Braunschweig. Laut Grünen-Spitzenkandidat Sven Giegold scheitert der Kampf der EU gegen Steuerdumping an Deutschland.

Zusammen mit seiner Parteikollegin Ska Keller bildet Sven Giegold das Spitzenduo der deutschen Grünen bei der Europawahl am 26. Mai. Der 49-jährige Volkswirtschaftler, einer der Mitgründer der globalisierungskritischen Attac-Bewegung, sitzt seit 2009 im Europaparlament. Im Interview übt der engagierte Protestant, der dem linken Parteiflügel zugerechnet wird, scharfe Kritik am mangelnden Europa-Engagement der deutschen Regierung und äußert sich zur Video-Affäre um Österreichs Ex-Vizekanzler Strache.

Herr Giegold, freuen Sie sich als Grüner über das Publikwerden von Straches Ibiza-Video? Immerhin könnte es dafür sorgen, dass Wähler Ihrer rechtspopulistischen Gegner am Sonntag zu Hause bleiben.

Was sich da für Abgründe auftun, ist erschreckend. Grund zur Freude gibt es nur darüber, dass die FPÖ nicht mehr Teil der österreichischen Regierung ist. Das ist eine gute Nachricht für Europa. Die Konsequenz für alle Pro-Europäer muss sein: Keine Koalitionen mit denen, die den Rechtsstaat untergraben und gegen Flüchtlinge hetzen. In Bulgarien sind aber immer noch Nationalisten mit an der Regierung. Gerade von den Christdemokraten erwarte ich, dass sie nicht nur über Orbán reden, sondern in der EVP klarstellen, dass solche Koalitionen ein Ende haben müssen.

Das Video lenkt den Blick auf Korruption. Die betrifft in der EU auch Sozialdemokraten.

Ja, Sozialdemokraten stellen die Regierungschefs in drei europäischen Ländern, die mit Rechtsstaatlichkeit und Europa wenig am Hut haben. In Malta und der Slowakei gibt es starke Anzeichen für organisierte Kriminalität und Korruption. In Rumänien wurde die Korruption faktisch legalisiert, auf unabhängige Medien wird enormer Druck ausgeübt. Auch die Sozialdemokraten sind in der Pflicht, hier Grenzen zu setzen. Mit dem Finger nur auf Christdemokraten zu zeigen, ist in der Tat wenig glaubwürdig.

Wie gehen Sie mit den erwarteten Stimmzuwächsen für Rechtspopulisten um?

Wir werden uns niemals damit abfinden. Für uns ist klar: Im EU-Parlament braucht es eine pro-europäische Mehrheit. Für Allianzen im Schulterschluss mit Anti-Europäern stehen wir nicht zur Verfügung. Endlich hat Manfred Weber das nun auch für die EVP klargestellt. Dass er so lange dafür gebraucht hat, wundert mich nicht. Schließlich war er als CSU-Vize mitverantwortlich für die peinliche Hofierung von Herrn Orbán.

Bedeuten die Erfolge antieuropäischer Strömungen nicht auch, dass die Institutionen der EU reformiert werden müssen?

Die Unzufriedenheit mit demokratischen Institutionen sind auch Problemen innerhalb der EU geschuldet. Allerdings rechtfertigt das nie, dass man mit der extremen Rechten zusammenarbeitet. Gefährlich werden Rechtspopulisten nicht dadurch, dass es sie gibt, sondern, wenn Parteien, die eigentlich Pro-Europäer sind, so zu reden anfangen wie Anti-Europäer.

Was muss sich an der EU ändern?

Die Unterstützung für Europa bleibt nur erhalten, wenn wir auf drei großen Baustellen Fortschritte machen: beim Klimaschutz, beim sozialen Europa und bei der Durchsetzung der Bürgerrechte – an den Außengrenzen wie in den Mitgliedstaaten. Nur so wird Europa in Zukunft weiter Akzeptanz finden.

Das sind eher Politikfelder als EU-Institutionen.

Ja, das sage ich auch bewusst so. Ich glaube nicht, dass die Leute die FPÖ wählen, weil etwa der europäische Rat intransparent ist. Europa beweist seinen Wert, indem es Ergebnisse produziert. Und viele haben den Eindruck, dass die demokratischen Institutionen notwendige Reformen nicht liefern. Aber es kommt auch auf die Art und Weise an, wie die Institutionen arbeiten: Menschen haben oft den Eindruck, das das Allgemeinwohl und ihre Interessen hinter mächtigen Sonderinteressen zurückstehen – ich meine den Einfluss des Lobbyismus. Deshalb freue ich mich, dass wir jetzt gegen den Widerstand von Liberalen, Christdemokraten und Teilen der Sozialdemokratie durchgesetzt haben, dass alle wichtigen Lobbytreffen öffentlich werden. Damit ist das Europaparlament jetzt das lobbytransparenteste Parlament Europas. Das müssen wir auch für die nationalen Parlamente wie den Bundestag einfordern.

