Braunschweig. Ex-Arbeitgeberchef Manfred Casper spricht über seinen Fluchtversuch als 18-Jähriger aus der DDR – und die heutige Mentalität im Osten.

Ein unbändiger Freiheitsgedanke treibt ihn an. Unter Lebensgefahr versucht er mit 18 Jahren aus der DDR zu fliehen, wird aber festgenommen, verurteilt und inhaftiert. Kurz vor dem Ende der Haft kommt dann der ersehnte Freikauf durch die Bundesrepublik Deutschland. Davon berichtet Manfred Casper in seinem autobiografischen Buch „Vom Wachsen der Flügel“ – 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Im Interview spricht der langjährige Hauptgeschäftsführer (1992 bis 2016) des Arbeitgeberverbandes Region Braunschweig über seine Flucht, den Stand der Einheit und den ersten Blick in seine Stasi-Akte.

Herr Casper, 1969 versuchten Sie, aus der DDR zu fliehen. Erst vor rund 10 Jahren haben Sie begonnen, sich diesem Kapitel ihres Lebens zu stellen. Weshalb so spät?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich habe die Erlebnisse und Erfahrungen aus der DDR-Zeit lange so neben mir hergezogen. Erst nachdem die Grenze gefallen war, erfuhr ich über einen Freund aus der DDR, mit dem ich damals inhaftiert war, dass die Stasi auch über mich eine Akte angelegt hatte. Ich fand das interessant, aber damals wollte ich mich damit nicht weiter beschäftigen. Erst auf Drängen meines ältesten Sohnes, der damals 16 Jahre alt war, habe ich einen Antrag auf Einsicht der Akten gestellt.

Wollten Sie Ihre Vergangenheit verdrängen?

Ja, mit Sicherheit. Schließlich hatte ich in der Haft die schwerste Zeit meines Lebens. Im Gefängnis wusste ich nicht, wie es weitergeht mit mir. Ich hatte Angst, nach Ende der Haft immer wieder in Gefangenschaft zu kommen, wie so viele junge Menschen – wegen Staatsverleumdung, staatsfeindlicher Hetze oder Republikflucht. Diese Angst trieb mich um. Das waren traumatische Erlebnisse. Aber es gab noch weitere Gründe: Im Westen habe ich oft erfahren müssen, dass es Vorbehalte gegenüber uns Geflüchteten aus der DDR und Ex-Inhaftierten gab. Auch deswegen wollte ich mich nicht ständig mit meiner Vergangenheit konfrontieren.

Aus der Stasi-Akte: Die „Einlieferungsanzeige“ von Manfred Casper in das Untersuchungsgefängnis Karl-Marx-Stadt nach dessen gescheiterter flucht im Sommer 1969.
Aus der Stasi-Akte: Die „Einlieferungsanzeige“ von Manfred Casper in das Untersuchungsgefängnis Karl-Marx-Stadt nach dessen gescheiterter flucht im Sommer 1969. © BStU | Ministerium für Staatssicherheit der DDR

Welche Rolle spielte Ihr Sohn dabei, dass Sie schließlich doch den Blick in Ihre Stasi-Akte wagten?

Mein Ältester sagte, ich sei ein Zeitzeuge und soll etwas an spätere Generationen weitergeben. Trotzdem hat mir mein erster Anlauf der Akten-Einsicht im Jahr 1996 Probleme bereitet. Eigentlich wollte ich die Stasi-Aufzeichnungen über mich damals nicht lesen, aber mein Sohn hat Druck gemacht. Erst dadurch wuchs auch bei mir die Neugier.

Sie schreiben in Ihrem Buch, wie sehr Sie bei der Akteneinsicht hin- und hergerissen waren. Wie war es für Sie, die Akte aufzuschlagen?

Traumatisch. Nach 20 Minuten Lesen war ich überfordert. In der Akte ist die Anklageschrift abgelegt, die mich an die Flucht, die Gefangenschaft und die Festnahme erinnerten. Auf einmal war die damalige Situation wieder präsent vor mir.

Der Moment Ihrer Festnahme?

Ja. Den Fluchtversuch hatte ich ja in Bulgarien gestartet, an der Grenze zu Jugoslawien. Aber ein Einheimischer hatte mich gesehen und verständigte sofort die Grenztruppen. Während ich auf die Dämmerung wartete, um die Grenze zu überqueren, nahmen sie mich fest. Bei der Akteneinsicht lief diese Situation wie ein Film in meinem Gedächtnis ab. Und meine Gefühle dazu übermannten mich. Auch an meinen Vater musste ich denken. Er starb kurz nachdem ich freigekauft wurde. Ich habe ihn in Untersuchungshaft das letzte Mal gesehen. Auch diese Erinnerungen flammten bei der Akteneinsicht wieder auf und belasteten mich. Erst 2003, also Jahre später, konnte ich mit der Vergangenheit rationaler umgehen.

