Hannover. Der Ministerpräsident spricht über Verantwortung, die Große Koalition und Unterschiede zwischen Niedersachsen und dem Bund.

Spätestens seit seinem Sieg bei der vorgezogenen Landtagswahl im Oktober ist Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil eine der prägenden Figuren in der SPD. Philipp Neumann und Andre Dolle sprachen mit ihm.

Herr Ministerpräsident, wenn sich einer Ihrer Minister nicht an den Koalitionsvertrag hält und auch nicht an die Vorgaben aus der Staatskanzlei – wie reagieren Sie?

Wenn so etwas in Niedersachsen wirklich vorkäme, dann hätte das sehr ernste Konsequenzen. Ich würde entweder die dunkelgelbe oder die rote Karte zeigen.

Bundesagrarminister Christian Schmidt hat eigenmächtig der Weiterverwendung des Unkrautgifts Glyphosat zugestimmt, was die SPD nun schwer empört. Muss Schmidt zurücktreten, damit die Gespräche mit der Union gelingen?

Ich kann der Bundeskanzlerin da keinen Rat erteilen. Soweit im Nachhinein bekanntgeworden ist, hatte sie dem Minister klare Weisungen geben lassen. Sie muss zeigen, dass sie ihren Laden im Griff hat. Klar ist aber, dass das Vertrauen zu CDU und CSU dadurch ernsthaft und unnötig belastet ist.

Am Donnerstagabend waren die Spitzen von Union und SPD beim Bundespräsidenten. Was hat Ihr Parteichef berichtet?

Wie Martin Schulz selbst gesagt hat: Die SPD ist bereit zu Gesprächen mit der Union – ernsthaft und ergebnisoffen.

In welcher Weise sollen Union und SPD zusammenarbeiten?

Es sind mehrere Formen denkbar. Natürlich muss auch über die Große Koalition gesprochen werden. Aber man sollte ernsthaft Alternativen wie eine Minderheitsregierung prüfen. Eine Neuwahl wäre die schlechteste Option.

Sie sind frisch gewählter Ministerpräsident einer Großen Koalition. Können Sie die empfehlen?

Es gibt einen großen Unterschied zum Bund: Die SPD in Niedersachsen hat einen klaren Wählerauftrag, aber auch die CDU hat hier Rückhalt in der Bevölkerung. Im Bund gab es am 24. September die klare Ansage an die SPD: Ihr habt keinen Regierungsauftrag, erneuert euch in der Opposition. Jetzt gibt es eine neue Situation. Ohne die SPD kommt keine handlungsfähige Bundesregierung zustande. Wir müssen uns fragen, ob wir nur auf uns selbst schauen dürfen. Die SPD hat sich immer auch für das große Ganze verantwortlich gefühlt.

Was ist Ihre Empfehlung?

Die SPD darf der Verantwortung nicht ausweichen. Das muss nicht in einer Großen Koalition enden. Aber: Wir tragen eine Mitverantwortung dafür, dass in Deutschland wichtige neue politische Weichenstellungen getroffen werden, die das Land zukunftsfähig machen und der sozialen Spaltung entgegenwirken. Ich hoffe, dass viele SPD-Mitglieder diesem Gedanken folgen können, wenn auch nicht mit Begeisterung.

In einer Minderheitsregierung hätte die SPD kein eigenes Personal. Was gewönnen Sie dadurch?

Diejenigen, die eine Minderheitsregierung gut finden, weisen darauf hin, dass wir damit unter Beweis stellen, dass wir den Wählerwillen verstanden haben, aber dennoch Verantwortung übernehmen. Angeführt wird auch das Argument, dass man so parlamentarische Rituale aufbrechen könnte.

Passt das zu der Stabilität, die Sie einfordern?