Als Gerechtigkeitsproblem in der EU gelten auch die geringen Steuern für manche Großunternehmen – auch wenn etwa Apple in Irland 2018 mehrere Milliarden Steuern nachzahlen musste.

Es ist gut, dass die Kommission das durchgesetzt hat. Damit das nicht nur mit großem Aufwand und in Einzelfällen möglich ist, brauchen wir endlich ein gemeinsames Unternehmenssteuerrecht in Europa. Emmanuel Macron hat völlig zurecht eine solche Steuer vorgeschlagen, mit der große Gemeinschaftsinvestitionen bezahlt werden könnten: Erasmus für alle, digitale Infrastruktur, ein europäisches Energienetz. Deshalb ist es so bitter, dass er von der deutschen Regierung bis heute keine anständige Antwort bekommen hat. Ich wünsche mir ein europäisches Deutschland statt einem Deutschland, das gegenüber seinem engsten Partner in einer so wichtigen Frage schweigt. Das ist ein ganz schweres Versäumnis.

Wie müsste denn eine solche Steuer aussehen, um zu greifen? Bisher zahlt etwa die Café-Kette Starbucks in manchen EU-Ländern weniger Steuern als kleine, inhabergeführte Cafés.

Langfristig braucht es europäische Unternehmenssteuersätze und eine gemeinsame Berechnungsgrundlage. Letztere hat die EU-Kommission bereits vorgeschlagen, aber die Steuersätze gibt es bisher nicht – auch weil Christdemokraten und Liberale systematisch dagegen sind. Die Chancen, das einstimmig zu beschließen sind also gering. Eine Koalition der Willigen könnte aber vorangehen. Und da sollte Deutschland dazu gehören.

Und was ist kurzfristig erreichbar?

Konkret und schnell umsetzbar wäre die europäische Digitalsteuer. Weil die nicht am Firmensitz, sondern am Ort des Konsums greift, könnte man damit die größten Ungerechtigkeiten bei der Besteuerung von Apple, Amazon, Google und Co. endlich eindämmen. Leider liegt dieser Vorschlag der europäischen Kommission auf Eis, weil die deutsche Große Koalition ihn blockiert – übrigens sehr zur Verärgerung Frankreichs.

Warum, glauben Sie, blockiert die Bundesregierung diese Steuer?

Der Hauptgrund liegt ihrer komplett falschen Strategie im Umgang mit dem Wüterich Trump. Bei vielen digitalen Großkonzernen handelt es sich ja um US-Firmen. Der Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat offensichtlich Angst davor, den Handelsstreit mit den USA zu eskalieren. Dafür nimmt er in Kauf, dass diese Konzerne hier kaum Steuern zahlen. Ich glaube dagegen, dass man bei Donald Trump so nichts erreicht. Der akzeptiert keine Schwäche. Man erinnere sich an den USA-Besuch von Jean-Claude Juncker. Der hat bei Trump Tacheles geredet und sich so Respekt verschafft. Wer aber, wie die Bundesregierung, die eigene Souveränität und die eigenen Interessen nicht wahrnimmt, verdient sich keinen Respekt – schon gar nicht bei solchen Leuten.

Wie kann die EU noch gegen Steuerdumping vorgehen?

Indem wir alle Großunternehmen verpflichten offenzulegen, in welchem Land sie welche Gewinne gemacht und welche Steuern gezahlt haben. Das hat die EU-Kommission mit Zustimmung des Parlaments vorgeschlagen. Würde das gemacht, gäbe es einen enormen öffentlichen Druck, wenn herauskommt, dass ein Unternehmen trickst. Aber auch dieser Vorschlag scheitert im Rat an Deutschland. Alle anderen großen Mitgliedsländer sind dafür. Was mich so ärgert: In Deutschland sind alle gegen Steuerdumping, aber wenn es konkret wird, kneift die Große Koalition in Brüssel. Letztlich leidet darunter der Ruf der EU. Dabei haben die europäischen Institutionen, anders als die Bundesregierung, ihre Hausaufgaben gemacht.

