Braunschweig. Wie lassen sich Masern besiegen? In der Diskussion rücken nun nach 1970 Geborene stärker in den Fokus.

Richtig so. Impfpflicht und sonst gar nichts.

Das schreibt unser Leser Frank Janovsky auf unseren Facebook-Seiten.

Zu dem Thema recherchierte
Katrin Schiebold.

Zwei Spritzen im Kindesalter ­– wenn jeder die zweifache Impfung bekäme, wären die Masern bald besiegt. Doch noch immer stecken sich Kinder, aber vor allem auch Erwachsene mit dem Virus an. Das Landesgesundheitsamt in Niedersachsen hat seit Jahresbeginn 78 Masernfälle registriert. Bundesweit waren es bis Mitte Juni 422. Die Zahlen schwanken zwar stark von Jahr zu Jahr und waren auch schon mal deutlich höher gewesen. So hatte es laut Robert-Koch-Institut 2015 etwa insgesamt 2464 Erkrankungen in Deutschland gegeben. Dennoch ist vor einigen Monaten eine heftige Debatte darüber entbrannt, wie die Masernübertragung dauerhaft unterbrochen werden kann. Brauchen wir eine Impfpflicht? Bringt die überhaupt etwas?

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte sich unter anderem für verpflichtende Masern-Impfungen für Kinder in Kitas und Schulen ausgesprochen. Nach einem Gesetzentwurf sollen unter anderem ungeimpfte Kinder vom Besuch der Kita ausgeschlossen werden können. Außerdem müssen den Plänen zufolge Eltern von Schulkindern, die ungeimpft sind, Bußgelder von bis zu 2500 Euro zahlen. Noch im Juli soll es dazu einen zwischen den Ressorts abgestimmten Regierungsentwurf geben.

Gegenwind kommt nun vom Deutschen Ethikrat: Eine allgemeine staatliche Impfpflicht für alle Erwachsenen oder Kinder sei „nicht gerechtfertigt“, heißt es in einer Ende Juni veröffentlichten Stellungnahme. Der Grund für die Zurückhaltung des Wissenschaftler-Gremiums: Eine solche Regelung greift in die Persönlichkeitsrechte und das Elternrecht ein. Deshalb muss sie besonders gut begründet sein. Der Ethikrat empfiehlt stattdessen unter anderem, dass an Kitas und Schulen der Impfstatus der Kinder und Jugendlichen erhoben und regelmäßig überprüft wird, etwa anhand der dann vorzulegenden Impfausweise. Nur in einem Fall schlägt der Ethikrat auch Zwang vor: Künftig sollen sich nach Empfehlung des Gremiums alle Mitarbeiter von Schulen, Kitas und Krankenhäusern impfen lassen müssen. Tun sie das nicht, darf der Arbeitgeber ihnen Tätigkeitsverbote auferlegen.

Tatsächlich wird in der Diskussion oft übersehen, dass es vor allem bei Erwachsenen Impflücken gibt: So haben die Masernausbrüche im vorigen und in diesem Jahr gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Erkrankten 18 Jahre und älter ist. Vor allem nach 1970 Geborene sind – soweit sie überhaupt geimpft wurden – häufig nicht zu hundert Prozent geschützt: In den frühen 1970er Jahren wurde die Masernimpfung zwar Standard, aber eine einfache Impfung galt als ausreichend. Erst seit 2010 empfiehlt die Ständige Impfkommission eine zweifache Impfung; erst dann sei ein vollständiger Schutz gegeben.

Heute bekommen in der Regel Kleinkinder im Alter von elf bis vierzehn Monaten die Spritze gegen Masern – und ein zweites Mal im Alter von 15 bis 23 Monaten. Inzwischen sind nach Angaben des Robert-Koch-Instituts 97 Prozent der Kinder, die eingeschult werden, einmalig gegen Masern geimpft, 93 Prozent haben die wichtige zweite Impfung erhalten. Wer vor 1970 geboren wurde, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit die Erkrankung durchgemacht und ist daher ebenfalls immun. Das belegen Daten, nach denen in der Vorimpfära 95 bis 98 Prozent der Kinder bis zum zehnten Lebensjahr eine Immunität gegen Masern aufwiesen. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts lassen sich Masernausbrüche erst verhindern, wenn insgesamt 95 Prozent der Bevölkerung immun sind.

