Hannover. Der Kriminologe übt deutliche Kritik an der katholischen Kirche. Sie habe den Missbrauchsskandal nur ungenügend aufgearbeitet. Das Interview.

Der hannoversche Kriminologe Christian Pfeiffer erhebt schwere Vorwürfe gegen die katholische Kirche. Die große Untersuchung zum massenhaften sexuellen Missbrauch habe den Skandal nicht umfassend und transparent genug aufgearbeitet, kritisiert Pfeiffer, der die Studie ursprünglich leiten sollte, im Interview. Er fordert drastische Konsequenzen vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx.

Erste Zahlen aus Bayern legen nahe, dass die Fälle aus der Missbrauchsstudie, die an die Staatsanwaltschaften weitergeleitet wurden, keine strafrechtliche Konsequenzen haben. Überrascht Sie das?
Ganz und gar nicht. Es war doch von vornherein klar, dass die Ermittlungen fast durchweg eingestellt werden müssen. Die Staatsanwaltschaften hatten schon wegen der Verjährungsfristen kaum eine Chance, noch irgendwelche dieser alten Fälle zur Anklage zu bringen. Für die Kirche war die der Studie folgende Ankündigung von Marx, wonach alles an die Staatsanwaltschaften gegeben wird, kein Risiko. Das war eine große Geste, die die Menschen erstmal beruhigen sollte. Das war alles nur Show – mehr nicht. Das Forschungsprojekt war für Kardinal Marx die Chance, vor großem Fernsehpublikum seine Scham zu artikulieren. Dabei geht es nicht um Scham, es geht um Schuld.

Was ist denn aus Ihrer Sicht das Problem an der Studie?
Erstens dass die Daten aus den kirchlichen Akten von der Kirche selbst erhoben wurden und nicht von unabhängigen Wissenschaftlern. Und zweitens, dass dadurch die Frage nicht geklärt werden konnte, wie die einzelnen Bistümer mit Tätern und Opfern umgegangen sind. Als wir 2011 mit der Studie beauftragt wurden, war uns zugesichert worden, dass frühere Richter und Staatsanwälte für jedes Bistum getrennt die Daten aus den Akten der Kirche erheben dürfen.

Wir wären in der Lage gewesen, für jedes Bistum darzustellen, ob Priester, die Missbrauch begangen hatten, in der alten oder einer neuen Gemeinde weiter beschäftigt wurden und so Rückfalltäter werden konnten. Wir hätten ermittelt, ob man in den einzelnen Diözesen sich gegenüber den Opfern vorbildlich verhalten hat oder verletzend und abweisend. Und wir hätten pro Bistum untersucht, wie viele Akten geschreddert wurden.

Die Kollegen, die das Projekt dann als MHG-Studie durchführten, konnten das alles nicht klären, weil sie einen fertigen Datensatz von der Kirche bekamen, der keine Unterscheidungen nach Bistümern erlaubt hat. Dadurch konnte kein Bischof dafür verantwortlich gemacht werden, dass aus schuldigen und weiter beschäftigten Priestern Rückfalltäter wurden und dass Opfer teilweise miserabel behandelt wurden.

Und warum scheiterte Ihr Projekt?
Kardinal Marx hat mit all seiner Macht dafür gesorgt, dass wir nicht forschen konnten. Die Bischofskonferenz hatte uns damals im Vertrag Forschungsfreiheit garantiert. Aber im Auftrag von Marx hat dann eine Münchner Anwaltskanzlei für die Bischofskonferenz einen neuen Vertragsentwurf erarbeitet, der Zensur bedeutet hätte. Diesen Machtanspruch der Kirche konnten wir nicht akzeptieren. Deswegen war als erstes sein Bistum München-Freising aus der Zusammenarbeit ausgestiegen. Danach folgte Regensburg. Als wir den Zensur-Vertrag endgültig nicht unterschreiben wollten, beendete die Bischofskonferenz das Projekt.

Aber bereits vorher hatte Kardinal Marx die erwähnte Anwaltskanzlei damit beauftragt, die Missbrauchsakten seiner Diözese zu analysieren. Auf diese Weise wurde verhindert, dass unser Forschungsprojekt klären konnte, wie der damalige Papst Benedikt früher als Erzbischof von München und Freising mit Tätern und Opfern umgegangen war.

Also geben Sie Kardinal Marx die Schuld?
Ja. Der Widerstand aus München hat unser Projekt zum Scheitern gebracht. Marx' oberstes Ziel war es offenkundig, Papst Benedikt, sich selber und alle anderen Mitglieder der Bischofskonferenz und ihre Generalvikare davor zu schützen, dass unabhängige Wissenschaftler aufklären, wer dafür verantwortlich ist, dass viele Rückfalltaten durch die Weiterbeschäftigung von Missbrauchstätern entstanden sind – und mit welcher Arroganz und Kälte man teilweise mit den Opfern umgegangen ist. Marx und der ihm zur Seite stehende Bischof Ackermann haben so über zehn Jahre hinweg systematisch Transparenz und eine Kultur der Verantwortung verhindert. Dabei hatte Marx doch beim Missbrauchsgipfel in Rom in einer eindrucksvollen Rede radikale Transparenz zum Missbrauchsgeschehen eingefordert. Für die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Kirche wäre es das Beste, Marx und Ackermann würden von ihren Funktionen als Sprecher der Bischofskonferenz, beziehungsweise als Missbrauchsbeauftragter, zurücktreten und so einen echten Neuanfang ermöglichen.