Umfragen sagen den Grünen ein gutes Ergebnis voraus. Was wollen Sie im EP damit anfangen?

Stimmungen sind noch keine Stimmen. Jedes Ergebnis, das besser ist als 12,1 Prozent, das bisher beste bundesweite Ergebnis der deutschen Grünen, freut mich. In den einzelnen Ländern sind wir sehr unterschiedlich stark vertreten. Insofern bleiben wir auf dem Teppich. Aber Sie haben recht: Die Mehrheit von Sozialisten und EVP wird allen Umfragen zufolge verloren gehen. Das bedeutet: Es sind neue Mehrheiten gefragt. Und daraus kann für uns ein Hebel werden, Veränderungen durchzusetzen.

Die Frage, ob Sie gebraucht werden, wird auch vom Ergebnis der Liberalen abhängen.

Die Kultur im Europäischen Parlament ist zum Glück eine andere. Schon in der laufenden Legislaturperiode konnten wir ordentlich mitarbeiten und Erfolge erzielen. Gerade angesichts der EU-Gegner hat der neue Kommissionschef ein Interesse daran, sich auf eine breite Mehrheit zu stützen. Aber wir drängen uns nicht auf. Unsere Stimmen gibt es nur für grüne Veränderungen. Wem das zu teuer ist, der bekommt unsere Stimmen nicht. Wir werden die Interessen unserer Wähler nicht verraten.

Soziale Bewegungen wie die Klimademos erleben gerade eine Renaissance. Bevor Sie Politiker wurden, waren Sie Mitbegründer von Attac, kennen also beide Seiten. Können Sie als Abgeordneter mehr erreichen als früher?

Das Europäische Parlament ist ein faszinierender Ort. Selbst als einzelner Abgeordneter kann man dort ein relativ großes Rad drehen und viel bewirken.

Die Debatten im Europaparlament schaut sich aber niemand an.

Ja – zu meinem Leidwesen. Aber das EU-Parlament ist auch kein Debatten-, sondern ein Arbeitsparlament. Leute, die sich, wie ich, für solide Gesetzgebung interessieren, die Sitzfleisch mitbringen, die können da eine sehr relevante Rolle spielen. Natürlich hat Greta Thunberg mehr Wirkung auf die Richtung der Klimapolitik in Europa als wir im Gesetzgebungsverfahren – weil sie das gesellschaftliche Klima verändert, in dem wir alle handeln. Das ist die Stärke sozialer Bewegungen. Dafür kann ich im Parlament an der konkreten Umsetzung arbeiten. Ich sehe meine Rolle darin, progressiven Bewegungen eine Stimme im Parlament zu geben und umgekehrt Informationen aus dem Parlament in die breite Öffentlichkeit zu tragen – weil ich weiß, dass ich sonst nichts erreiche.

Spielen Utopien eine Rolle für Sie – also Vorstellungen einer anderen Art zu leben, zu wirtschaften?

Ja, das würde ich nicht bestreiten. Ich bin tief in der Kirche verwurzelt. Die Errichtung des Reichs Gottes auf Erden, wo sich Menschen in Geschwisterlichkeit begegnen – etwas Utopischeres gibt es ja kaum. Das gleiche gilt übrigens für mich das Prinzip der Gewaltfreiheit. Ich kann mir vorstellen, dass wir eines Tages Waffen und Militär abschaffen, so wie es uns auch gelungen ist, die Sklaverei abzuschaffen. Diese großen Ideen geben die Richtung für meiner Arbeit an.

Wer als Politiker solche Ziele formuliert, wirkt schnell naiv.

Deshalb bin ich auch nicht dafür, dass man sich der Politik verweigert, wenn Wirklichkeit und Ideal nicht zur Deckung gebracht werden. Wie man Utopien umsetzt, wissen wir nicht. Um ihnen näher zu kommen, können wir immer nur konkrete Schritte formulieren. Und um diese zu ringen, lohnt sich allemal. Das ist kein Verrat und kein Abschied von großen Zielen, sondern, im Gegenteil, der notwendige Prozess um das Leben zu verbessern. Das für sich ist schon radikal, denn die konkreten Schritte – etwa der Kohleausstieg, der Schutz der Regenwälder, das Schließen von Steueroasen – stellen uns vor riesige Herausforderungen. Deshalb bedeuten Utopien für mich auch nicht, dass ich sie zum Kern meiner Arbeit mache. Aus den historischen Versuchen, etwa eine ideale sozialistische Gesellschaft durchzusetzen, ist bekanntlich nichts Positives erwachsen.