Deutschland hat keine Erfahrung mit wechselnden Mehrheiten. Wir wissen nicht, ob das wirklich gelingen könnte und wir stabile Verhältnisse hätten. Übrigens: Beide Parteien haben stark verloren. Ein Weiter so kann es also in keinem Fall geben, auch unabhängig von der Regierungsformation.

Was muss anders werden bei der SPD?

Wenn die SPD mehrheitsfähig sein will, muss sie nicht nur auf soziale Gerechtigkeit achten. Sie muss auch wieder stärker Wirtschaftskompetenz zeigen. Wahlen werden in der gesellschaftlichen Mitte gewonnen. Bei der Bundestagswahl hat gerade etwas mehr als jedes vierte Gewerkschaftsmitglied SPD gewählt. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen war es fast jedes zweite. Die SPD muss näher an die Menschen ran, viel mehr vor Ort präsent sein. Und sie muss sich auf besonders wichtige Themen konzentrieren.

Was halten Sie von den Plänen der Union zum Thema Migration und Flüchtlinge?

Ganz ehrlich: Ich habe diesen geheimnisvollen Kompromiss von CDU und CSU noch immer nicht verstanden. Für die SPD ist das Grundrecht auf Asyl nicht verhandelbar. Wir müssen auch mehr für die Integration tun. Wir hätten wohl auf allen Politikfeldern genügend Stoff, um ein überzeugendes Programm für eine Zusammenarbeit zu finden. Auch die Union kann kein Interesse an einen „Weiter so!“ haben. Aber zunächst ist der SPD-Parteitag am Zuge.

Welche Rolle spielt der Parteichef? Martin Schulz wirkt nicht, als habe er einen klaren Kompass.

Da täuschen Sie sich. Die SPD muss gerade schwierige Entscheidungen fällen, da muss der Kompass immer mal wieder neu austariert werden. Die niedersächsische SPD und auch ich persönlich unterstützen Martin Schulz bei dieser schwierigen Aufgabe.

War es falsch, dass sich Schulz nach dem Platzen der Jamaika-Verhandlungen gegen eine Große Koalition und für eine Neuwahl aussprach?

Nach den Bundestagswahlen war dieser Standpunkt völlig richtig. Nach dem Scheitern von Jamaika haben wir aber eine andere Situation. Deswegen haben wir inzwischen unseren Standpunkt überprüft. Beides waren keine einsamen Entscheidungen, sondern sind von der gesamten Parteispitze getragen worden.

Noch einmal: Weiß der Parteichef, wohin er will?

Ja, natürlich.

Sagen Sie es uns?

Da kann ich mich auf alles das beziehen, was ich Ihnen gesagt habe.

Und das ist Schulz’ Haltung?

Davon können Sie ausgehen. Die Parteiführung hat das ausführlich diskutiert. Die SPD steht vor großen Herausforderungen. Wir haben das Ergebnis der Bundestagswahlen verstanden und waren bereit, in die Opposition zu gehen. Jetzt ist Frau Merkel mit Jamaika gescheitert und ohne die SPD gibt es keine Regierungsbildung. Das ist eine schwierige Diskussion in der SPD. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass die Parteiführung gemeinsam handelt.

Schulz will Parteichef bleiben. Wäre Olaf Scholz nicht besser geeignet?

Erstens: Ich unterstütze meinen Parteivorsitzenden nachdrücklich. Zweitens: Ich schätze Olaf Scholz außerordentlich. Drittens: Auf dem Parteitag kandidieren Martin Schulz als Vorsitzender und Olaf Scholz als sein Stellvertreter. Deshalb muss ich da keine Auswahl treffen.

In einem Parlament mit fünf Parteien wie im Landtag oder sechs Parteien wie im Bundestag werden Bündnisse schwieriger. Wird die Große Koalition auch in Niedersachsen zu einer Art Dauerlösung?

