Braunschweig. Christoph Meyns, Landesbischof der evangelischen Landeskirche Braunschweig, schreibt zum Osterfest einen Gastkommentar.

Dieses Osterfest werden wir so schnell nicht vergessen. Die Coronavirus-Pandemie hat das öffentliche Leben innerhalb kürzester Zeit zum Erliegen gebracht. Die Welt steht still. Etwas Vergleichbares hat es das letzte Mal vor hundert Jahren während der Influenza-Welle am Ende des Ersten Weltkrieges gegeben. Es ist ein Ereignis von historischer Tragweite.

Alle sind wir betroffen, aber jeder von uns in unterschiedlicher Form. Einige haben sich mit dem Virus angesteckt, manche davon mit lebensbedrohlichen Folgen. Über 170 Menschen sind bis jetzt in Niedersachsen daran verstorben. Für die meisten ist es indes nicht die Infektionswelle selbst, die ihnen zu schaffen macht, sondern ihre Auswirkungen: die Einschränkung von Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten, der eingeengte Bewegungsraum, die erzwungene enge Gemeinschaft in der Familie oder umgekehrt die verordnete Einsamkeit. Die einen leiden unter Unterbeschäftigung, die anderen sind durch die aktuelle Situation beruflich enorm gefordert. Das betrifft vor allem Ärzte, Kranken- und Altenpflegekräfte, den Lebensmitteleinzelhandel, Politik, Verwaltung und Polizei sowie die Führungsebenen von Institutionen.

Lang geplante Reisen und Familienfeiern mussten abgesagt werden. Wer in diesen Tagen einen Angehörigen verloren hat, konnte weder von ihm im Krankenhaus Abschied nehmen noch zu einer Trauerfeier einladen. Er musste im Freien am offenen Grab im engsten Familienkreis Abschied nehmen. Darüber hinaus stellt die Situation Unternehmen, Einzelhändler und Gewerbetreibende vor immense Probleme. Viele Menschen in unserer Region sind in der Folge von Kurzarbeit betroffen. Das alles löst Ängste und Unsicherheit aus.

Was uns trotz aller Unterschiede miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass das Coronavirus Sars-CoV-2 unseren Alltag mit Wucht unterbrochen hat. Uns trifft gemeinsam, was sonst nur Einzelne etwa aufgrund einer schweren Erkrankung oder eines Unfalls erleben. Innerhalb weniger Wochen hat an Bedeutung verloren, was bisher das Leben ausfüllte. Der gewohnte Tagesablauf ist außer Kraft gesetzt und damit vieles von dem, was uns Halt gibt.

Hinzu kommt, dass die Pandemie wie jede Krise demaskierend wirkt. Unter Druck offenbart sich der Charakter eines Menschen deutlicher als im Alltag. Die Solidarität ist überwiegend groß. Zugleich machen wir manch ernüchternde Erfahrung mit unseren Zeitgenossen. Die Schätze einer

Dr. Christoph Meyns, Landesbischof der Evang. Landeskirche Braunschweig. Christoph Meyns, Foto: Privat
Dr. Christoph Meyns, Landesbischof der Evang. Landeskirche Braunschweig. Christoph Meyns, Foto: Privat © Klaus G. Kohn, BS | Klaus G. Kohn

Gesellschaft kommen zum Vorschein. Die Krise enthüllt aber zugleich gnadenlos alle Schwachpunkte.

Darüber hinaus erleben wir, wie tiefgreifend eine von Angst bestimmte Dynamik das Zusammenleben beeinflussen kann. Fühlen sich Menschen bedroht, wird ein tief verwurzeltes Notfallprogramm gestartet. Es steuert unser Verhalten mit dem Ziel, das Überleben mit allen Mitteln zu sichern. Es hebelt unser rationales, erwachsenes Ich aus. Wir horten haltbare Nahrungsmittel und Toilettenpapier, reagieren mit Hyperaktivität oder ziehen uns gelähmt zurück.

