Salzgitter. Ineke Hovenkamp ist blind. Die 45-Jährige nutzt ihr Handicap, um in einer Frauenarztpraxis Veränderungen in Brüsten aufzuspüren.

Unsere Leserin Grete Meyer aus Wolfenbüttel fragt:

Gibt es in Wolfenbüttel eine taktile Untersucherin? Was kostet so eine Untersuchung, oder übernimmt die Krankenkasse diese Kosten?

Die Antwort recherchierte Ida Wittenberg

Fünf weiß-rot-geringelte Streifen mit Blindenschrift kleben auf meinem nackten Oberkörper. Die Hände, die mich berühren, sind warm und weich. In kreisenden Bewegungen fahren sie über meine Brüste. Gleiten von einer Stelle zur nächsten. Mal drücken sie fester zu, mal etwas vorsichtiger. Plötzlich verharren sie. Nervosität steigt in mir auf. Ganz genau betasten die Fingerspitzen mit den auffällig kurzen Nägeln die Stelle. Die kreisenden Bewegungen hören auf. Die Frau, die über mich gebeugt ist, legt die Stirn in Falten. Ihr Gesicht ist konzentriert, angespannt.

Heute bin ich Patientin in einer Arztpraxis in Salzgitter. Es geht um eine Untersuchung von Brustkrebs – jedoch keine gängige. Denn Ineke Hovenkamp, die Frau, die sie durchführt, ist blind. Sie hat ihr Handicap genutzt und in ein Talent verwandelt. Als Medizinische Tastuntersucherin (MTU) fühlt sie, ob sich in Brüsten Knoten gebildet haben.

„Ich achte darauf, dass meine Fingernägel immer sehr kurz sind, damit es für die Patienten angenehm ist und ich sie nicht kratze.“
„Ich achte darauf, dass meine Fingernägel immer sehr kurz sind, damit es für die Patienten angenehm ist und ich sie nicht kratze.“ © Ineke Hovenkamp, MTU in einer Frauenarztpraxis in Salzgitter.

Die Tastuntersuchung kann sehr kleine Veränderungen erspüren

Zweimal im Jahr kann ich meine Brust bei meiner Frauenärztin untersuchen lassen. Mein Opa hatte Brustkrebs – ich gehöre also zu den Risiko-Patienten. Doch heute begleitet mich ein besonders mulmiges Gefühl, als ich das Medizinische Versorgungszentrum von Dr. Markus Lütge in Salzgitter betrete. Diese Untersuchung wird länger dauern, als die übliche Untersuchung, die ich gewohnt bin.

Eine MTU kann Veränderungen im Brustgewebe erspüren, die selbst auf einer Ultraschallaufnahme nur schwer zu erkennen sind, und mir fährt durch den Kopf: Hoffentlich erfahre ich heute nichts, was ich nicht hören möchte.

Ich betrete das kleine Behandlungszimmer. Ineke Hovenkamp empfängt mich mit einem freundlichen Lächeln. Sie streckt eine Hand in den Raum. Sie weiß nicht, wo ich bin, wo ich stehe. Ich mache zwei kleine Schritte und ergreife ihre warme Hand.

Mühelos gelingt es ihr, dass mich innerhalb von wenigen Sekunden ein wohliges Gefühl überkommt. Sie plaudert mit mir wie mit einer Freundin, die sie lange nicht gesehen hat. Fragt, wie ich hergekommen bin, wie mein Berufsalltag aussieht und entlockt mir sogar Geschichten über meine Eltern und Großeltern. Ich habe das Gefühl, dass sie mich wirklich kennenlernen möchte.

Ihr Akzent verrät, woher sie kommt: aus den Niederlanden. Das „g“ wird bei ihr zu einem niedlichen „ch“. Vielleicht auch ein Grund, warum ich mich schnell in ihrer Gegenwart entspanne. In den Niederlanden hat Hovenkamp zehn Jahre lang in einer eigenen Massagepraxis gearbeitet, bis ihr eine Bekannte von der Organisation „discovering hands“ erzählte.

Das Handicap in ein Talent verwandeln

Das ist ein Unternehmen, das 2011 von dem Gynäkologen Dr. Frank Hoffmann gegründet wurde und sich auf die Brustkrebsfrüherkennung durch blinde oder stark sehbehinderte Menschen spezialisiert hat. Bisher arbeitet er ausschließlich mit gehandicapten Frauen.

Deren Tastsinn ist so gut ausgeprägt, dass sie selbst kleinste Veränderungen ab circa sechs Millimetern in der Brust fühlen können. Inzwischen wird die Untersuchung in Deutschland an 40 Standorten angeboten – unter anderem auch in Braunschweig und Salzgitter. Sie kostet etwa 46 Euro. Bereits über 20 gesetzliche und alle privaten Krankenkassen übernehmen sie.

Ineke Hovenkamp musste eine umfangreiche Aufnahmeprüfung bestehen: „Ich habe ein Assessment durchlaufen, bevor ich mit der Qualifikation beginnen durfte. Schon hier wurde unser Fingerspitzengefühl auf die Probe gestellt“, erzählt sie. Nur Anwärterinnen mit dem besten Tastsinn werden für die Ausbildung ausgewählt.