Eine Große Koalition hat Risiken und Nebenwirkungen. In Niedersachsen funktioniert das Modell von zwei großen, starken Volksparteien noch: Wir haben eine SPD mit fast 37 Prozent und eine CDU mit mehr als 33 Prozent. Dass eine Dreiviertelmehrheit im Parlament nicht der Idealzustand einer parlamentarischen Demokratie ist, liegt auf der Hand. Eine Große Koalition war nicht das Ziel der SPD und auch nicht der CDU im Wahlkampf. Wir haben uns nichts geschenkt. Es ist nun aber genug Substanz da, um das Land fünf Jahre lang gemeinsam gut zu regieren.

Im Gegensatz zum eher langweiligen Bundestagswahlkampf haben Sie sich bei der Landtagswahl einen Schlagabtausch mit dem CDU-Kandidaten Bernd Althusmann geliefert – auch beim Thema VW. Nun sitzen Sie gemeinsam im Aufsichtsrat. Wie kann das klappen?

Wir gehen beide mit gutem Willen in diese Zusammenarbeit hinein. Wissen Sie, Herr Althusmann und ich hatten vor Beginn der Sondierungen keine Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden. Das ist nun geschehen. Wir sind beide Vorsitzende von Parteien, die jede für sich den Anspruch hat, bei der nächsten Landtagswahl die Nase vorne zu haben. Ich bin aber sehr zuversichtlich, was die Stabilität dieser Landesregierung anbetrifft – das gilt auch in Bezug auf VW.

Tausende von Flüchtlingshelfern in Niedersachsen haben Bürgschaften für Syrer übernommen. Die Landesregierung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die Helfer im Regen stehen zu lassen. Warum gibt es keinen Hilfsfonds für diese Leute, die sich engagiert haben?

Ich kann den Ärger ausdrücklich verstehen. Die Helfer sind davon ausgegangen, dass ihre Bürgschaft so lange gilt, bis der Aufenthaltsstatus der Flüchtlinge geklärt ist. Dass sie jahrelang den Lebensunterhalt von Flüchtlingen zahlen sollen, kann nicht das Ergebnis sein. Es ist völlig richtig, dass Innenminister Boris Pistorius auf den Bund zugegangen ist, um eine bundesweite Lösung zu finden. Es kann nicht sein, dass die Bürger auf den Kosten sitzenbleiben.

Die Grünen bezeichnen das als „Ping-Pong-Spiel“.

Nein, das Problem besteht ja nicht nur in Niedersachsen, sondern bundesweit. Deswegen kommen Landesmaßnahmen nur nachrangig in Betracht.

Niedersachsen hat aber ausdrücklich dafür geworben, dass diese Patenschaften übernommen werden.

Das stimmt, und auch ich war baff, zu hören, dass die Bürgerinnen und Bürger für eine lange Zeit in Haftung genommen werden sollen. Es geht jetzt um die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass dieser unerträgliche Zustand endet. Da ist der Bund in der Vorhand.

Die Braunschweigerin Carola Reimann ist eine der wenigen Frauen in Ihrem Kabinett. Der Landesfrauenrat fordert bereits eine Quote. Wird es die mit Ihnen geben?

Was die niedersächsische SPD angeht, erlaube ich mir den Hinweis auf die Landtagspräsidentin Gabriele Andretta und auf die Fraktionsvorsitzende Johanne Modder. Beide Funktionen sind mindestens gleichgewichtig zu der von Ministerinnen. Die SPD kann sich also blicken lassen. Es geht auch weniger um die Frage von Quoten, sondern um die Frage des politischen Bewusstseins.

Sie haben sich jahrelang mit der CDU über die Schulpolitik gestritten. Herrscht jetzt Frieden?

Ja. Der Streit um die Gesamtschule hat sich erledigt. Sie haben nun ihren festen Platz in der Schullandschaft. Dieser ist nicht übertrieben groß, aber unangefochten. Das Gymnasium ist nach wie vor die stärkste Schulform in der Sekundarstufe. Und für beide Parteien ist auch klar: Wir wollen die Inklusion.