Krisen bergen jedoch neben allen Problemen auch die Chance, wichtige Einsichten über sich und das Leben zu gewinnen. Das kulturelle Gewebe aus Institutionen, Kommunikationsformen, Übereinkünften und Werten wird derzeit arg strapaziert. Wo das geschieht, werden unter den Lebensmustern verborgene Zusammenhänge sichtbar, die wie Kettfäden die Wirklichkeit durchziehen und ihnen Struktur verleihen.

In diesem Zusammenhang treten die tiefgreifenden Spannungen hervor, die die Grundsituation des Menschen bestimmen. So erleben wir im Alltag die Natur als lebensspendende Kraft. Derzeit zeigt sie uns dagegen ihre dunkle, todbringende Seite. Diese Gleichzeitigkeit von Leben und Tod war schon immer Teil der Welterfahrung. Aber wir empfinden sie in diesen Tagen hautnah. Hinzu kommt die Spannung zwischen den Rechten des Einzelnen und dem Gemeinwohl. Wir erleben, wie individuelle Freiheiten in einem Umfang massiv eingeschränkt sind zugunsten der Verpflichtung des Staates, Leben zu schützen, den wir uns vor wenigen Monaten noch nicht hätten träumen lassen. Darüber hinaus zeigt sich deutlicher als sonst die Spannung zwischen Macht und Ohnmacht. Wir Menschen sind in der Lage, vieles zu organisieren, zu planen und zu gestalten. Jetzt wird klar: Je komplexer die Handlungszusammenhänge, die wir aufbauen, desto fragiler sind sie.

Vor diesem Hintergrund unserer gegenwärtigen Situation stellt sich die Frage, wie wir die Virus-Pandemie, seine Auswirkungen und die dabei zutage tretenden Spannungen des Lebens deuten sollen. Wie ergibt das alles einen Sinn? Eine mögliche Reaktion besteht darin, Schuldige zu suchen, um damit die eigene Angst durch die Verschiebung auf einen Sündenbock zu verringern. Das ist die schlechteste aller Varianten. Daneben neigen Menschen dazu, einer neuen Situation gewohnte Deutungsrahmen überzustülpen. Wer ökologisch gesinnt ist, sieht in der Pandemie die Rache der Natur als Reaktion auf ihre Ausbeutung. Nationalisten betrachten die Durchlässigkeit nationaler Grenzen als wesentliche Ursache. Wer sich in der Bibel auskennt, ist schnell bei Geschichten wie den Zehn Plagen in Ägypten, dem Buch Hiob oder den Reden Jesu über die Endzeit. Er fragt sich, ob man die Pandemie als Zeichen für das nahe Ende der Welt deuten soll, als Strafe Gottes oder als Prüfung. Mancher denkt darüber nach, welchen Sinn ein Virus in der Schöpfung haben soll.

Das Osterfest lädt dazu ein, die Corona-Krise aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten. Eigentlich hätte mit der Hinrichtung Jesu von Nazareth am Kreuz alles vorbei sein müssen. Seine Botschaft von einem Gott, der den Menschen nahe ist und sie trotz all ihrer dunklen Seiten zutiefst liebt, wurde mit Gewalt unterdrückt. Seine Jünger waren enttäuscht nach Galiläa zurückgekehrt. Sie planten, ihr altes Leben als Fischer, Bauern und Handwerker wieder aufzunehmen. Was blieb, waren Erinnerungen an eine kurze, intensive Zeit voller neuer Erfahrungen und Aufbrüche.

Wehmütig dachten sie zurück an das befreiende Aufatmen, das sie erlebten, wenn Jesus in Gleichnissen und Bildern von Gott als dem letzten Geheimnis der Wirklichkeit erzählte. Es blieb das Staunen über seinen Mut, sich trotz sozialer Grenzen und gegen alle Autoritäten Kranken, Zöllnern, Sündern, Prostituierten und Fremden zuzuwenden. Tief steckte ihnen der Schock darüber in den Knochen, wie er durch Verrat aus den eigenen Reihen in die Hände seiner Häscher geriet. Nicht einmal Petrus war in der Lage gewesen, den Anforderungen der Stunde standzuhalten. Er verleugnete seinen Herrn, als er selbst drohte, in Gefahr zu geraten. Was auch immer die Jüngerinnen und Jünger damals bewegte, es hätte spätestens nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten müssen.