Doch Ärzte wie der Braunschweiger Wolfgang Schneider-Rathert sind skeptisch, ob sich mit einer Einführung der Impfpflicht für Kinder die Masern wirklich besiegen lassen. „Vielmehr müsste man doch zunächst bei der Altersgruppe der 18- bis 49-Jährigen ansetzen, bei der es nachweislich Impflücken gibt“, sagt Schneider-Rathert, der auch Sprecher des Arbeitskreises Impfen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin ist. Tatsächlich sei vielen Patienten gar nicht bewusst, dass sie möglicherweise nicht ausreichend gegen Masern geschützt sind. „In den Köpfen verankert ist, dass es sich um eine Kinderkrankheit handelt.“ Der Mediziner begrüßt es deshalb, dass bei den Früherkennungs-Untersuchungen nachgesteuert wurde: Seit April dieses Jahres haben auch Krankenversicherte ab 18 Jahren Anspruch auf einen ärztlichen „Check-up“, davor war das erst für Patienten ab 35 Jahren der Fall. Verpflichtend ist nun, dass bei solchen Untersuchungen der Impfstatus überprüft wird. Auch der Deutsche Ethikrat schlägt vor, den Fokus auf die Erwachsenen zu richten: Unter anderem sollten Systeme in Arztpraxen verpflichtend werden, die Ärzte daran erinnern, dass ein Patient eine neue Impfung braucht.

In der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis in Querum ist solch ein System seit Anfang Juli im Betrieb. Wenn ein Patient zu einer Gesundheitsuntersuchung kommt und die entsprechenden Blutwerte vorliegen, prüft ein Computerprogramm automatisch den Impfstatus. Voraussetzung ist, dass der Patient nach 1970 geboren wurde. Der Allgemeinmediziner Schneider-Rathert hat ehrenamtlich für den Softwarehersteller Compugroup Medical einen Algorithmus entwickelt, der solch eine zielgerichtete Erinnerung möglich macht. Jede dritte Hausarztpraxis arbeitet inzwischen mit der Software dieses Herstellers. Werden entsprechende Daten eines Patienten eingegeben, poppt auf dem Bildschirm künftig ein Fenster mit der Empfehlung auf, den Impfstatus zu überprüfen. „Im stressigen Praxisalltag ist das eine digitale Erinnerungshilfe“, sagt Schneider-Rathert. Er ist überzeugt:„Auf diese Weise können wir erreichen, dass die Bevölkerung in absehbarer Zeit durchgeimpft ist.“

Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte begrüßt es, in der Diskussion Erwachsene stärker in den Fokus zu rücken. Doch ohne Zwang geht es nach Ansicht der darin vertretenen Mediziner nicht. Alle gut gemeinten Aufklärungskampagnen der letzten Jahre hätten schließlich nicht dazu geführt, die Masern in Deutschland auszurotten. Die Prinzipien einer verantwortungsbewussten Solidargemeinschaft müssten für alle Menschen in unserem Land bindend sein, sind die im Berufsverband vertretenden Mediziner überzeugt. Auch Eltern müssten mitwirken an der Herdenimmunität und Verantwortung nicht nur für ihre eigenen Kinder übernehmen, sondern auch für andere, die eventuell nicht geimpft werden können, weil sie noch zu jung oder chronisch krank sind, heißt es.

Impfgegner sind nach Ansicht von Verbands-Sprecher Hermann Josef Kahl gar nicht das Problem: Die meisten Eltern wünschten sich einen Schutz und lassen ihre Kinder einmal gegen Masern impfen, wie die Impfquote bei Schulanfängern von etwa 97 Prozent zeige. „Versäumnisse gibt es dagegen bei der wichtigen Zweitimpfung“, sagt er. „Die Bereitschaft ist also da, aber der zweite Termin wird mitunter versäumt oder vergessen. Es drohen ja auch keine spürbaren Konsequenzen.“ Der Berufsverband schlägt deshalb vor, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen und wissenschaftlich zu begleiten, um zu sehen, ob die Maßnahme greift. Kahl: „Sollte das nicht der Fall sein, kann man immer noch darüber diskutieren, ob eine rechtlich verbindliche Regelung der richtige Weg ist.“