Braunschweig. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk fordert im Ostukraine-Konflikt schärfere Sanktionen. Zu Hause will er für unsere Forschungsregion werben.

Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, besuchte auf Einladung des CDU-Bundestagsabgeordneten Carsten Müller unsere Region. Unter anderem war er in Braunschweig zu Gast beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und dem Niedersächsischen Forschungszentrum Fahrzeugtechnik (NFF) und informierte sich dort über die neuesten Projekte. Bevor es wieder zurück nach Berlin ging, sprach der 1975 geborene Diplomat im Interview über die aktuellen politischen Entwicklungen in seinem Land, über seinen neuen Präsidenten Selenskyj und darüber, welche Rolle Deutschland im Konflikt mit Russland aus seiner Sicht spielen sollte.

Herr Botschafter, was haben Sie bei Ihrem Besuch in unserer Region mitgenommen, auch mit Blick auf mögliche Kooperationen?

Mir war nicht in der Form bewusst, an welchen Projekten etwa beim DLR und am NFF geforscht wird. Wir hatten einen sehr informativen Austausch. Bei der Forschung zur Mobilität der Zukunft, beim autonomen Fahren und auf dem Feld der Digitalisierung weist die Region Braunschweig eine hohe Kompetenz auf, so dass ich in der Ukraine nur dafür werben kann, sich mit den Wissenschaftlern und Unternehmen hier vor Ort intensiv auszutauschen. Diese Kooperationen gibt es im Übrigen auch schon. VW arbeitet mit vielen IT-Spezialisten aus der Ukraine eng zusammen, die Elektronik für den Golf 8 wird zum Beispiel in meiner Heimat hergestellt.

Die Nachrichten in Deutschland aus der Ukraine sind geprägt von dem Konflikt im Osten des Landes, und nun haben Sie mit Wolodymyr Selenskyj auch noch einen neuen Präsidenten. Wie steht es aber um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes?

Im letzten Jahr hatten wir ein Wachstum von 3,5 Prozent. Das ist nicht schlecht im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Aber es ist nach den bitteren Verlusten in den ersten Jahren des Krieges immer noch zu wenig, damit die Menschen diesen Aufbruch auch in ihrem Portemonnaie spüren. Da bräuchten wir ein Wachstum, das mindestens auf einem Niveau von fünf bis sechs Prozent liegt. Hier müssen die künftige Regierung und der neue Präsident neue starke Akzente setzen, denn die Menschen erwarten, dass der eingeschlagene Reformkurs noch vehementer fortgesetzt wird.

Wie kann das gelingen?

Ein wesentlicher Faktor ist, die Monopolstellung von Oligarchen in allen Bereichen zu brechen. Da, wo wir das schon geschafft haben, sehen wir, dass die Wirtschaft angekurbelt wurde. In dieser anhaltenden Bedrohungslage ist wirtschaftliche Stärke die einzige Möglichkeit, die Menschen davon zu überzeugen, das Land nicht zu verlassen.

Herr Botschafter, die Wahl eines Polit-Neulings zum neuen ukrainischen Präsidenten hat viele Menschen in Deutschland überrascht. Wie sehen Sie seine Chancen, das Land positiv zu gestalten?

Andrij Melnyk, der Botschafter der Ukraine, beim Interview in unserer Redaktion.
Andrij Melnyk, der Botschafter der Ukraine, beim Interview in unserer Redaktion. © Florian Kleinschmidt/BestPixels.de

Präsident Selenskyj hat eine historische Chance, aber er hat wenig Zeit und wird wohl keine Schonfrist bekommen. Die Menschen sind ungeduldig. In spätestens einem Jahr müssten den Ankündigungen Taten folgen. Vielen ist heute noch nicht klar, wie das neue Staatsoberhaupt Frieden schaffen will. Das war sein Hauptslogan im Wahlkampf.

Warum wurde sein Amtsvorgänger so derart abgestraft?

Die Menschen wollen neben Frieden, dass der Wohlstand auch bei ihnen persönlich ankommt. Es sind viele Reformen in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht worden, gerade die Zivilgesellschaft hat sich in der Ukraine enorm entwickelt. Aber das war den Menschen in meiner Heimat anscheinend zu wenig. Das wurde Petro Poroschenko am Ende in Rechnung gestellt. Man kann Wolodymyr Selenskyj einiges vorhalten, aber er hat sich als „Selfmade“-Mann etwas aufgebaut. Er hat in seiner Rede, als er das Parlament auflöste und Neuwahlen ausrief, seine Ambitionen deutlich gemacht. Er will besser sein als sein Vorgänger. Das hat nicht nur viele Landsleute, sondern auch mich überzeugt.

