Braunschweig. In unserer Serie zu „beschleunigten Verfahren“ geht es unter anderem darum, wie die Justiz Kleinkriminellen habhaft wird, die ohne Wohnsitz sind.

Der Kripo-Beamte Ralf Metschulat weiß von Kleinkriminellen, hinter denen die Justiz jahrelang herläuft. Da kann die Polizei sie auf frischer Tat bei einem Kaufhaus-Diebstahl ertappt, ordnungsgemäß befragt, Beweise gesichert und ihre Personalien aufgenommen haben – doch wenn Justitia sie später ihrer gerechten Strafe zuführen will, sind sie weg, untergetaucht – ins Ausland, in eine andere Stadt, auf ein anderes Sofa in der Wohnung eines anderen Bekannten.

Dann geht es los mit der Aufenthaltsermittlung, der Abfrage beim Einwohnermeldeamt, mit der Aufnahme des Delinquenten ins polizeiliche Fahndungssystem. Und stoßen die Ermittler schließlich doch auf eine neue Melde-Adresse, sind die Gesuchten womöglich auch von dort aus schon wieder entschwunden ins Irgendwo.

„Dieses Spiel kann man endlos treiben“, sagt Staatsanwalt Christian Wolters. „Das ist sinnlose Arbeit, die nervt.“ Heißt es etwa, der Beschuldigte wohne wieder bei seiner Ex-Freundin, „muss man täglich nachfragen, ob die Adresse noch stimmt“. Das ist so ein Erfahrung aus dem Alltagsgeschäft der Strafverfolger.

„Es gibt Fälle“, ergänzt Metschulat, „in denen wir nur für den Papierkorb arbeiten.“ Nach fünf Jahren verjähren einfache Diebstahls- und Drogendelikte. Nach dieser Frist werden die Verfahren eingestellt. „Doch solange durchlaufen die Straftäter unsere Fahndungsapparate.“

Niedersachsens Justizministerin unterstützt Vorgehen

Dass die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) gerade für solche Fälle das in der Strafprozessordnung in den Paragrafen 417 bis 420 definierte beschleunigte Verfahren in ihrem Bundesland vorantreibt, entspricht daher nicht nur dem gesellschaftlichen Bedürfnis, Strafe auf dem Fuße folgen zu lassen. Es motiviere – trotz Mehrbelastung – auch seine Kollegen, sagt Metschulat, Leiter des 2. Fachkommissariats und zugleich für die Organisation des beschleunigten Verfahrens bei der Braunschweiger Polizei zuständig. Zeitnah ein sichtbares Ergebnis zu haben, sei ein positives Signal auch an die Kollegen.

Im Februar haben in Braunschweig Amtsgericht, Polizei und Staatsanwaltschaft die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, um Kleinkriminelle ohne festen Wohnsitz gleich am Tatort in Gewahrsam zu nehmen und binnen 24 Stunden zu verurteilen – sofern der Sachverhalt einfach und die Beweislage klar und eindeutig ist.

Liegt zwischen Festnahme und Prozess zum Beispiel ein Wochenende, kann der Richter eine Hauptverhandlungshaft anordnen. Dann bleibt bis zum Urteil eine Woche Zeit.

65 Straftäter wurden seit Februar in 54 beschleunigten Verfahren im Braunschweiger Amtsgericht verurteilt. Laut Metschulats Statistik endeten die 54 Prozesse 22-mal mit Geldstrafen, 18-mal mit Freiheitsstrafen auf Bewährung und 14-mal mit Haftstrafen ohne Bewährung. Die höchste bisher verhängte Strafe lag bei einer achtmonatigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung.

Bei der Masse der Delikte, so der Kripobeamte, handele es sich um Diebstähle und kleinere Verstöße gegen das Betäubungsmittel-Gesetz.

Dass im beschleunigten Verfahren die Mehrheit der Straftäter einen ausländischen Pass hat, liegt in der Natur dieses Verfahrens: Denn wer mit eigenem Wohnsitz fest vor Ort verwurzelt ist, ist kein Fall für den – wenn auch nur kurzzeitigen – Freiheitsentzug und die schnelle Verurteilung.

Wer dagegen eine Sammelunterkunft oder die Wohnung eines Bekannten als Anschrift nennt, erfüllt das Kriterium „gelockerter Wohnsitz“, sprich: Die Justiz muss damit rechnen, dass er weiterziehen könnte. Darunter fallen auch reisende und organisierte Täter. „Ich könnte mir vorstellen“, so Staatsanwalt Wolters, „dass das beschleunigte Verfahren solche Tätergruppen abschreckt.“ Und sie künftig lieber einen Bogen um Braunschweig machen.

