Braunschweig. Die Pflegesituation in den Krankenhäusern unserer Region ist ernst. Schuld sind laut Kritikern die Fallpauschale und vermehrtes Profitdenken.

Unser Leser Glen Mapp (65) aus Weddel sagt:

Weniger Krankenpfleger müssen mittlerweile mehr arbeiten. Früher gab es mehr Kollegen, man konnte häufiger Pausen machen.

Die Antwort recherchierte Stefan Lienert

Blutig wird wohl heute niemand aus deutschen Krankenhäusern entlassen. Und doch spielt diese Vokabel noch immer eine Rolle, wenn es um die Fallpauschale geht, die mit ihrer Einführung im Jahr 2004 für massive Veränderungen im Klinikbetrieb gesorgt hat. Für jede Diagnose bezahlen die Krankenkassen seit 13 Jahren einen fixen Betrag. Sollte ein Patient außergewöhnlich lange im Krankenhaus bleiben, macht es Verluste. Aus diesem Grund werden viele schon recht früh entlassen – auch wenn die Operation noch nicht ganz verheilt ist.

„Der Markt zwingt die Krankenhäuser, die für sie ertragreicheren Eingriffe vorzunehmen.“
„Der Markt zwingt die Krankenhäuser, die für sie ertragreicheren Eingriffe vorzunehmen.“ © Alexander Jorde, Krankenpfleger aus Hildesheim

„Wie in allen Krankenhäusern ist auch bei uns die Situation in der Krankenpflege häufig angespannt. Grund ist die unzureichende Betriebskostenfinanzierung durch diese Pauschale“, spricht Ulrich Heller, Pflegedirektor am Klinikum Braunschweig, das Problem an. Matthias Schultz, Sprecher des Helios-Klinikums Gifhorn, sieht es etwas anders: „Neue und bessere Therapien und OP-Verfahren führen zu kürzeren Genesungsprozessen und damit zu kürzeren Krankenhausaufenthalten.“

Patientenwechsel sorgen für Mehrarbeit bei den Krankenpflegern, meint Martina Hasseler, Professorin für Gesundheitswesen an der Ostfalia. „Bei jedem Wechsel kommt eine neue Situation, eine neue Diagnose auf die Pfleger zu.“ Der Hildesheimer Krankenpfleger-Azubi Alexander Jorde, der in der ARD-Sendung „Wahlarena“ Mitte September gegenüber Angela Merkel das Thema Pflege medienwirksam aufgegriffen hatte, bekommt die Situation hautnah mit. „Die Verwaltung der Fälle ist immens“, sagt der 21-Jährige unserer Zeitung. „Oft interessiert die Krankenhäuser nur noch, wie sie am meisten Geld verdienen können und nicht mehr, welche Behandlung für den Patienten am besten ist.“ Die Häuser würden den Gesetzen des Marktes unterliegen. Eine konservative Behandlung werde häufig ausgeschlagen und eine Operation angesetzt, weil sie das Zehnfache an Geld bringt.

„Vor mehr als 40 Jahren kamen auf einen Ausbildungsplatz zehn Bewerber.“
„Vor mehr als 40 Jahren kamen auf einen Ausbildungsplatz zehn Bewerber.“ © Axel Reichinger, Verdi-Gewerkschaftssekretär für Süd-Ost-Niedersachsen

„Krankheiten werden vermarktet“, drückt es Pia Zimmermann, pflegepolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, aus. „Es geht nicht mehr um den Menschen.“ Sie meint damit auch die fortlaufende Privatisierung der Kliniken. Am Ende stünden Gewinne, die nicht nur den Patienten zugutekommen, sondern in Form von Renditen auch an die Aktionäre ausbezahlt werden.

Um wie viele Patienten muss sich ein Krankenpfleger kümmern?

Einen gesetzlich festgelegten Personalschlüssel gibt es nicht – zu Lasten der Arbeitskräfte. Ein Pfleger muss sich in einem deutschen Krankenhaus um 13 Patienten kümmern, in Norwegen 5,4, in den USA liegt die Zahl bei 5,3. Das hat die Hans-Böckler-Stiftung ermittelt. Die Bundesrepublik nimmt beim internationalen Vergleich der Industrieländer also einen hinteren Platz in der Pflege ein. Nachts ist jeder Pfleger für 26 Patienten zuständig. „Bei den Zahlen muss berücksichtigt werden, dass es Durchschnittswerte sind“, ergänzt Professorin Hasseler. „Da etwa auf der Intensivstation das Zahlenverhältnis höher ist, haben Pfleger auf normalen Stationen mit viel mehr Patienten zu tun, gerade nachts“, sagt die Forscherin.

