Braunschweig. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) stellt den besonderen Schutz älterer Menschen infrage. Der Pathologenverband nennt das „zynisch“.

Mich würde sehr interessieren, wie alt die bisher am Coronavirus in Deutschland Verstorbenen waren? Gibt es darüber genaue Zahlen? Gerade wegen der umstrittenen Äußerungen von unserem Bundestagspräsidenten Herrn Schäuble und dem Tübinger Oberbürgermeister Herrn Palmer wäre es doch sehr informativ.

Das fragt Christa K. aus Braunschweig

Zu dem Thema recherchierte
Dirk Breyvogel

Ihren vollständigen Namen möchte die Leserin nicht in der Zeitung lesen. Zu viele aufwühlende Diskussionen hätte sie schon mit Verwandten und Bekannten geführt, darüber, ob es richtig ist, diesen Corona-Shutdown so radikal durchzuführen. Im Gespräch mit unserer Zeitung sagt sie: „Ich bin kein Unmensch, aber auch die, die jetzt in Pflegeheimen eingesperrt werden, haben ein Recht auf ein Altern in Würde“, sagt Christa K.. Auch diese Menschen hätten es verdient, noch etwas „Nettes“ zu erleben. Und die Jungen müssten eine Zukunft haben. Was der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer gesagt habe, finde sie inhaltlich richtig, nur wie er es formuliert habe, sei „völlig daneben“ gewesen.

Der Grünen-Politiker Palmer, der sich nicht zum ersten Mal im Anecken und in radikalen Aussagen zu gefallen scheint, hatte in einem Fernseh-Interview seine Position zur Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen erklärt und gesagt: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Mittlerweile hat er sich dafür entschuldigt. Er würde „niemals Älteren und Kranken das Recht zu leben absprechen“, so Palmer. Doch der Satz ist nun in der Welt.

Das sind die Zahlen der Corona-Toten vom 29. April, Stand 0 Uhr.
Das sind die Zahlen der Corona-Toten vom 29. April, Stand 0 Uhr. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

WHO: 95 Prozent der Corona-Toten weltweit mit mindestens einer Vorerkrankung

Das Robert Koch-Institut (RKI) liefert für Deutschland die Corona-Fakten – und die werden täglich überarbeitet. Dabei werden die Daten auf der Grundlage der Meldungen ermittelt, die das RKI von den kommunalen Gesundheitsämtern erhalten. Mehr als 6000 Menschen (Stand 29. April) haben die Infektion nicht überlebt. Der Anteil der Verstorbenen an der Zahl aller Erkrankten liegt aktuell bei knapp unter 4 Prozent. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen in Deutschland wird auf 81 Jahre beziffert. Die meisten Todesfälle wurden in der Alterskohorte zwischen zwischen 80 und 89 Jahren registriert, das durchschnittliche Alter aller Infizierten liegt bei 50 Jahre. Zusammenfassend schreibt das RKI: „87 Prozent der Todesfälle und 19 Prozent aller Fälle sind 70 Jahre oder älter.“ In diesen Statistiken ist relativ wenig Bewegung. So lag das ermittelte Durchschnittsalter der Toten sowohl vor einer als auch vor vier Wochen bei 82 Jahren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärt (Stand der Datenlage vom 19. April), dass mehr als 95 Prozent der Corona-Toten weltweit über 60 Jahre alt waren, 95 Prozent hatten mindestens eine Vorerkrankung.

Nicht nur Palmer oder Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gehen die Einschränkungen teilweise zu weit, auch in unserer Region äußerten schon Menschen Zweifel. Menschen wie Jens Rannenberg und Hans-Peter Daub, die als Vorstände der Dachstiftung der Diakonie Kästorf, Verantwortung für Hilfsbedürftige tragen. Mitte April forderten sie in einem offenen Brief an Landesgesundheitsministerin Carola Reimann das Ende der strengen Isolationspolitik in Pflegeeinrichtungen. Sie formulierten Sätze wie diese: „Die Therapie darf nicht schlimmer sein als die Krankheit, der sie begegnet“ Oder: „Es ist auch keine Katastrophe, am Ende eines langen Lebens an einer Infektion zu sterben – unter der Voraussetzung guter palliativer Begleitung.“ Was Rannenberg und Daub sich erhoffen, darüber müsse in Deutschland zumindest geredet werden dürfen, sagt auch unsere Leserin. Das Ministerium prüfe Lockerungen, heißt es aus Hannover. Man erwarte jedoch von den Betreibern der Heime schlüssige Hygienekonzepte. Aktuell gilt das Besuchsverbot bei wenigen Ausnahmen. So darf medizinisches Personal, beispielsweise der Hausarzt, seinen Patienten besuchen. Außerdem erhalten unter Wahrung der Hygienevorgaben Verwandte Zutritt, sollten Angehörige im Sterben liegen.

Corona-“Hotspots“ in Pflegeheimen – RKI: Ausbrüche nur schwer kontrollierbar

Immer wieder weisen Virologen und Epidemiologen daraufhin, die Gruppen der Alten, Kranken und Pflegebedürftigen besonders zu schützen. Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen würden überdurchschnittlich oft tödlich verlaufen. Diese „Hotspots“ seien laut RKI äußerst schwer in den Griff zu bekommen. Das Beispiel eines Wolfsburger Altenheims für Demenzerkrankte belegt die Aussagen auf grausame Weise. Hier wurde das Virus offensichtlich von außen ins Heim getragen, 43 Bewohner sind bereits gestorben.

Für den Bundesverband Deutscher Pathologen ist die Debatte um die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen mit Blick auf das hohe Alter der Verstorbenen eine „zynische“. Aussagen wie die von Palmer seien nicht akzeptabel und falsch. „Natürlich haben viele Verstorbene multimorbide Krankheitsbilder. Die Ursache ist aber Corona. In den seltensten Fällen ist es anders“, sagte Geschäftsführerin Gisela Kempny gegenüber unserer Zeitung. Das deckt sich auch mit den Erkenntnissen des Rechtsmediziners Klaus Püschel, der zwischen dem 22. März und dem 11. April im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 65 Covid-19-Verstorbene obduzierte. Bei 61 Personen sei Corona als Todesursache festgestellt worden, sagte er dem Rechercheverbund der „Süddeutschen Zeitung, NDR und WDR.“

Die Arbeit der Pathologen sei in Corona-Zeiten daher von immenser Bedeutung, sagt Verbandssprecherin Kempny. Das gelte insbesondere für die Arbeit der Obduktionsmedizin, die nur noch einen Bruchteil der pathologischen Arbeit ausmache. „Der Pathologe ist unter den Medizinern eine Art Druide, ein Krankheitsprinzipien-Versteher“, erklärt sie. Von den Toten zu lernen, heiße im Umkehrschluss, den Lebenden noch helfen zu können. Der Verband fordert daher die Krankenkassen auf, die Obduktionsquote zu senken. Krankenhäuser würden erst ab einer Fallzahl von 12,5 Obduktionen finanziell profitieren, sagt Kempny. In normalen Zeiten liege der Prozentsatz an obduzierten Personen bei maximal vier Prozent. „Diese Vereinbarung muss geändert werden und darf bei Corona-Patienten nicht gelten.“