Warum gibt es immer noch keinen Frieden im Osten des Landes?

Weil der russische Präsident Wladimir Putin das nicht will und daher viel stärkere Ansagen – und härtere Sanktionen – benötigt. Berlin und Paris müssen endlich auf einen neuen Gipfel im Normandie-Format mit den vier Staaten Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine drängen, denn das letzte Treffen dieser Art war im Oktober 2016. Das ist jetzt über zweieinhalb Jahre her. Putin hat immer gesagt, dass er mit Poroschenko nicht mehr verhandeln will. Nun ist Poroschenko nicht mehr Präsident. Die Zeit der Ausreden ist also vorbei. Aber die Töne aus Moskau bleiben enttäuschend gleich. Putin hat Selenkyj nicht einmal zur Wahl gratuliert.

Selenskyj hat seine Rede im Parlament in Teilen auf Russisch gehalten. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Ich habe das nicht als Anbiederung an Putin verstanden oder als Affront gegenüber meinen Landsleuten gesehen. Der neue Präsident hat das öfters im Wahlkampf gemacht, und somit war das eine klare Botschaft an die Wähler. Auch 28 Jahre nach der Wende spricht in unserem Land jeder zweite Ukrainer Russisch. Ich halte das nicht für ein Problem, sondern für einen Vorteil, wenn Menschen zweisprachig aufgewachsen sind. Ich selbst bin stolz, dass ich Tolstoi und Dostojewski im Gegensatz zur jüngeren Generation im Original lesen und spüren kann. Von diesem bilingualen Erbe kann jeder Ukrainer, aber auch das ganze Land nur profitieren. Selenskyj kann, wenn er das Thema Sprache als etwas begreift, was verbindet und nicht trennt, das Land näher zusammenrücken lassen. Mit einer solchen Politik kann er beim Bürger punkten. Aber die ukrainische Sprache muss er weiter stärken.

War die Abwahl Poroschenkos und die Wahl Selenskyjs ein Zeichen dafür, aus eingefahrenen, verhärteten Strukturen ausbrechen zu wollen? Wo sehen Sie denn überhaupt Bewegungsspielräume im Konflikt mit Russland?

Das Gute ist, dass Moskau zumindest offiziell das Minsker Abkommen mitträgt. Es gab auch Anzeichen, dass Putin einer UN-Friedensmission zustimmen könnte. Es blieb leider bei seiner Ankündigung, und es gab keinen Millimeter Bewegung. Es gibt weiter sehr unterschiedliche Auffassungen über das Mandat der Blauhelme zwischen der Position von Deutschland, Frankreich und den USA – die wir voll und ganz unterstützen – einerseits und der Position der Russen andererseits. Hier muss schnellstens Klarheit herrschen. Deutschland ist jetzt das nichtständige Mitglied im Sicherheitsrat und müsste sich des Themas aktiver annehmen. Es bedarf nicht nur einer viel deutlicheren Sprache gegenüber Russland, aber vor allem neuer harter Strafmaßnahmen, denn an der Eskalationsspirale wird in Moskau weitergedreht. Das zeigt gerade die Vergabe von russischen Pässen an meine Landsleute im besetzten Donbass. Wir als Ukrainer können den Frieden alleine bei allem Willen nicht herbeiführen. Wir sind voll und ganz auf die Hilfe unserer westlichen Partner angewiesen.

Es gibt nicht wenige Politiker in Deutschland, die die Sanktionen gegenüber Russland kritisch sehen und diese beenden wollen. Haben Sie dafür Verständnis?

Nein, denn nur dank dieses wirtschaftlichen und politischen Drucks auf den Kreml kann sich Putin von seinem aggressiven Kurs in der Ostukraine abbringen lassen. Nur, wenn hier Einigkeit im Vorgehen sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch über den Atlantik besteht, können wir auf eine baldige Lösung hoffen. Denn es war immer und bleibt das Ziel von Putin, den Keil immer tiefer zwischen und innerhalb die Regierungen der EU-Länder und der USA zu treiben.

