Braunschweig. Die Milch macht's. Oder nicht? Milch soll zahlreiche Krankheiten begünstigen – solche Warnungen kursieren. Ein Experte erklärt, warum das Unsinn ist.

Suchen wir denn immer nur nach etwas Schlechtem?

Das fragt unsere Leserin
Angelika Kühn aus Helmstedt.

Zum Thema recherchierte
Jens Gräber

Die Milch macht’s. Mit diesem Slogan wurde die weiße Flüssigkeit lange Zeit beworben. Doch seit einiger Zeit gibt es Menschen, die daran zweifeln. Auch Wissenschaftler sind darunter. Was ist dran an diesen Warnungen? Jens Gräber hat darüber mit Prof. Bernhard Watzl gesprochen. Watzl leitet das Institut für Physiologie und Biochemie der Ernährung am Max-Rubner-Institut (MRI).

Es gibt die Hypothese, dass Milch Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten zumindest begünstigen kann. Sie wird vor allem von dem Dermatologen Bodo Melnik aus Osnabrück vertreten. Was ist von dieser Hypothese zu halten?

Da kann man ganz klar sagen: Da ist nichts dran. Das ist Herrn Melniks persönliche Interpretation der Daten, er ist damit aber ein Außenseiter in der Wissenschaft – national wie international. Wir haben sehr viele wissenschaftliche Studien zu den gesundheitlichen Wirkungen von Milch und Milchprodukten, die eindeutig zeigen, dass wir keinen Nachteil haben, wenn wir Milch in den üblichen Mengen konsumieren. Im Gegenteil, es gibt für einige Krankheiten sogar ein leicht verringertes Risiko. Ein wichtiges Argument ist zum Beispiel die Versorgung mit Calcium, das spricht für die Milch. Wir haben von unserem Institut aus schon viele Gespräche über das Thema Milch geführt, auch unter Beteiligung von Bodo Melnik. Er hat eine spannende Hypothese und verfolgt sicher auch das Ziel, die Gesundheit der Menschen zu schützen. Aber es gibt unter den vielen verfügbaren Daten aus Ernährungsstudien keine, die seine Hypothese stützen.

Auf welche Stoffe und Mechanismen stützt sich diese Hypothese eigentlich?

Am Anfang waren es bestimmte Aminosäuren, die vor allem in tierischen Produkten vorkommen, vor allem im Molkeneiweiß. Sie können enzymatische Regulationssysteme, die für das Zellwachstum wichtig sind, beeinflussen. So könnte die Entstehung von Krebs gefördert werden, das war die erste Hypothese. Die Beschreibung ist richtig, allerdings beeinflussen die Inhaltsstoffe der Milch viele weitere Mechanismen. Zudem kommen diese Aminosäuren nicht nur in der Milch, sondern auch in anderen tierischen Lebensmitteln vor, etwa in Fleisch und Wurst. Und die Hypothese deckt sich nicht mit vorliegenden Studienergebnissen über die Wirkungen dieser Nahrungsmittel.

Neuerdings geht es vor allem um die Micro-RNA. Das sind dem Erbgut ähnliche Biomoleküle, die in Zellen das Ablesen von Genen regulieren und diese vorübergehend abschalten können. Die haben wir auch nicht nur in der Milch, auch in Fleisch und sogar in pflanzlichen Produkten. Das wird nicht berücksichtigt: dass wir über viele Lebensmittel Micro-RNA aufnehmen. Das schlagende Argument gegen eine schädliche Wirkung ist wieder: Es gibt keine Hinweise darauf, dass Milchkonsum negative Auswirkungen hat. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: Das Risiko für Prostatakrebs steigt bei täglich sehr hohem Konsum von Milch und Milchprodukten über lange Zeit möglicherweise. Bei Dickdarmkrebs zum Beispiel sinkt aber das Risiko.

Ist die Vorstellung realistisch, dass ein einzelner Faktor in der Ernährung so großen Einfluss auf die Entstehung verschiedener Krankheiten haben kann?

Sie ist verführerisch. Wenn das so einfach wäre, würden wir sofort entsprechende Ernährungsempfehlungen herausgeben. So funktioniert aber unser Organismus nicht. Viele Menschen haben nie Zugang zu Milchprodukten, und die sind nicht pauschal gesünder als der Rest von uns. Es geht hier um Nahrungsmittel, die wir schon sehr lange zu uns nehmen. Der Mensch ist sehr flexibel, was die Verwertung von Lebensmitteln angeht. Offensichtlich haben wir uns sehr gut an Milch und Milchprodukte angepasst.

Zu welchem Umgang mit den zahlreichen Ernährungsempfehlungen, die heute verfügbar sind, raten Sie? Woran soll man sich halten?

Die Empfehlungen sind seit Jahren stabil, wenn es um Lebensmittelgruppen geht:Viel pflanzliche Lebensmittel in Form von Obst, Gemüse und Vollkornprodukten – das sind alles hochwertige Lebensmittel, die uns viele Vorteile bringen. Wir sollten deutlich weniger tierische Produkte essen, als wir das bisher tun – vor allem weniger rotes Fleisch und Wurst.

Wer dann noch auf seine Energiebilanz achtet, also nicht mehr Kalorien zu sich nimmt, als er verbraucht, kann viele Erkrankungsrisiken minimieren.