„In unserem Land grassiert eine Krankheit,deren Erreger gute Absichten, Umständlichkeit und Konfliktscheu sind.“

„Wirklichkeit ist unendliches Wirken, unaufhörliche Bewegung.“
Oswald Spengler

Die Gebläsehalle in Ilsede ist nicht nur ein geschütztes Baudenkmal. Sie ist ein Symbol des Wandels in unserer Region. Das ganze Land kann aus ihrer Geschichte lernen.

Diese Geschichte hat mit Unternehmermut zu tun, mit dem Wachsen und Schrumpfen einer Industrie – und mit der Pflicht, nicht hinzunehmen, was gestaltet werden kann. Die IHK Braunschweig war gut beraten, ihren Neujahrsempfang gerade hier abzuhalten.

In Ilsede steht die Wiege der Salzgitter AG. Es gehörte Mut dazu, nahe der Erzlager, aber weitab der Steinkohlereviere eine Hütte zu errichten. Das Wagnis gelang; bis zu 1800 Menschen fanden über Generationen Arbeit. Die Veränderung der Stahlindustrie setzte dem Erfolg ein Ende. 1995 stand Ilsede, 137 Jahre nach der Gründung der „Actien-Gesellschaft Ilseder Hütte“, vor den Überresten, vor riesigen Brachflächen, belastet und scheinbar nicht mehr zu gebrauchen. Die Kommunen Ilsede und Lahstedt machten daraus mit Fleiß, Entschlossenheit und, wie Landrat Franz Einhaus berichtet, nicht zuletzt Geld der Europäischen Union ein Biotop für Leute, die etwas aufbauen wollen. Architekten, IT-Leute, Wirtschaftsförderer arbeiten in einem attraktiven Gewerbepark. Aus der Gebläsehalle selbst ist ein faszinierender Ort für Ereignisse aller Art geworden.

Die Entwicklung des Standortes stellt die Verantwortlichen bis heute vor schwierige Aufgaben. Aber nur dank ihres Elans ist aus dem Problemfall wieder ein Hoffnungsträger geworden. Man soll sich deshalb von einem leider gründlich misslungenen Imagefilm nicht täuschen lassen: Der Kreis Peine bietet mehr als Schützenfest und Pferdeweide. Mit Blick auf Ilsede sollten wir uns an ihm ein Beispiel nehmen, im Sinne der Volksweisheit „Nicht quatschen, nicht jammern, sondern machen.“

In unserem Land grassiert eine Krankheit, deren Erreger gute Absichten, Umständlichkeit und Konfliktscheu sind. Diese Krankheit führt zur Erstarrung eines Gemeinwesens in perfektionistischen Vorschriften, endloser Entscheidungsfindung, Klagefluten und Verantwortungsdiffusion. Letztere macht es möglich, dass sich alle gemeinsam in Klagegesängen über das Scheitern von Flughäfen, Industrie-Ansiedlungen, Autobahnerweiterungen oder Windanlagen ergehen. Sie merken gar nicht mehr, dass sie zu eben diesem Scheitern beigetragen haben.

Nehmen wir die Energiewende. Kann es wahr sein, dass wir einerseits auf stromfressende Elektromobilität und Digitalisierung setzen, zeitgleich aus guten Gründen auf Atom und Kohle verzichten – und dass wir dann zusehen, wie Planungszeiträume pharaonischen Ausmaßes und eine absurde Übertreibung individueller Klagerechte den Ausbau der Windenergie-Nutzung zum Stillstand bringen? Zur Krönung des Unsinns will dann ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister der Windenergie zusätzliche Fesseln anlegen – um sie „bürgerverträglicher“ zu machen. IHK-Präsident Streiff hat mit seiner Kritik absolut recht.

Wenigstens in unser regionales Wind-Desaster kommt nun endlich Bewegung. Die nachgebesserte Planung des Regionalverbandes wird hoffentlich zur Realisierung der seit Jahren aufgestauten Investitionen führen. Streiff hatte in diesem Zusammenhang den Regionalverband und das aufsichtsführende Landesamt für regionale Landesentwicklung gleichermaßen gemahnt. Der Fairness halber sei gesagt, dass eine Genehmigungsbehörde nur solche Pläne freigeben kann, die nicht vom ersten Windstoß der Klage einer Anwohnerinitiative vom Tisch gefegt werden.

Das Problem liegt hier wie bei vielen anderen Havarien der jüngeren Zeit viel tiefer. Von Streiff über Sigmar Gabriel und den IHK-Festredner Bernd Althusmann sind alle einig: Wir haben aus den Augen verloren, dass unser Land nicht vom Verhindern lebt, sondern vom Zustandebringen. Es ist viel zu leicht geworden, selbst existenziell bedeutende Projekte zu fällen. Vom Anliegerrecht bis zum Feldhamster-Habitat, vom Brand- bis zum Gewässerschutz wachsen die Barrieren in kafkaeske Dimensionen. Wer sie überwinden will, braucht die Ausdauer unserer Langstreckenläuferin Fate Tola, die Sprungkraft von Axel Milkaus Turnierrössern, die Frustrationstoleranz einer liebenden Mutter – und sehr, sehr viel Geld.

In der Ilseder Gebläsehalle wie bei anderen Neujahrsreden, bei Verbänden und in Parlamenten wird das Problem mit guten Argumenten diskutiert. Nur: Wo bleibt das Beschleunigungsgesetz, das Streiff fordert und das seit Jahren bundesweit durch Redemanuskripte geistert? Wann endlich raffen sich gestaltungsbereite Kräfte auf und setzen um, was doch offensichtlich nötig ist? Beschleunigung ist uns nicht fremd: Die Verkehrsprojekte nach der Wiedervereinigung entstanden in gestrafften Verfahren. Diese Bahnstrecken und Autobahnen wären sonst heute noch nicht fertig.

Ja, es gehört Mut dazu, sich vor die Bürgerinnen und Bürger zu stellen und zu sagen: Gemeinwohl geht vor Eigennutz. Es bedeutet eine Zumutung für uns alle. Wir haben uns daran gewöhnt, selbst der kleinsten Beeinträchtigung mit dem Offensivgeist eines gereizten Bullen zu begegnen. Aber wir haben allen Grund, genau diese Zumutung zu fordern.

Wirtschaftlicher Umbruch, wie er die Ilseder Hütte traf, reimt sich heute auf Digitalisierung und globalen Wettbewerb. Wir werden ihn nur erfolgreich gestalten, wenn wir die Erstarrung aufbrechen. Da hat jeder seine Aufgabe. In der Politik vor allem, aber auch in den Behörden, in den Unternehmen und jeder in seinem ganz privaten Leben.