„Viele Krankenpfleger wollen nicht mehr Geld, sondern wünschen sich mehr Kollegen.“
„Viele Krankenpfleger wollen nicht mehr Geld, sondern wünschen sich mehr Kollegen.“ © Pia Zimmermann, pflegepolitische Sprecherin der Linken aus Wolfsburg

„Mir sind Fälle bekannt, dass sich eine examinierte Kraft um 60 Patienten und mehr kümmern muss“, erzählt Zimmermann. „Wenn ich in Krankenhäusern unterwegs bin und Pfleger frage, welchen Wunsch sie haben, antworten die allermeisten, sie wollen nicht mehr Geld, sondern wünschen sich mehr Kollegen.“ Verdi-Gewerkschaftssekretär Axel Reichinger für die Region Süd-Ost-Niedersachsen sagt: „Die jetzige Personalausstattung ist in vielen Häusern gerade einmal so hoch, wie bei Streiks vor Jahrzehnten.“ Kurz, laut Zimmermann: „Die Situation ist desaströs.“

Wie steht es um den Nachwuchs im Bereich Krankenpflege?

Geht es nur um Ausbildungszahlen, dürfte sich unsere Region derzeit keine Sorgen machen, was den Nachwuchs angeht. Einige Krankenhäuser und Kliniken teilten auf Anfrage mit, dass die Plätze in den zumeist hauseigenen Pflegeschulen ausgebucht seien. Für das Helios-Klinikum Helmstedt wird sogar im kommenden Jahr ab April erstmals ein zweiter Ausbildungskursus an den Start gehen, schreibt Sprecherin Isabell Adam. Neben dem bereits bestehenden Seminar im Oktober würden dort ab dem Frühjahr 20 weitere Menschen ausgebildet.

„Bis zum Alter von 35 haben viele Pfleger den Beruf schon wieder verlassen.“
„Bis zum Alter von 35 haben viele Pfleger den Beruf schon wieder verlassen.“ © Martina Hasseler, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Ostfalia

Allerdings: „Wir merken, dass die Bewerberzahlen zurückgehen. Noch können wir uns die Auszubildenden aber aussuchen“, sagt Thomas Helmke, Pressereferent des Wolfsburger Klinikums. Auf verschiedenen Messen versuchen Mitarbeiter des Klinikums, Nachwuchskräfte zu gewinnen. Im Braunschweiger Klinikum sei die Bewerberzahl im Vergleich zu den Ausbildungsplätzen noch etwa dreimal so hoch. In der Helios-Klinik Herzberg/Osterode sind es laut Sprecherin Daniela Kasper maximal doppelt so viele. Verdi-Sekretär Reichinger begann 1974 seine Ausbildung zum Krankenpfleger. „Damals kamen auf 30 Plätze 300 Bewerber“, sagt er.

In der Region gibt es auch preisgekrönten Nachwuchs: Laura Vosskötter, Absolventin am Pflegeschulzentrum Goslar, wurde kürzlich bei der Berufe-WM in Abu Dhabi Sechste. Den zweiten Platz im Bundeswettbewerb der Krankenpflegeschulen haben Azubis der Ausbildungsstätte am Peiner Klinikum erreicht.

Wie groß sind die Chancen, übernommen zu werden?

Generell haben Absolventen in der Region bei guten Leistungen in der Ausbildung eine gute Chance, übernommen zu werden, sei es direkt im Hause oder konzernweit, etwa bei der Asklepios-Harzklinik in Goslar. In der Helios-Klinik in Helmstedt sind es nach eigenen Angaben ein Drittel der Absolventen, im städtischen Klinikum Wolfenbüttel laut Geschäftsführer Axel Burghardt „im Regelfall 50 Prozent mit deutlich steigender Tendenz“. Im Braunschweiger Klinikum bekommen in der Regel mittlerweile alle Auszubildende ein Übernahmeangebot. „Einige Auszubildende nehmen es jedoch nicht an, weil sie wieder zurück in die Heimat gehen“, schreibt Sprecherin Kristina Neddermeier.

Eine erste Delle in der Personalzahl lässt sich allerdings schon nach einigen Jahren feststellen. „Bis sie 35 sind, haben viele Pfleger den Beruf schon wieder verlassen. Sie kommen physisch und psychisch damit nicht mehr klar oder können ihre Kompetenzen, die sie etwa bei einem Studium erworben haben, nicht einbringen“, sagt Pflegeexpertin Hasseler. In der Region gebe es zudem mit VW einen großen Arbeitgeber, für den sich dann viele entscheiden.