Zur Stärkung des beschleunigten Verfahrens hat das Justizministerium bei der Braunschweiger Staatsanwaltschaft wie auch im Braunschweiger Amtsgericht je eine zusätzliche Staatsanwalt- bzw. Richterstelle geschaffen. Mehrere Kollegen teilen sich in den Behörden die Aufgaben, die bei Polizei und Staatsanwaltschaft quasi im Zeitraffer zu bewältigen sind: Wird zum Beispiel ein Ladendieb am Nachmittag erwischt, müssen die Polizeibeamten noch in den folgenden Stunden die Beweislage klären, Zeugen und Beschuldigte vernehmen, das Vorstrafenregister anfordern, Protokolle und Berichte schreiben und sich mit dem zuständigen Staatsanwalt absprechen, ob sich der Fall fürs beschleunigte Verfahren eignet. Der Beschuldigten verbringt die Nacht derweil im steril weiß gekachelten Polizeigewahrsam an der Friedrich-Voigtländer-Straße.

Am nächsten Morgen erreicht die Ermittlungsakte die Staatsanwaltschaft, kurz darauf liegt sie samt Antragsschrift dem Richter vor, der am selben Tag den Prozess ansetzt.

„Wir haben gemeinsame Standards festgelegt, was die Akte enthalten muss“, erläutert Metschulat. Das mache es einfacher. Zum Beispiel sollen für die Beweisführung möglichst nicht mehr als zwei Zeugen nötig sein.

Beschleunigte Verfahren – Richter wechseln sich tageweise ab

Im Amtsgericht haben vier Richterinnen und Richter die Bearbeitung beschleunigter Verfahren tageweise unter sich aufgeteilt. Im Schnitt gehen monatlich zwölf solcher Verfahren bei Gericht ein. Es bestehe jedoch Kapazität für deutlich mehr, sagt Amtsrichter Jürgen Langkopf.

Langkopf ist donnerstags für beschleunigte Verfahren zuständig. Geht morgens die Meldung der Staatsanwaltschaft ein, terminiert er den Prozess nachmittags am Ende seines Sitzungstages. Andere Strafverfahren, betont der Richter, verzögerten sich dadurch nicht.

Die Hauptverhandlung laufe im beschleunigten Verfahren wie jede andere auch. Angesichts der klaren Deliktlage dauere sie allerdings selten länger als 30 Minuten.

Den organisatorischen Aufwand im Vorfeld nennt Langkopf aber auch für das Gericht eine Herausforderung. Bei einem Verfahren mit drei Angeklagten zum Beispiel mussten sechs Justizwachtmeister im Einsatz sein, ein Dolmetscher und zwei Verteidiger.

Im Gericht liegen Listen mit Namen von Dolmetschern und Strafverteidigern vor, die im Bereitschaftsdienst sind. Da heißt es erst einmal telefonieren.

Langkopfs Kollegin Anke Busch empfindet angesichts der kurzen Vorbereitungszeit auf den Prozess zwar manchmal einen gewissen Druck, schnell alle Aspekte des Verfahrens ausleuchten zu müssen. Unterm Strich aber zieht sie eine positive Bilanz: „Ein großer Vorteil ist die noch frische Erinnerung der Zeugen.“ Denn gerade bei Massendelikten wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren, die sich fürs beschleunigte Verfahren eignen, trübe sich bei Ladendetektiven oder Kontrolleuren nach Wochen oder gar Monaten schon mal die Erinnerung an jeden Einzelfall.

Bei bundesweit agierenden Tätergruppen sieht Langkopf neben der erhofften Abschreckung einen weiteren Effekt: Folgen Diebstähle in verschiedenen Städten schnell aufeinander, wissen die Justizbehörden zuweilen noch nichts von andernorts parallel laufenden Strafverfahren. Mitunter folge daher Geldstrafe auf Geldstrafe, statt bei notorischen Wiederholungstätern zu schärferen Sanktionen wie einer Freiheitsstrafe zu greifen. „Dem treten wir mit dem beschleunigten Verfahren entgegen“, sagt Langkopf. „Die Verurteilungen finden schnellen Eingang in das Bundeszentralregister.“

Den Richtern ist eine Botschaft wichtig: Zwar ändere sich der organisatorische Rahmen, nicht aber der Tiefgang der juristischen Bewertung. „Wenn es noch Aufklärungsbedarf gibt, gehe ich dem als Richter nach. Wir sehen Verteidiger schließlich nicht als Gegner an.“ Ein beschleunigten Verfahren könne jederzeit unterbrochen werden – was in der Praxis aber kaum geschehe. „Es handelt sich in der Regel ja um einfach gelagerte Fälle.“

Bedenken teilt Richterin Anke Busch in Betäubungsmittelverfahren, wenn es um den Wirkstoffgehalt von Drogen geht. „Wir haben aufgrund der Kürze der Zeit nur den Schnelltest, ein Gutachten fehlt. Das kann unbefriedigend sein.“ Im Zweifel lehne sie in solchen Fällen ein beschleunigtes Verfahren ab.