Aber es kam auf eine Weise anders, die den Lauf der Weltgeschichte tiefgreifend verändert hat. Jesus erschien seinen Jüngern nach seinem Tod als Auferstandener. Sie erlebten ihn nicht als Scheintoten, Zombie oder Gespenst, sondern als einen von Gott durch den Tod hindurch in ein neues, ewiges Leben verwandelten Menschen. Für eine kleine Zeit war er ihnen in dieser Weise nahe. Aber auch danach war da nicht nichts. Ein neuer Geist der Hoffnung ergriff seine Jünger. Sie begannen, andern von ihren Erfahrungen zu erzählen und sie zu ermutigen, im Geiste dieser Zuversicht aus der Liebe Jesu heraus zu leben. Von ihrer Botschaft ging eine befreiende, frohmachende Kraft aus, die Menschen weit über den ursprünglichen Kreis seiner Anhänger hinaus ergriff.

Seit 2000 Jahren lebt dieser Geist unter uns und breitet sich aus. Er geht nicht an den Dunkelheiten dieser Welt vorbei, sondern durch sie hindurch. Es ist eine Kraft, die uns gegen die sichtbare Macht von Tod und Gewalt gegenanglauben lässt an die Macht des Lebens und der Liebe.

Von da aus betrachtet wäre es unangemessen, die Corona-Pandemie samt ihren Auswirkungen in einen Deutungsrahmen einordnen zu wollen. Sie ergibt keinen Sinn, sondern ist Ausdruck der rätselhaften Ambivalenz der Welt. Aus ihr heraus lässt sich nichts über Sinn und Wahrheit des Lebens ableiten. Diese Rätselhaftigkeit gilt es auszuhalten anstatt sie einordnen zu wollen, mithilfe der Suche nach Schuldigen, durch biologische und politische Zuschreibungen oder den Hinweis auf den angeblichen Willen Gottes.

Wir Christen glauben, dass sich das Heil der Welt in seinem Gegenteil zeigt, tief verborgen im Kreuz Jesu Christi. Von da ausgehend sind wir dazu aufgerufen, darauf zu vertrauen, dass die Liebe Gottes, seine Güte und sein Segen inmitten der gegenwärtigen Krise wirken, auch wenn wir davon nichts merken. Daran sind wir aufgerufen festzuhalten: dass wir von Gott zutiefst geliebt und gehalten sind und dass es deshalb Sinn macht, sich in jeder Lebenslage von Liebe und Mitmenschlichkeit leiten zu lassen.

Der österreichische Künstler Adi Holzer hat diese Haltung in einem Glasfenster für die Trinitatis-Kirche in Schapen zum Ausdruck gebracht. Der auf dieser Seite abgedruckte Ausschnitt zeigt den auferstandenen Christus umgeben von hellem Licht und darunter der handschriftliche Kommentar: „Nichts kann uns retten – außer – : die Liebe“. Damit ist die Osterbotschaft in schlichten Worten auf den Punkt gebracht. In allem, was wir erleben, in Licht und Dunkel, in Freud und Leid, in Gesundheit und Krankheit, im Alltag und in Ausnahmesituationen wie dieser sind wir dazu aufgerufen, uns der Liebe Gottes anzuvertrauen und aus ihr heraus zu leben.

Manche der Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig stehen, werden uns noch weiter erhalten bleiben. Es gilt, ältere und kranke Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg vor einer Ansteckung zu schützen. Zudem werden uns die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie längerfristig beschäftigen.

Für das alles braucht es eine Zuversicht, die sich nicht aus den jeweiligen Lebensumständen speist, sondern jenseits davon entspringt. In der Osterbotschaft ist uns eine Quelle geschenkt worden, aus der wir schöpfen können. Sie hat Menschen in den letzten 2000 Jahren durch schwierigste Lebenssituationen hindurch geleitet. Die Hoffnung, die daraus wächst, wird auch uns zugutekommen und uns durch die gegenwärtige Krise tragen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Osterfest.