umfrage unserer Zeitung unter den Gesundheitsämtern der Landkreise und Städte bestätigt diesen Eindruck. So führt etwa der Landkreis Peine auf seiner Internetseite zwar alle bestätigten „Corona-Toten“ mit Alter, Geschlecht und teilweise Verlaufdarstellung der Erkrankung auf. Über Vorerkrankungen wird aus Datenschutzgründen Stillschweigen gewahrt. Eine Sprecherin des Kreises erklärt auf Anfrage: „Der Jüngste, der an Corona gestorben ist, war 69, die Älteste 107. Da kann man sicherlich von Vorerkrankungen ausgehen.“

Stefan Willich, Leiter des Charité-Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, kritisiert in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ die fehlende Transparenz. In den USA würden Vorerkrankungen von den Gesundheitsbehörden systematischer erfasst. Willich kommt nach einer eigens erstellten Analyse – auf der Basis allerdings nur von Zahlen aus dem süddeutschen Raum – zu der Einschätzung, dass etwa 97 Prozent der Corona-Toten in Deutschland mindestens eine Vorerkrankung gehabt haben. Die WHO kommt – Stand Ende Mai – weltweit auf einen ähnlichen Prozentsatz

Auch deutsche Pathologen machen sich Gedanken zur Frage, ob man „mit“ oder „an“ Corona stirbt. Vor argumentativen Schnellschüssen warnen sie. Man wisse noch zu wenig über das Virus. Wichtig sei, sich schnell und umfassend ein Bild zu machen. „Dabei helfen uns klinische Obduktionen“, sagt der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Pathologen, Prof. Karl-Friedrich Bürrig, im Gespräch mit unserer Zeitung. Er weist darauf hin, dass von den mittlerweile mehr als 8600 Toten, die im Zusammenhang mit dem Coronavirus verstorben sind, bislang nur etwa 500 bundesweit obduziert worden seien. Davon habe der Hamburger Mediziner Püschel das Gros vorgenommen, da er dazu von den Behörden der Hansestadt beauftragt worden sei.

„Bei den restlichen etwa 100 Obduktionen kann man sagen: Der Anteil derjenigen, die keine Vorerkrankung gehabt haben, geht gegen Null.“ Das Durchschnittsalter der Toten liege bei über 70, der Anteil an Frauen sei leicht höher. „Natürlich gibt es aber Fälle, da wissen die Menschen nichts von ihrer Vorerkrankung“, erklärt Bürrig. Als Beispiel nennt der Mediziner Bürrig, der im Hildesheimer Krankenhaus arbeitet, zu hohen Blutdruck. Er selbst habe nur von einem Fall aus Bayern gehört, wo ein offensichtlich kerngesunder Mann an Covid-19 gestorben sei. „Doch auch hier gibt es noch kein abschließendes Ergebnis. Wir müssen uns noch etwas gedulden“, sagt er.

Bürrig gefällt allerdings ebenso wenig wie der Geschäftsführerin des Pathologenverbandes, Gisela Kempny, der Zungenschlag, mit der die Debatte über die Corona-Toten geführt wird. Sie sei „zynisch“ und „moralisch verwerflich“, hatte Kempny schon Ende April unserer Zeitung gesagt. Und Bürrig legt nach: „Über einen Krebskranken im fortgeschrittenen Stadium, der von einem Autofahrer überfahren und getötet wird, sagt man doch auch nicht: Der hätte nur noch ein Jahr gelebt. Nein, dem Menschen hat man Lebenszeit genommen. So würde in dem Fall richtigerweise darüber gesprochen.“

Nach Angaben des Deutschen Pathologenverbandes wurden vor der Corona-Krise nur etwa drei Prozent der in deutschen Krankenhäusern Verstorbenen obduziert. Dafür bedarf es in Deutschland der ausdrücklichen Genehmigung durch die Angehörigen. „Diese Zahl hat sich seit Corona nicht großartig verändert.“ Bürrig verweist darauf, dass in den 1980er Jahren, als er seine Laufbahn begonnen habe, die Zahlen in der Obduktionspathologie ganz andere gewesen seien. Damals seien in manchen Häuser im Jahr bis zu 2000 Obduktionen durchgeführt werden. „Heute sind es in Kliniken wie der in Hildesheim etwa 50.“ Grund dafür sei, dass mit dem Tod auch die Kassenleistungen endeten. Hinzu komme eine medizinische Ausbildung, in der die Pathologie als Grundlage keine Rolle mehr spiele. „Das kommt im Studium gar nicht mehr vor.“

Zusammenfassung.

