Hannover. . Stephan Weil ist Festredner bei der „Gemeinsam“-Preisverleihung am Dienstag. Er wünscht sich noch mehr Anerkennung für Helfer.

Niedersachsen sieht sich mit 3,24 Millionen Ehrenamtlichen als „Land des Ehrenamts“. Das Land hat eine „Ehrenamts-Card“ ins Leben gerufen, eine Service-Seite im Internet und kämpft derzeit im Bundesrat für Steuererleichterungen für Ehrenamtliche. Im Gespräch mit Armin Maus und Michael Ahlers erläutert Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) auch, warum er am Dienstag beim „Gemeinsam“-Preis die Festrede übernommen hat.

Herr Weil, Sie als Ministerpräsident wissen es sehr genau: Niedersachsen lebt auch vom Engagement der Ehrenamtlichen. Sie sind ein Fundament, das diese Gesellschaft zusammenhält. Das Ehrenamt scheint unter Druck zu sein. Viele Organisationen berichten aber, dass es schwierig ist, Nachwuchs zu gewinnen. Wie ist Ihr Eindruck, wenn Sie in Niedersachsen unterwegs sind?

Es stimmt: Ohne Ehrenamt wäre unser Land ganz anders, und zwar wesentlich schlechter aufgestellt. Ehrenamtliches Engagement reicht buchstäblich von der Geburtshilfe bis zur Sterbehilfe, es umfasst sämtliche Lebensbereiche. Wenn ich unterwegs bin, treffe ich fast überall in Niedersachsen auf Ehrenamtliche. Was den Nachwuchs angeht, höre ich dann unterschiedliche Rückmeldungen. Bei einigen Freiwilligen Feuerwehren höre ich etwa von Sorgen, andere sagen, es laufe richtig gut. Es liegt oft an den Menschen vor Ort, beispielsweise ob es jemanden gibt, der eine interessante Kinder- und Jugendarbeit aufbaut. Insgesamt gilt: Wir haben viel Bereitschaft zum Mitmachen in der jüngeren Generation und sehr viel Bereitschaft in der älteren Generation. Dazwischen ist es verständlicherweise gelegentlich ein Problem, weil die Leute hoch belastet sind. Viele Menschen sind heute im Beruf ganz anders im Stress als früher.

Der Staat kann ja zumindest die Rahmenbedingungen beeinflussen. Es gibt beispielsweise Diskussionen um Übungsleiterpauschalen, der Sport ist ja die größte Ehrenamtsbewegung. Sehen Sie Niedersachsen da auf dem richtigen Weg?

Ich frage bei meinen Besuchen die Ehrenamtlichen regelmäßig, was ihre Wünsche sind. Da kommt die Frage nach mehr Geld allenfalls unter ferner liefen. Natürlich müssen solche Beihilfen immer mal wieder angepasst werden. Aber was sich viele Helferinnen und Helfer an erster Stelle wünschen, ist Anerkennung und ein wenig Schulterklopfen. Ich war neulich in Wittingen in einem Sportverein. Da stellen relativ wenig Leute unheimlich viel auf die Beine. Da wird vieles zu selbstverständlich genommen. Ein anderes Beispiel: Ohne die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe wären wir im Herbst 2015 untergegangen. Damals haben alle gesagt, toll, dass Du das machst. Heute berichten mir viele Flüchtlingshelfer, dass sie sich immer wieder rechtfertigen müssen. Dabei braucht man Begleiter zur Integration ganz dringend, und zwar im Interesse der ganzen Gesellschaft.

Haben Sie sich auch aufgrund solcher Erfahrungen entschieden, die Festrede beim „Gemeinsam“-Preis im Dom zu halten?

Ja. Meine Motivation ist aber auch noch eine andere: Wir haben große gesellschaftliche Trends, hin zu mehr Individualismus, aber auch zu mehr Egoismus. Und auch zu den Risiken der Digitalisierung zählt – bei allen Chancen – das wachsende Risiko der Vereinzelung. Dagegen steht der Gedanke einer Gesellschaft, die ganz bewusst Gemeinschaft pflegt und zusammenhält. Ich bin entschieden für diesen zweiten Ansatz.

Statt Schulterklopfens müssen sich Feuerwehren und andere ehrenamtliche Retter ja eher noch Attacken erwehren. Was ist die Antwort unserer Gesellschaft darauf?

