Braunschweig. Wie lässt sich das Verhältnis von Technik und Weltoffenheit beschreiben? Die Professorin Nicole C. Karafyllis wirbt für ihr Fach.

Das Fach, das ich vertrete, die Philosophie, ist für Orientierungswissen zuständig. Wir klären Begriffe und Modelle, die Basis für den Fortschritt und für dessen ethische Grenzen sind. Im besten Fall funktionieren wir wie ein Seismograph oder Frühwarnsystem. Auf Basis historischer und begrifflicher Analyse versuchen wir zu erfassen, welche Veränderungen uns bevorstehen könnten. Dabei achten wir auf Diskurse, die getrennt voneinander verlaufen, sich aber gegenseitig ungewollt strategisch stützen. Das geschieht, wenn Ideen, Bilder und Begriffe ein gedankliches Feld bereiten, das auch für andere Zwecke bestellt werden kann.

Wer hätte vor knapp 50 Jahren gedacht, dass der erstmalige Anblick unseres blauen Planeten, ein technisches Bild, in der Lage ist, so verschiedene Dinge zu kanalisieren wie die Umweltbewegung und die Aufrüstung des Weltraums? Die Verletzlichkeit der Erde und ein neues Minderwertigkeitsgefühl des Menschen, der ja auf dem Bild gar keine Rolle mehr spielt? Und dass es nicht lange dauern würde, bis einige Kultur- und Naturwissenschaftler mit der Sorge um das große Ganze des Planeten das Ende des Anthropozentrismus einfordern, die Tiere zu den besseren Menschen erklären und sogar für die Abschaffung des Menschen plädieren würden? Das ist die Ist-Situation der letzten zehn Jahre, man forscht tatsächlich auch in meiner Disziplin nun zum „Posthumanismus“ – zur Ära eines Neumenschen, meist eine Mischung aus Tier und Maschine. Wie traurig und wie menschenverachtend!

Doch, Philosophen wie Günther Anders und Hannah Arendt haben bereits in der Nachkriegszeit darüber nachgedacht. Aber sie waren zu früh mit ihren Kulturanalysen. Oft ist man nicht bereit, Philosophen zuzuhören, weil sie gerade bei der kollektiven Begeisterung stören. Aber konstruktive Störung ist und bleibt die Aufgabe der Philosophie. Wie könnte sie Orientierung leisten, wenn sie sagt, was alle sagen? Hannah Arendt hat bereits 1958 (in „Vita activa“) eingedenk der ersten Satelliten formuliert, dass es eben keinen „archimedischen Standpunkt“ im All gäbe, von dem aus die Welt zu beobachten und kontrollieren ist. Den Planeten, ja. Die Welt, wie sie uns wichtig ist, als eine Heimat, als eine soziale Welt der Mitmenschlichkeit und des politischen Handelns: nein.

Derartige Begriffsunterschiede wie die von Planet und Welt bleiben wichtig, um zu verstehen, wie Wissenschaft und Technik unsere Wahrnehmung beeinflussen. Für mich ist eine philosophische Zukunftsfrage, wie man das Verhältnis von Technik und Weltoffenheit beschreiben kann. Das heißt, dass man beides, Technik und Welt, noch in Alternativen denken kann, sei es bei der Digitalisierung, in der Landwirtschaft, in der Mobilität und – ganz wichtig – bei den neuen Tötungsrobotern der Militärtechnik, die auf künstliche Intelligenz setzen. Weltoffenheit ist wichtig, denn uns wird ständig suggeriert, dass die Welt enger und begrenzter wird, dass wir von der Technik kontrolliert werden wie von dunklen Mächten und dazu überrannt von unseresgleichen, den Menschen.

Ich beobachte allerdings, dass viele Geistes- und Kulturwissenschaftler nur noch ungern Mühe auf die „harte Arbeit am Begriff“ (Hegel) verwenden und sich selbst eher affektiv den naturwissenschaftlich-technischen Konzepten zuwenden. Am Vorwurf des post-faktischen Zeitalters sind viele Wissenschaften nicht ganz unschuldig, wobei es nun Aufgabe ist, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Fakten müssen immer offen für Interpretation bleiben. Wie der lateinische Name sagt, sind sie menschengemacht – und unterliegen menschlichen Fehlern. Nach den Tatsachen kommen die Phasen des Nachdenkens, des Dialogs, der Diplomatie, des Kompromisses. Die können wir nicht missen wollen, aber sie müssen gelernt und lebendig gehalten werden. Dafür setzt sich die Philosophie ein. Ich mag den Ausdruck „sich ein Urteil erlauben“. Ein Urteil muss auf Begründung und sprachlicher Schärfe fußen, nicht auf catchwords, keywords oder Hypes. Deshalb ist die Philosophie ein Fach, das heute dringender gebraucht wird denn je. Denn (mit Wittgenstein) bedeuten die „Grenzen meiner Sprache“ auch „die Grenzen meiner Welt“. Wer sich nicht klar ausdrücken kann, kann nicht klar denken.

Am allermeisten haben die Natur- und Technikwissenschaften von der Philosophie profitiert, und umgekehrt. Ohne diesen Dialog hätte es keine Aufklärung gegeben. Und das ist auch heute so. Von daher bin ich glücklich, in der Forschungsregion Braunschweig gleich mehrere Ansprechpartner für meine Projekte zu haben. Hier nenne ich nur eines: Die Zukunft der Biobanken. Denn die Forschungsregion ist ein Zentrum des europäischen Biobankings. Die größten Sammlungen von Saatgut und Mikroben liegen hier. Mich interessiert: Welche Lebewesen werden wie und warum gesammelt? Welche Biodiversität wollen und können wir in der Genbank erhalten? Brauchen wir noch die lebendige Welt „da draußen“? Hier arbeite ich mit dem Julius-Kühn-Institut und der Mikrobenbank DSMZ zusammen, auch mit der Pflanzengenbank am nahen IPK Gatersleben in Sachsen-Anhalt. Die Zukunft der Landwirtschaft ist ein Schlüsselthema dieses Jahrhunderts. An ihr hängt vieles: Ernährung, Gesundheit, Migration, Klima und Landschaftsbild. Und vielleicht auch, ob wir die Erde noch als unsere Heimat und lebenswerte Welt begreifen werden.