Werden in dem Verfahren Rechte der Beschuldigten untergraben?

Und die Straftäter? Staatsanwalt Christian Wolters setzt auf einen Warneffekt, den gerade die Nacht im Gewahrsam zumindest bei justizunerfahrenen Kleinkriminellen auslösen könne. „Wenn sie nach der Nacht im Knast in Handschellen dem Richter vorgeführt werden, sind die meisten froh, wenn sie wieder rauskommen“, so sein Eindruck. Da könne eine Geldstrafe geradezu Erleichterung auslösen.

Akzeptieren müssen Verurteilte das Urteil nicht. Das Recht auf Berufung gilt ebenso im beschleunigten Verfahren. Bisher heißt es seitens des Amtsgerichts seien etwa zwölf im beschleunigten Verfahren ausgesprochene Urteile in die Berufung vors Landgericht gegangen – dort aber allesamt bestätigt worden.

Den Überraschungsmoment für Straftäter hält der Braunschweiger Strafverteidiger Dr. Peter Beer für durchaus gewollt. Die aus Verteidigersicht andere Seite der Medaille: Der Pflichtverteidiger, auf den der Beschuldigte bei einer Straferwartung von mindestens sechs Monaten Freiheitsstrafe Anspruch hat, habe kaum Zeit sich einzuarbeiten. „Im Zweifel kennt er vorher nicht mal die Akte. Das ist sehr unglücklich.“

„Die Akten sind meistens lediglich rund 20 Seiten stark, die Rechtslage ist völlig unproblematisch“, erklärt dagegen Staatsanwalt Wolters. „Und angesichts der durch Zeugenaussagen und häufig auch Videoaufnahmen eindeutigen Beweislage sind die Alternativen im Aussageverhalten für den Beschuldigten sehr überschaubar. Ein Bestreiten dürfte jedenfalls in der Regel nicht erfolgversprechend sein.“

Eingeschränkt ist im beschleunigten Verfahren zudem das Beweisantragsrecht. Der Grund liegt nahe: Beweisanträge würden die Idee des beschleunigten Verfahrens torpedieren. Auch Beer weiß: „Soll Strafe auf dem Fuße folgen, geht es auch um die Beschränkung von Beschuldigtenrechten.“

Strafverteidigerin Gabriele Rieke teilt die Bedenken, sieht für jene Straftäter, denen wegen ihrer Vorstrafen andernfalls Untersuchungshaft gedroht hätte, in der zügigen Verurteilung aber ebenso einen Vorteil: „Sie können vom Gewahrsam sofort in Strafhaft wechseln. Das erspart ihnen die Beschränkungen der Untersuchungshaft – zum Beispiel ein eingeschränktes Besuchsrecht.“

Die Sorge der Justizministerin, der „Pflichtverteidiger der ersten Stunde“, wie ihn eine Europa-Richtlinie ebenfalls in Deutschland fordert, könnte das beschleunigte Verfahren gefährden, teilt Anwalt Beer nicht. Die Braunschweiger Anwaltschaft könne eine Verteidigung, die schon vor der Befragung durch die Polizei beginnt, über den bereits existierenden Verteidiger-Notdienst sicherstellen.

Deutschland hätte diese Richtlinie bis Mai umsetzen müssen – was nicht geschehen ist. Nach der bisherigen Strafprozessordnung muss ein Pflichtverteidiger erst später – in der Regel nach Anklage-Erhebung – hinzugezogen werden.

Hier geht es zum ersten Teil der Serie.

Leserforum zum „Beschleunigten Verfahren“ am Mittwoch, 25. September, 19 Uhr, im Amtsgericht Braunschweig. Interessierte Teilnehmer müssen sich vorab einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Anmeldung bis 13. September, 10 Uhr, nötig mit Namen, Geburtsdatum, Anschrift und Rufnummer an veranstaltung@bzv.de.