Der Staat muss da natürlich zwischengehen, die Strafandrohungen sind auch verschärft worden. Viel wirksamer sind aber eine intensive soziale Kontrolle und Reaktionen derjenigen, die solche Übergriffe mitbekommen. Deshalb ist es richtig, dass Sie nach der Gesellschaft gefragt haben. Ich wünsche mir viele Bürger, die den Helfern den Job leichter machen, wenn sie schon nicht selbst helfen. Wofür es ja im Einzelfall gute Gründe geben mag.

Ein wichtiger Teil des Ehrenamts, aber oft übersehen, ist auch die Kommunalpolitik. Auch da gibt es ja erheblichen Nachwuchsmangel. Hilft da vielleicht die Politisierung, die wir jetzt gerade mit den Schülerdemos „Fridays for future“ oder dem Youtuber Rezo sehen – zu einer ehrenamtlichen Politik nah bei den Bürgern?

Ich hoffe es. Die etablierten Parteien haben in der Tat zunehmend ein Problem, bei Kommunalwahlen ihre Listen aufzustellen. Ich hoffe, dass viele von denen, die sich jetzt etwa bei „Fridays for future“ demokratisch engagieren, auch den nächsten Schritt machen. Das setzt voraus, dass die Parteien, meine eigene eingeschlossen, deutlich offener werden für diese Zufuhr an frischer Luft. Diese jungen Leute bringen eigentlich alles mit, um dann auch in einer Partei Verantwortung zu übernehmen.

Ist es eigentlich klug, wie die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer darüber nachzudenken, ob man das Engagement nicht reglementieren müsse?

Es gibt die Gefahr von Manipulationen im Netz, aber Rezo und das kritische Video der anderen Youtuber sind dafür gerade kein Beispiel. In den USA gibt es ganze TV-Sender, die eine Art Gehirnwäsche betreiben. Was bei uns stattgefunden hat, war das Gegenteil davon. Nur dass CDU und SPD mit der AfD in einen Topf geworfen wurden, war echt unfair. Im Kern war die Kritik aber berechtigt. Die Schlussfolgerungen aber sind schwieriger – man kann nicht einfach einen Hebel umlegen. Man muss hart arbeiten. Konsequenter Klimaschutz braucht auch Akzeptanz in der Gesellschaft.

Sie haben die Kritik an Flüchtlingshelfern angesprochen. Sind da Gräben entstanden, die wieder zugeschüttet werden müssen?

Das Klima in der Gesellschaft ist insgesamt ruppiger geworden. Dabei geht es uns im Vergleich sehr gut. Aber wir befinden uns in einer Phase grundlegender Veränderungen, die vielen Menschen Angst machen. Das mag ein Grund sein für die Ruppigkeiten. Deshalb ist das Thema Zusammenhalt umso wichtiger.

Zum Abschluss: Sie als Ministerpräsident haben vermutlich eher weniger Zeit für eigenes Ehrenamt?

Bis ich Ministerpräsident wurde, habe ich eigentlich immer auch Ehrenämter gehabt. In den 80ern habe ich einen Kulturverein mitgegründet, den unterstütze ich bis heute. Es gibt auch eine Fußballmannschaft in Hannover, die im Terminkalender des Vereins immer noch als „Gruppe Weil“ eingetragen ist, nur weil ich damals die Mannschaft bei der Platzvergabe angemeldet habe (lacht). Und die heute zweitälteste Krabbelgruppe in Hannover haben wir mal gegründet, auch ehrenamtlich. Aber derzeit muss ich mich aufs Spenden und die Zahlung von Beiträgen beschränken, vielleicht hilft das auch.

Das Ehrenamt

Fast jede zweite Niedersächsin und jeder zweite Niedersachse über 14 Jahren engagieren sich in der Freizeit freiwillig. Dabei stieg die Engagement-Quote in Niedersachsen von 40,8 auf nunmehr 46,2 Prozent. Bundesweit belegt Niedersachsen den 5. Platz.

Am häufigsten sind die Bereiche Sport und Bewegung, dann folgen Schule oder Kindergarten sowie Kultur und Musik.

Mit dem „FreiwilligenServer“ steht ein landesweites Internetportal zur Verfügung, das informiert und Freiwillige zusammenführt. Es verzeichnet im Schnitt mehr als
430.000 Zugriffe monatlich. Das zentrale lokale Standbein niedersächsischer Engagementpolitik sind die Freiwilligenagenturen. Es besteht zudem ein umfassender Versicherungsschutz für die Engagierten.