Erwachte damals auch Ihr Gedanke, ein Buch zu schreiben?

Nein, überhaupt nicht. Die Idee dazu kam erst im Jahr 2010 als ich einen Vortrag am Hoffmann-von- Fallersleben-Gymnasium gehalten habe. In einem 13. Jahrgang wollte ich über das Thema Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung referieren. Da fiel mir ein, dass ich das Protokoll des DDR-Gerichtsverfahrens gegen mich noch hatte. Darin enthalten waren alle Dokumente – von den Schöffen, vom Staatsanwalt und vom Richter. Nur Schriften eines Rechtsanwalts fehlten.

...weil Sie keinen Anwalt hatten?

Ja, genauso war es. Die Staatsanwälten sagte damals zu mir: „Vertrauen Sie uns. Als Staatsorgan wissen wir, was gut für Sie ist.“ Als mir diese Erlebnisse vor der Schulklasse einfielen, kam die Idee, ein Buch darüber zu schreiben.

Der Haftbefehl von Manfred Casper. Einen Rechtsanwalt hatte er nicht.
Der Haftbefehl von Manfred Casper. Einen Rechtsanwalt hatte er nicht. © JHM Verlag | Kreisgericht Karl-Marx-Stadt

Als Sie flohen, waren Sie erst 18 Jahre alt. Was brachte Sie zu einem so folgenschweren Entschluss?

Es hatte mehrere Schlüsselerlebnisse gegeben, die mir zeigten, dass die DDR nicht ganz ohne ist. Doch zunächst man muss differenzieren: Ich hatte dort eine sehr schöne und behütete Kindheit. Und man wird auch nicht als Systemgegner geboren. Als Kind hatte ich das Privileg, in den Ferien mit meiner Mutter zu meiner Oma nach Lehndorf in Braunschweig zu reisen. Vor dem Bau der Mauer 1961, also bis zu meinem zehnten Lebensjahr, habe ich regelmäßig die Sommerferien im Westen verbracht. Mein Eindruck als Kind: Uns im Osten geht es vergleichsweise gar nicht schlecht. Bei meiner Oma mussten wir über den Hof zum Plumpsklo – bei meinen Eltern war die Toilette im Wohnhaus. Das war die eine Seite.

Und die Kehrseite?

Da gab es Erlebnisse, die mich nachdenklich machten: Meine Mutter sagte mir, dass ich draußen oder in der Schule nicht erzählen darf, worüber wir zu Hause sprechen. Auch das Verschwinden von Menschen aus unserer Umgebung gab mir zu denken: Nachbarn, Lehrer und mein Kinderarzt waren von einem Tag auf den anderen verschwunden. Und man hat nie erfahren, wohin. Es gab keine Informationen, keine Transparenz. Genau das ist ja das Wesen einer Diktatur. Ein weiteres Schlüsselerlebnis war eine Demon­stration, die ich in Hannover bei einem Aufenthalt im Westen gesehen hatte. Worum es bei den Protesten ging, weiß ich nicht mehr, konnte es als Kind auch nicht einordnen. Doch ich merkte, das im Westen etwas anders war. In der DDR waren solche Proteste von Bürgern undenkbar. Ich fing an, die DDR kritischer zu betrachten.

Welche Einstellung zum Staat hatten Ihre Eltern?

Meine Eltern waren Vertriebene aus Schlesien, und wir wohnten im Städtchen Stollberg im Erzgebirge. Mein Vater war gelernter Bauer, aber in der DDR arbeitete er als Bergmann. Er war nicht sehr kritisch eingestellt gegenüber der DDR. Er war ein sogenannter „verdienter Aktivist des Volkes“. Das heißt, er hatte Arbeitsergebnisse über die Norm hinaus geleistet und bekam dafür Vergünstigungen und mehrere Orden. Wie er als naturverbundener Mensch die Arbeit unter Tage aushielt, konnte ich kaum verstehen. Anders meine Mutter, die durchaus kritisch war. Aber vor allem ging es ihr darum, die Familie zusammenzuhalten. Als wir am 13. August 1961 bei meiner Großmutter in Lehndorf waren, stand die Frage im Raum, ob wir in Braunschweig bleiben oder gemeinsam zurück in die DDR fahren. Sie entschied damals zurückzufahren. Das habe ich ihr nie vorgeworfen. Doch die Falle war zu.

