Braunschweig. In Braunschweig hilft eine Software, die Bilder von Schlaganfallpatienten auszuwerten.

Um 11 Uhr kommt Martha Wagner (Name von der Redaktion geändert) über den Rettungsdienst in die Notaufnahme des Braunschweiger Klinikums. Sie ist 86 Jahre alt, eine rüstige Dame, die in einer eigenen Wohnung lebt und sich noch ohne Probleme selbst versorgt. Doch nun kann sie nicht mehr richtig sprechen, sie verzieht das Gesicht einseitig, der Arm auf der linken Seite hängt schlaff herab, auch das Bein kann sie nicht bewegen, das Schlucken fällt ihr schwer. Den Ärzten im Notdienst ist sofort klar: Verdacht auf Schlaganfall. Deswegen muss es schnell gehen.

„Je früher Patienten die richtige Behandlung bekommen, desto größer sind ihre Chancen, bleibende Schäden zu vermeiden“, sagt Mazen Abu-Mugheisib, Leitender Oberarzt der Neurologie am Klinikum. Doch bei Martha Wagner ist unklar, wie viele Stunden seit dem möglichen Schlaganfall vergangen sind. Die Ärzte machen eine CT-Aufnahme des Gehirns. Hatte Martha Wagner tatsächlich einen Schlaganfall? Wenn ja: Wie ist sein Ausmaß? Kann noch Gewebe gerettet werden? Der erste Blick zeigt: Eine innere Blutung ist nicht zu erkennen, auch das hätte ähnliche Symptome auslösen können. Sie senden die Bilder an einen Rechner.

Software wertet Bilder aus

Um im Wettlauf gegen die Zeit noch schneller und besser reagieren zu können, arbeiten Mediziner am Klinikum seit vorigem Jahr mit der neuen Software „Brainomix“, gestützt durch künstliche Intelligenz (KI). Diese wurde mit einer riesigen Datenmenge gefüttert, mit Hirnscans von Schlaganfall-Patienten, so dass das Programm die Umrisse der Blutung und die betroffenen Hirnareale exakt erkennt. Auch die Aufnahmen von Martha Wagner wertet das System rasend schnell aus. Ein Ärzteteam analysiert die Ergebnisse, die auf großen Monitoren angezeigt werden. Darauf sind graue Hirnscans zu sehen mit farbig markierten Arealen. Diese zeigen an, dass Teile ihres Gehirns nicht gut durchblutet sind.

„Der Rechner kommt zum selben Ergebnis: Schlaganfall“, sagt Professor Philipp Wiggermann, Chefarzt des Instituts für Röntgendiagnostik und Nuklearmedizin. Doch was ist die Ursache? Auch da kommt das System zu einer schnellen Diagnose: Auf einem Bild ist deutlich zu erkennen, dass ein Gefäß verstopft ist. Gehirngewebe wird nicht mehr durchblutet, erhält also keinen Sauerstoff mehr, Zellen sterben ab. Je mehr Zeit vergeht, je länger Gehirngewebe ohne Sauerstoff bleibt, desto gravierender können die Folgen des Schlaganfalls sein. Schnell haben die Ärzte auf Basis der Auswertung entschieden: Sie müssen das Blutgerinnsel mit einem Katheter entfernen.

Tatsächlich wird künstliche Intelligenz in der Medizin bislang vor allem dort eingesetzt, wo es um die Analyse von Bildern geht, seien es Röntgenbilder, Fotos oder Videosequenzen. KI-Systeme können Ärzte bei der Auswertung unterstützen. „Sie ersetzen uns nicht, sondern liefern eine verlässliche Zweitmeinung“, sagt Wiggermann. Große Datenmengen und lernende Maschinen erleichtern die Diagnose, sie liefern schnellere Ergebnisse und begünstigen eine zielgerichtete Therapie. Die Anwendungsgebiete sind vielfältig: Entsprechende Software wird inzwischen nicht nur in der Radiologie erfolgreich eingesetzt, sondern auch in der Augenheilkunde oder bei der Erkennung von Hautkrebs.

Klinikalltag wird sich verändern

Eine Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers aus dem Jahr 2017 kommt denn auch zu dem Ergebnis, dass künstliche Intelligenz den Klinikalltag in Zukunft stark verändern wird: Routineabläufe im Gesundheitswesen könnten künftig an lernende Computersysteme delegiert werden. Von Mitarbeitern werde dagegen vor allem die Fähigkeiten gefragt sein, die menschliche Intelligenz erfordern: Probleme lösen, Menschen führen, Innovationen schaffen.

Die Autoren sehen auch einen wirtschaftlichen Nutzen: So hätten klinische Studien gezeigt, dass sich bereits aus Gesundheitsdaten von Zweijährigen ablesen lässt, wie hoch ihr Risiko für Adipositas, also Fettleibigkeit, ist. „Durch gezielte Präventionsmaßnahmen ließen sich europaweit etwa 90 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren einsparen“, heißt es. KI ermögliche auch die Früherkennung von Brustkrebs und eine passgenaue Therapie. So könne künstliche Intelligenz voraussagen, wie ein Patient voraussichtlich auf Chemotherapie reagiert. „Das Einsparpotenzial in diesem Bereich wird für die kommenden zehn Jahre auf 74 Milliarden Euro geschätzt.“

Doch noch sind Fragen offen: KI setzt voraus, dass große Datenmengen gespeichert und ausgetauscht werden. Für Europa gilt die Datenschutz-Grundverordnung, doch andere Länder wie zum Beispiel China räumen Betroffenen weniger Rechte ein. Wie lässt sich Daten-Missbrauch verhindern? Und es gibt ethische Bedenken: Was fangen wir zu Beispiel mit dem Wissen um eine mögliche genetische Vorbelastung an? Wo liegen die Grenzen bei der Anwendung von künstlicher Intelligenz?

In Braunschweig sollen die Erfolge der neuen Software „Brainomix“ in einem langfristig angelegten Projekt festgehalten und ausgewertet werden. Bislang seien die Erfahrungen durchweg positiv, betont Professor Wiggermann. Es habe sich gezeigt, dass die Ärzte im Klinikum bei etwa zehn bis 15 Prozent der Fälle schnellere Befunde stellen können. „Mit der neuen Software werden unsere Befunde deutlich valider und auch besser kommunizierbar an unsere klinischen Partner.“ Das Klinikum Braunschweig arbeitet mit den Kliniken in Peine, Soltau, Wolfenbüttel und Celle zusammen. Werden Patienten in diesen Häusern mit dem Verdacht auf Schlaganfall eingeliefert, bekommen die Experten in Braunschweig die Daten und Bilder zugeschickt und können eine schnelle Einschätzung abgeben. Als nächsten Schritt testen die Ärzte den Einsatz der Software bei der Behandlung von Lungen-, Herz- und Prostataerkrankungen. Matha Wagner jedenfalls konnte dank „Brainomix“ schnell geholfen werden. Noch nicht einmal 15 Minuten dauerte es, bis die richtige Diagnose bei ihr feststand und klar war, wie sie am besten behandelt werden musste. Wäre mehr Zeit verstrichen, hätten möglicherweise schwere Behinderungen gedroht. „Jetzt kann sie wenige Tage nach der Operation schon wieder eigenständig schlucken, essen, ihren Arm bewegen“, sagt Oberarzt Abu-Mugheisib. Und bald nach einer Reha wohl auch wieder in den eigenen vier Wänden leben.