Der Streit darüber, was wir über die Corona-Toten wissen, hat nichts mit Leichenfledderei zu tun, obwohl es sich manchmal so anfühlt. Das sagt auch der Präsident Deutscher Pathologen, Karl-Friedrich Bürrig gegenüber unserer Zeitung. „Die Bevölkerung ist Obduktionen gegenüber aufgeschlossen. Das zeigen Umfragen.“ Diese seien jedoch aufwendig, sie anzuordnen, mitunter kostspielig und medizinisch sehr komplex, was dazu führe, dass die Zahlen dramatisch zurückgingen. „Obduktionen sind aber wichtig, um das Virus in seiner Gänze zu erklären.“

Die Datenlage spielt denen, die an den umfassenden Beschränkungen während des Lockdown Kritik geübt haben, in die Karten. Was man auf Basis von noch sehr wenigen Obduktionen sagen kann: An Corona sind in übergroßem Maße die gestorben, die nach dem Ausbruch der Pandemie geschützt werden sollten. Alte, Kranke, Hilfsbedürftige. Ist diese Erkenntnis wirklich beruhigend? Oder zeigt sie gar ein falsches politisches Vorgehen? Am Anfang war der Solidaritätsgedanke groß. Er bröckelte, als begonnen wurde, den wirtschaftlichen Schaden gegen den gesundheitlichen aufzurechnen. Das Argument, das Virus träfe ja nicht alle gleich, befeuerte die Diskussion zusätzlich.

Die nächste Debatte steht schon vor der Tür. Die zur Übersterblichkeit. Noch ist nicht klar, ob man am Ende des Jahres 2020 in Deutschland mehr Tote als in anderen Jahren zählen wird. RKI-Chef Lothar Wieler deutete das Ende April an, während das Statistische Bundesamt hierfür noch keine klaren Belege sieht. Im April habe es nur einen geringen Anstieg der Totenzahlen gegeben. Neben dem frühen Zeitpunkt – mitten in der Pandemie – machen unterschiedliche statistische Modelle und uneinheitliche Übermittlung der Daten aus den Bundesländern eine Einordnung schwierig. Für andere europäische Länder sind die Trends offenbar klarer. So will die „Tagesschau“ unter Berufung auf die europäische Daten-Plattform Euromomo erfahren haben, dass in Europa zwischen Mitte März und Mitte April rund 100.000 Menschen mehr als normal gestorben seien. Besonders hoch liege dieser Wert bei den über 65-Jährigen: In dieser Altersklasse gebe es eine Übersterblichkeit von rund 95.000 Fällen. Als Länder werden Spanien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Belgien und auch Schweden aufgeführt.

Gab es in Deutschland also doch den Fluch der guten Tat? Haben wir vergleichsweise wenige Tote, weil wir neben einem besseren Gesundheitssystem mit mehr Intensivbetten auch die richtigen politischen Maßnahmen ergriffen haben?

Das niedersächsische Gesundheitsministerium ist davon überzeugt: Man habe „schnell und effektiv gehandelt“, heißt es. „Dass das Infektionsgeschehen so moderat verläuft, haben wir der Tatsache zu verdanken, dass viele Bürgerinnen und Bürger ihre Kontakte drastisch eingeschränkt und sich an Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen gehalten haben.“

Wozu nun wieder die „Nature“-Meldung von Mittwoch passt, der zufolge der Lockdown samt Grenzschließungen, Kontaktsperren und Schulschließungen in elf europäischen Ländern bis Anfang Mai wohl etwa 3,1 Millionen Todesfälle verhindert habe. Forscher um Seth Flaxman vom Imperial College London sind ganz frisch zu diesen Zahlen gekommen. Aber natürlich wird es Widerspruch geben.