Manfred Casper (rechts) mit Eltern und Verwandten bei deren Besuch in Stollberg im Jahr 1964.
Manfred Casper (rechts) mit Eltern und Verwandten bei deren Besuch in Stollberg im Jahr 1964. © JHM Verlag | Privat

Es wäre die letzte Gelegenheit vor dem Mauerbau gewesen, im Westen zu bleiben...

Ja, aber die Familie wäre dadurch getrennt worden. Meinen Vater und meinen Bruder hätten sie nicht ausreisen lassen. Danach gab es keine weiteren Reisen mehr nach Braunschweig.

Wie wuchs der Fluchtgedanke in Ihnen weiter?

Eine Rolle spielte ein bitterböser Brief, den mir der Nachbar meiner Großmutter aus Braunschweig zugeschickt hatte. Zu ihm hatten wir ein sehr persönliches Verhältnis, nach dem Mauerbau schickte er uns oft Spielzeug. Doch eines Tages schrieb er, weshalb wir es nicht für nötig hielten, uns für die Legokästen zu bedanken, die er uns zu Weihnachten geschickt hatte. Doch die Bausteine waren bei uns nie angekommen. Das bringt ein Kind zum Nachdenken. Ein weiter Auslöser war, dass uns in der Schule erklärt wurde, dass die Grenze ein „antifaschistischer Schutzwall“ sei. Das konnte ich nicht fassen. Schließlich kannte ich den Westen aus eigener Anschauung. Auch wenn es im Westen – wie übrigens auch in der DDR – alte Nazis gab, wusste ich, dass dort kein Faschismus herrschte. Mir wurde also klar, dass ich betrogen und belogen wurde.

Gab es einen konkreten Auslöser für Ihren Fluchtplan?

Ja: Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Warschauer-Pakt-Truppen. In der CSSR gab es damals Rolling-Stones-Platten zu kaufen – was hätte ich dafür gegeben? Und das wurde nun mit Gewalt wieder unterdrückt. Am 20. August 1968 fuhr abends eine riesige Panzerkolonne an unserem Haus vorbei in Richtung tschechoslowakische Grenze. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich wusste: Ich wollte weg!

Im Sommer darauf wollten Sie fliehen. Was war Ihr Plan?

Die Flucht war sorgfältig geplant. Mir war klar, dass es lebensgefährlich ist, dass ich getötet werden kann, und dass niemand von meiner Flucht wissen darf. Auch meinen Eltern habe ich nichts gesagt. Ich hätte sie sonst zu Mitwissern gemacht. Aber ich wusste: Ich muss weg aus der DDR, sonst werde ich irre! Ich fuhr also mit einer Reisegruppe nach Bulgarien ans Schwarze Meer. Ich hatte mich entschieden, die Grenze nach Jugoslawien zu überqueren. Da das Land zu den blockfreien Staaten gehörte, war die Grenze nicht so stark gesichert wie die zu den Nato-Staaten Griechenland oder Türkei. Über Jugoslawien wollte ich nach Österreich und von dort in die Bundesrepublik. Ich setzte mich also von meiner Reisegruppe ab und zog sechs Tage illegal durch das Land – bis zum Grenzfluss. Den hatte ich für den Übertritt ausgewählt, weil ich wusste, dass Flussläufe nicht vermint waren.

Dort wurden Sie dann von bulgarischen Grenztruppen verhaftet. Welche Folgen hatte das für Sie?

Bei der Festnahme brach in mir alles wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Danach folgte die Untersuchungshaft und eine knapp eineinhalbjährige Haftzeit. Das Strafmaß war noch vergleichsweise milde. Ich war ja erst 18 Jahre alt und somit noch an der Grenze zum Jugendstrafrecht. Die Ansage lautete: „Dieses schwarze Schaf müssen wir auf den Weg der sozialistischen Tugend führen.“ Die Strafe sollte ein Warnschuss sein. Trotzdem war die Haft die schwerste Zeit in meinem Leben. Kurz nach der Gerichtsverhandlung flüsterte mir meine Mutter ins Ohr: „Willste noch nach drüben?“ Ich wollte. Kurz vor dem Ende der Haftstrafe wurde ich dann freigekauft.

Wie hat Ihre Jugend in der DDR, die Haftzeit und die Übersiedlung in den Westen Ihren weiteren Lebensweg geprägt?