Verdi-Sekretär Reichinger war 17 Jahre im Pflegedienst tätig. „Als junger Familienvater wurde es für mich hochbelastend. Zum einen hatte ich durch die Wochenend- und Nachtarbeiten wenig von der Familie. Zum anderen haben mich die Ereignisse im Intensivdienst oder im Operationssaal, vor allem wenn es um Kinder ging, stark mitgenommen.“

Hasseler: „Die wenigsten bleiben mehr als 40 Jahre in dem patientennahen Beruf tätig.“ Die Wissenschaftlerin warnt zudem vor dem aktuell relativ hohen Durchschnittsalter der Krankenpfleger in Deutschland von Ende 40. „In 10 bis 15 Jahren brauchen wir für all die Menschen, die dann in Rente gehen, Nachrücker.“

Eine Möglichkeit, wie diese gefunden werden könnten, probiert das Klinikum Braunschweig aus. Wenn Mitarbeiter einen examinierten Krankenpfleger für das Haus werben, gibt es 5000 Euro, sofern die Beschäftigung über die Probezeit hinaus erfolgt. Das Programm laufe laut Thu Trang Tran seit Februar 2017 zunächst bis Anfang 2018. „Bisher wurden über diese Aktion etwa 30 Beschäftigte eingestellt.“

Eine weitere Option könnte die kliniknahe Kita sein, etwa wie am Helios-Klinikum Salzgitter. Auf 24 Stunden soll das dortige Betreuungsangebot ausgeweitet werden, um die Eltern zu entlasten.

Generell müsse die Politik ein deutliches Signal an die Gesellschaft senden, dass es sich lohnt, diesen Beruf zu ergreifen, meint Braunschweigs Klinikums-Geschäftsführer, Dr. Andreas Goepfert. Wissenschaftlerin Hasseler ergänzt: „Der größte Fehler, den man machen kann, ist einem Krankenpfleger zu sagen, diese Arbeit könnte man selbst nicht machen. Das kommt bei ihm meist als Loser-Botschaft an.“

Alexander Jorde hat sich im vergangenen Jahr für die Ausbildung zum Krankenpfleger entschieden. Es sei ein komplexer Beruf, bei dem man viel über Menschen lernt. „Überwiegend macht der Job sehr viel Spaß.“ Er war bereits auf der Geburtsstation tätig, bekam Einblicke in die Notaufnahme und wurde auch mit dem Tod konfrontiert.

Sein Gehalt im ersten Lehrjahr betrug gut 1000 Euro brutto pro Monat, aktuell sind es 1100, im dritten Lehrjahr 1200. Zusätzlich bezieht er noch Kindergeld. Damit kommt Jorde, der in einer kleinen Wohnung lebt, zurecht. „Wir Azubis können uns im Dienst noch in einem geschützten Rahmen bewegen. Nachtschichten beginnen bei uns erst Ende des zweiten Lehrjahres. Wir dürfen auch Pausen machen. Bei den examinierten Kollegen ist das allerdings nicht mehr so.“ Krankenpfleger hätten eine große Verantwortung. „Wir sind die Case-Manager für den Patienten“, drückt der 21-Jährige es neudeutsch aus. „80 bis 90 Prozent der Krankenbeobachtung stammen von uns.“

Gibt es Verbesserungsideen gegen den Pflegenotstand?

Mit der Jamaika-Koalition wird es im Bezug auf die Pflege wohl keine großen politischen Veränderungen geben. Das erwarten Hasseler, Jorde, Zimmermann und Reichinger. „Es hilft nur eine Protestwelle sondergleichen, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Vernetzung ist zwingend notwendig“, sagt Zimmermann. „Der Eintritt in Gewerkschaften ist eine Möglichkeit“, schlägt Jorde vor. Er selbst ist vor kurzem bei Verdi eingetreten.

Eine Möglichkeit, um sichtbar auf das Problem aufmerksam zu machen, wäre nach Worten von Zimmermann eine Riesen-Kundgebung vor dem Bundestag. Eine kleinere Variante könnten auch Gespräche zum Beispiel von Führungspersonen im Pflegebereich sein, die kontinuierlich in Diskussionen oder Vorträgen auf das Problem hinweisen.

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Und einen Kommentar lesen Sie hier: Es schlägt 13 in der Pflege