Was glauben Sie, wie lange das russische Volk den Weg Putins noch mitgeht? Die Sanktionen treffen das Land doch hart…

Ich hoffe, nicht mehr lang. Aktuell ist Putin offenbar willens, diesen hohen Preis für sein kriegerisches Vorgehen im Osten der Ukraine und für die Krim-Annexion zu zahlen. Der Konflikt kostet auch Russland viele Milliarden Euro jedes Jahr. Mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern müssen wir versuchen, sehr klug und sehr strategisch vorzugehen, um diesen Preis weiter in die Höhe zu treiben. Und glauben Sie mir: Russland wird einlenken!

Wie könnte dieser Weg aussehen?

Wir haben bemerkt, wie interessiert die Russen an dem Thema Ukraine sind. Millionen Russen haben sich auch das Wahlduell in der Ukraine angeschaut. Wenn mein Land sich in Richtung Westen weiter öffnet, wenn die Menschen aus der Ukraine jetzt ohne Visum in die EU einreisen können, erhoffe ich mir davon auch eine Art Sogwirkung, die Einfluss auf die Menschen in Russland selbst entfalten wird. Wir haben uns für den Weg in die EU entschieden. In der ukrainischen Verfassung steht seit kurzem, dass wir eine Mitgliedschaft anstreben, ebenso wie die in der Nato. Gut möglich, dass in einer Zeit nach Putin jemand an die Macht kommt, der Russland auch nach Europa führen wird. Mit Putin hat Moskau vielleicht aktuell den gewieftesten Taktiker auf der Weltbühne, als Stratege hat er aber schon längst verloren. Er hat die Freundschaft und Seelen der Ukrainer für Jahrzehnte verspielt. Das weiß er.

Aber verstehen Sie nicht auch, dass Russland mit Sorge auf die Verschiebung der Nato-Grenzen nach Osten blickt?

Vorweg: Wenn die Ukraine schon vor zehn Jahren in der Nato gewesen wäre, hätte es diesen Krieg nicht gegeben! Davon bin ich überzeugt. Ich kann zwar die Angst der Menschen in den baltischen Staaten verstehen, die Gefahr, dass sie von Russland angegriffen werden, halte ich für sehr gering, eigentlich liegt die Wahrscheinlichkeit bei null.

Frieden durch Abschreckung. Ist das Ihre Position?

Die Abschreckungspolitik der Nato wirkt hier sehr stark – und das ist auch eigentlich die Beantwortung Ihrer Frage zur Nato-Osterweiterung. Die Krim würde heute noch zur Ukraine gehören, und Donezk und Luhansk wären nicht militärisch besetzt. Und: 13.000 Menschen hätten nicht ihre Leben lassen müssen. Unsere Sichtweise ist, dass man in Europa kein Sicherheitsvakuum dulden darf. Aber jetzt haben wir in meiner Heimat eines. Die Ukraine war ja schon neutral, unter dem geflüchteten Präsidenten Janukowitsch. Per Gesetz waren wir ein bündnisfreier Staat. Das hat eine völkerrechtswidrige Annexion der Krim nicht verhindert. Die Folgen für diese Fehlentscheidung spüren wir bis heute täglich am eigenen Leib. Das war eine bittere Lehre.

Welche Botschaft haben Sie an Menschen, besonders an junge, die sich für Ihr Land interessieren, aber sich von den oft negativen Nachrichten abschrecken lassen?

Ich würde die Menschen aus dieser schönen Region gerne in die Ukraine einladen, damit sie sehen, dass es dort vorangeht, und sie eine – leider wenig bekannte – große Kulturnation kennenlernen. Ja, es gibt Krieg, aber ganz im Osten und nur entlang der so genannten Kontaktlinie. Das ist unerträglich. Aber es gibt noch viel mehr. Sie können uns besuchen, sich unsere Sehenswürdigkeiten ansehen, darunter zahlreiche Unesco-Weltkulturerbestätten. Sie können nur zwei Flugstunden von hier, in Kiew, in Lwiw, meiner Heimatstadt, oder in Odessa in den Cafés ruhig sitzen, die Sonne und das Leben genießen. Was ich mir wünschen würde, ist ein groß angelegtes, bilaterales Austauschprogramm für Jugendliche, so wie es das zwischen Polen und Deutschland schon lange gibt. Wir haben gesehen, dass die jungen Menschen für die EU brennen. Solche Programme fördern das gegenseitige Verständnis und dienen der Völkerverständigung. Das wäre Gold wert.