Dann stehen drei Monate Theorie auf dem Programm, bevor drei Praxismonate folgen. Beides wird mit einer Prüfung abgeschlossen. Bestehen die Frauen, dürfen sie sich MTU nennen. Anschließend kümmere sich „discovering hands“ um alles Weitere, etwa die Jobvermittlung. Die Frauen sind im Unternehmen fest und unbefristet angestellt und werden von dort aus an die Arztpraxen oder Kliniken vermittelt. Die Entscheidung, ihre Massagepraxis aufzugeben, fiel ihr leicht: „Immer alleine zu arbeiten, das macht auf Dauer nicht so viel Spaß. Jetzt kann ich die Begabung, die ich durch das Handicap entwickelt habe, nutzen.“

Kaum größer als ein Stecknadelkopf

Ineke Hovenkamp zieht einen kleinen weißen Stoffbeutel hervor. Das Band hat sich verknotet – sie bittet mich um Hilfe. Meine Hände sind zwar nicht so geschickt wie ihre, doch den Knoten kann ich für sie lösen. In dem Beutel verbirgt sich ein Band mit sechs verschieden großen Kugeln. Die kleinste ist kaum größer als ein Stecknadelkopf.

„Ich kann die zwei kleinsten Kugeln ertasten“, betont sie. „Finde ich eine Auffälligkeit, rufe ich sofort den Arzt in meinen Behandlungsraum – er nimmt dann weitere Untersuchungen vor.“

Der Frauenarzt Dr. Sylvio Schmidt wird uns später erklären: „Zu 70 Prozent ertasten Frauen ihren Brustkrebs selbst. Meist ist der Tumor dann aber schon ein oder zwei Zentimeter groß.“ Das entspricht den größten Kugeln der Kette. „Frauenärzte können meist noch die zwei folgenden, kleineren Kugeln ertasten“, so Schmidt.

Er betont: Die Untersuchung bei einer Medizinischen Tastuntersucherin sei kein Ersatz für einen Arztbesuch oder eine Mammografie, sondern ein weiterer Teil der Brustkrebsvorsorge. „Aber ein wichtiger!“

Dr. Markus Lütge, Ärztlicher Direktor des Medizinischen Versorgungszentrums, ist ebenfalls sehr froh darüber, dass Ineke Hovenkamp nun zu seinem Team gehört: „Die MTU erweitert unser Diagnosespektrum für Brustkrebs sehr wirkungsvoll.“

Nicht nur die Brust – der ganze Oberkörper wird untersucht

„Wollen wir mit der Untersuchung beginnen?“, fragt die 45-Jährige. Ich nicke. Nichts passiert. Ich laufe rot an und merke, dass ich „Ja“ sagen muss. Ich ziehe mich aus, und bevor sie mich berührt, erklärt sie mir genau, was sie macht: wo sie mich gleich anfassen wird und was genau dort zu fühlen ist. Am Anfang streicht sie vorsichtig vom Hals über meine Brust bis zur Höhe meines Bauchnabels, als wolle sie ein Gefühl für die Form meines Körpers bekommen.

Ihre Hände sind angenehm warm: „Ich habe Glück, dass mir von Natur aus immer sehr warm ist“, erklärt sie. „Aber ich achte darauf, dass meine Fingernägel immer kurz sind, damit es für die Patienten angenehm ist und ich sie nicht kratze.“ Dann geht es mit den Lymphknoten weiter. Nicht nur die Brust wird untersucht, mein ganzer Oberkörper, Hals und die Achselhöhlen. Vorsichtig drückt sie zu und fährt in kreisenden Bewegungen über meine Lymphknoten am Schlüsselbein. Dann soll ich die Arme heben, damit sie auch die Stellen unter ihnen ertasten kann. Das kitzelt.

Ich darf mich hinlegen. Auf der Liege befindet sich ein Stillkissen. Ineke Hovenkamp ertastet sich ihren Weg um die Liege herum und kramt in den Schubladen. Sie kommt mit rot-weiß-geringelten Papierstreifen wieder zu mir und erklärt: „Die Klebestreifen dienen als Raster für das Gutachten. Wenn ich etwas finde, kann ich genau aufschreiben, an welcher Stelle die Auffälligkeit ist.“

Die Untersuchung dauert etwa 45Minuten

Ineke Hovenkamp untersucht meine Brust in vier Zonen und verteilt fünf von den Klebestreifen auf meinem Körper. Jeweils ein Streifen kommt genau über die Mitte meiner Brust. Sie legt ein kleines Wattepad auf meine Brustwarze und beruhigt: „Dann tut es nachher beim Abziehen der Streifen nicht weh.“ Der letzte Streifen kommt in die Mitte. Etwa fünf Zentimeter unterhalb meines Kehlkopfes klebt sie ihn, parallel zu meinen Brüsten auf.

Um an alle Stellen meines Körpers zu kommen, wechselt sie immer wieder ihre Position. Als alles aufgeklebt ist, bleibt sie stehen und bittet mich, näher an sie heranzurücken. Vorsichtig rutsche ich in Richtung ihrer Hände.

Sie untersucht sorgfältig. Sie ist konzentriert, ganz bei der Sache. Es dauert.

Plötzlich stoppt sie ihre kreisenden Bewegungen. Ihre Hände harren aus. Die Gesichtszüge sind angespannt. Sie legt die Stirn in Falten. Ich traue mich nicht zu fragen, was los ist – so konzentriert wirkt sie. Ob ich es ihr ansähe, wenn sie etwas spüren würde, was dort nicht hingehört?

Eine Frage, auf die ich zum Glück keine Antwort erhalte. Nach dieser kurzen Schrecksekunde, entspannt sich ihr Gesicht wieder – und die Hände gleiten zur nächsten Stelle.

Nach 45 Minuten das erlösende Ergebnis: Ineke Hovenkamp hat keine Auffälligkeiten ertastet. Als ich mich wieder anziehe, will ich von ihr wissen, ob sie in der Lage sei, gezielt Krebs zu ertasten, aus dem Knoten schließen zu können, ob er gut- oder bösartig ist? „Nein“, sagt sie. Das könne sie nicht. „Ich kann nur Auffälligkeiten ertasten. Aber die haben zum Glück selten etwas Schlimmes zu bedeuten.“