„Die Erschütterung der moralischen Integrität ist ein klassisches Werkzeug antidemokratischer Agitation – der Geschichtslehrer Höcke weiß sowas.“

„Die Erfahrungen sind wie die Samenkörner, aus denen die Klugheit emporwächst.“Konrad Adenauer

Das war keine Wahl, es war ein Erdbeben. Und wie das bei Erdbeben so ist: Danach liegt vieles in Scherben. Der FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich ist vorübergehend Ministerpräsident des Bundeslandes Thüringen geworden, als Vertreter einer 5,0-Prozent-Partei ins Amt gekommen mit den Stimmen der FDP, der CDU – und der AfD. Das ist die Partei, mit der die beiden bürgerlichen, im AfD-Sprech „Altparteien“ nie, nie zusammenarbeiten wollten. Das ist die AfD, deren Thüringer Landesvorsitzender Björn Höcke heißt, prominentester Vertreter der extremen Rechten innerhalb der AfD.

Und ganz Deutschland fragt sich: Wissen FDP und CDU noch, was sie tun? Haben die CDU-Vorsitzender Annegret Kramp-Karrenbauer und FDP-Chef Christian Lindner den Verstand oder nur den Kontakt zu einem wichtigen Landesverband verloren? Inzwischen wissen wir, dass beide diesen Coup nicht wollten. Lindner hatte wenigstens noch die Einsicht, dass er nach diesem Debakel dennoch die Vertrauensfrage stellen musste.

Dieses Erdbeben soll durch einen spontanen Akt ausgelöst worden sein. Sigmar Gabriel, der diese Woche bei Braunschweigs Stiftung einen außerordentlich klugen Vortrag über Deutschland und Europa hielt, sagt: Wer das glaubt, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Es fällt tatsächlich schwer, anzunehmen, dass die bei der Landtagswahl fürchterlich vermöbelte Thüringer CDU und die so eben in den Landtag eingezogene FDP nicht gemerkt haben, worauf sie da zusteuern: eine Abstimmungskoalition mit der AfD. Andererseits sollte niemand vom Lämmerschwanz eine klare Richtungsanzeige erwarten. Der CDU-Vorsitzende Mike Mohring hatte gerade noch mit einer Tolerierung einer Landesregierung unter Führung der Linkspartei gespielt.

Sollte die Sicht der Thüringer Christ- und Freidemokraten tatsächlich so beschränkt gewesen sein, dass sie die Falle nicht erkannten, die ihnen Höckes AfD stellte? Der AfD-Landesvorsitzende hatte auf die eigene Kandidatur verzichtet. Und der parteilose AfD-Kandidat Christoph Kindervater erweckte, wenig überraschend, nach dem dritten Wahlgang keineswegs den Eindruck eines traurigen Unterlegenen. Da war ein Plan aufgegangen. Die AfD war Königsmacher, während FDP und CDU ja nach Geschmack entweder als Idioten oder von Machtgier zerfressene Moralkrüppel gesehen werden konnten. Die Erschütterung der moralischen Integrität ist ein klassisches Werkzeug antidemokratischer Agitation – der Geschichtslehrer Höcke weiß sowas.

Nach dem Desaster soll Kramp-Karrenbauer hinter verschlossenen Türen unter schweren Beschuss ihrer Thüringer Parteifreunde geraten sein, wegen „Kontaktverboten“ zur Linkspartei wie zur AfD, wegen des schlechten Bildes der Berliner Koalition. Damit hätten es sich die Thüringer deutlich zu einfach gemacht. Der Absturz der ehemaligen Regierungspartei, die mit Christine Lieberknecht bis 2014 die Ministerpräsidentin stellte, hat viel mit eigener Schwäche zu tun.

Die Thüringer haben sich bei ihren Bundesparteien in jedem Fall gründlich revanchiert. Die Glaubwürdigkeit der CDU und der FDP ist im Keller. Welcher Wähler soll diesen Parteien irgendwo im Bundesgebiet noch glauben, dass sie sich mit der äußersten Rechten nicht verbünden werden? Wer soll ihnen überhaupt noch etwas glauben, wenn sie selbst bei dieser extrem zugespitzten Frage Nein sagen und Ja handeln? Es ist ja nicht so, dass FDP und CDU in den letzten Jahren durch klare Kontur, durch wiedererkennbare politische Programmatik aufgefallen wären.

Die Aufregung um die Thüringer Ministerpräsidentenwahl wird unterdessen nicht von allen geteilt. Demokratie ist so, sagt mancher. Die Bürger geben ihre Stimme nicht ab, um deren Wirkung an Koalitionsblockaden zerschellen zu sehen. Der Wählerauftrag heißt Regieren, nicht Negieren. Tatsache ist: Die zerklüftete politische Landschaft legt die Grenzen der reinen Lehre bloß. Der AfD- und der Linkspartei-Boykott führen in Thüringen zur Blockade.

Wer allerdings glaubt, die Antwort liege in wertneutralem „Pragmatismus“, gerät seinerseits an die Leitplanken. Man kann sich kaum vorstellen, dass Parteien, die dem Geist des Grundgesetzes und dem Erbe eines Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt oder Konrad Adenauer verpflichtet sind, ohne Totalschaden an der eigenen Identität mit Linkspartei oder AfD zusammenarbeiten können. Und wo wären die inhaltlichen Ansätze? Die Meinungsforscher von Dimap haben nach der Thüringen-Wahl die wahlentscheidenden Themen aufgelistet. 80 Prozent sorgten sich um eine Zunahme politisch motivierter Anschläge – wohl kaum ein Feld, auf dem die Hetzer und Ausgrenzer der Höcke-AfD attraktive Bündnispartner wären. 31 Prozent sahen Gefahr für ihren Lebensstandard. Wie soll hier eine ideologische Linkspartei helfen, die ganz sicher kein investitionsfreundliches Klima schafft?

Die ausgeprägte Furcht vor der Klimakatastrophe, übergroßem Einfluss des Islam und vor Kriminalität zeugt von tiefer Verunsicherung. Das Mandat der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet alle Parteien. Wie aber soll es in der gegenwärtigen Konstellation gelingen, eine handlungsfähige Regierung zu bilden, die den Wählern Sicherheit vermitteln und Lösungen anbieten könnte? Es wird nicht gelingen.

Neuwahlen sind nötig. Sie dürfen nicht an der Angst von Parteien scheitern, die mit der Strafe für ihre Leichtfertigkeit oder Inkompetenz rechnen.