Die Querköpfigkeit, die ich in der DDR entwickelt habe, habe ich beibehalten – auch später im Arbeitgeberverband. Ich wehre mich dagegen, mich von Ideologien bestimmen zu lassen. Das hat mir beruflich geholfen. Ich habe mein Abi nachgemacht und Germanistik, Politik und Soziologie studiert. Während des Studiums wurde unser zweites, später unser drittes Kind geboren. Ich habe als Fernfahrer gejobbt und ein BWL-Studium angefangen. Als das Bildungswerk der Wirtschaft auf mich zukam und mich bat, junge arbeitslose Menschen aus sozialen Spannungsfeldern zu unterstützen, damit sie in der Arbeitswelt Fuß fassen, hielten mich viele für verrückt. Kommilitonen warnten mich, ich bekäme von den Jugendlichen „noch eine aufs Maul“. Doch es wurde ein voller Erfolg. Diese Offenheit in meinem Lebensweg hat wohl auch später dazu geführt, dass ich gefragt wurde, ob ich Geschäftsführer beim Arbeitgeberverband werden möchte. Mit meinem Buch möchte ich Heranwachsenden Mut machen, auch was den Freiheitsgedanken angeht.

Sie sprechen mit Schülern über Ihre Geschichte. Was können Jugendliche nur von Zeitzeugen und nicht aus Büchern lernen?

Zeitzeugen sind ein lebendiges Beispiel und schaffen Authentizität. Meine Flucht, die Lebensgefahr und der Knast haben mich geprägt, und davon berichte ich.

Casper: „Kein Schüler weiß mehr, was der Prager Frühling war.“
Casper: „Kein Schüler weiß mehr, was der Prager Frühling war.“ © BestPixels.de | Philipp Ziebart

...und Jugendliche können das nachvollziehen?

Ja, so erlebe ich das in den Schulen. Ich diskutiere viel mit Jugendlichen, auch schon mit fünften und sechsten Klassen. Die fragen mich, was es im Gefängnis zu Essen gab. Auch solche Fragen geben einen Zugang zu Geschichte. Da bewegt sich etwas in den Köpfen. Ich möchte vermitteln, dass unsere Freiheit und unserer Grundgesetzes erhalten bleiben müssen. Das sind wichtige Güter. Und die Schüler haben ein großes Interesse am Thema DDR. Sie interessieren sich durchaus für deutsche Geschichte. Aber in der Schule wird das Thema meines Erachtens zu wenig behandelt. Kein Schüler weiß mehr, was der Prager Frühling war.

Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall werden manche Aspekte der Einheit auch kritisch diskutiert – etwa die Arbeit der Treuhand und die schnelle Einführung der D-Mark. Ist die Deutsche Einheit aus Ihrer Sicht gelungen?

Wir sind weit vorangekommen. Es gibt viele Gegenden in der ehemaligen DDR, da sehen Sie heute keine Unterschiede mehr zu den alten Bundesländern. Aber es gibt Unterschiede in den Köpfen. Das zeigt sich bei den Wahlen: die AfD gewinnt in den neuen Bundesländern an Zuwachs. Ich denke, dass sich das System in der Bundesrepublik in den letzten 20 bis 30 Jahren sehr stark liberalisiert hat. Minderheiten werden immer stärker in den Fokus genommen und sozialer Ausgleich generiert.

Und das finden Sie falsch?

Zumindest vermittelt die mediale Begleitung ehemaligen DDR-Bürgern oft den Eindruck, dass sich die Dinge hier wie in der DDR entwickeln.

...was eine gewagte These ist.

Ich weiß, aber viele einstige DDR-Bürger denken einfach so. Wenn ich mit Freunden aus dem Erzgebirge im Bekanntenkreis sitze, dann sagen sie mir: Vieles ist wie früher in der DDR.

Und was antworten sie dann? Immerhin erinnern Sie sich gut an die DDR-Zeit.

Ich antworte: Das darfst du sagen, ohne dass du eingesperrt wirst. Das hättest du in der DDR nicht gekonnt. Ich glaube, solche Einstellungen werden sich mit den jüngeren Generationen ändern. Gerade in der jüngeren Zeit habe ich das Gefühl, dass es Bemühungen für ein besseres gegenseitiges Verständnis gibt. Doch wir müssen uns auch in den alten Bundesländern fragen, ob es denn nicht auch an manchen Stellen Tendenzen gibt, dass wir Gefahr laufen, ein bisschen wie die DDR zu ticken. Es gibt TV Formate, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die schaue ich mir nicht mehr an. Da habe ich das Gefühl, es ist wirklich wie früher in der DDR. Aber jetzt habe ich die Freiheit zu entscheiden. Ich muss es mir nicht angucken.

„Vom Wachsen der Flügel“ erscheint am 10. Oktober im JHM-Verlag. Das Buch kostet 24,90 Euro.