Braunschweig. TU-Präsident Jürgen Hesselbach setzt darauf, dass Forschungszentren hochkarätige Wissenschaftler nach Braunschweig locken.

Eigentlich wollte Professor Jürgen Hesselbach zum 30. September seinen Posten als Präsident der TU Braunschweig räumen. Doch die Suche nach einem geeigneten Nachfolger zieht sich hin. Statt sich auf den geplanten Angelurlaub mit seinem Bruder vor La Gomera vorzubereiten, sprach er mit Armin Maus und Johannes Kaufmann über die Open-Hybrid-Lab-Factory (OHLF) und den Zustand der TU Braunschweig.

Am Mittwoch wurde die OHLF in Wolfsburg eröffnet. Welche Schwierigkeiten gab es auf dem Weg dorthin zu überwinden?

Wir haben hier zwei Institutionen zusammengebracht: die Wirtschaft und eine öffentliche Einrichtung. Das bringt viele offene Fragen mit sich, haushaltsrechtlich, steuerrechtlich. Das Beihilferecht muss berücksichtigt werden, denn mit öffentlichen Mitteln dürfen keine Industrieunternehmen subventioniert werden. Das verlangt komplizierte Konstruktionen, damit sichergestellt ist, dass wir beihilferechtskonform vorgehen.

Die Vorteile wiederum sieht man schon beim Bau. Der ist innerhalb von 17 Monaten über die Bühne gegangen. Unsere eigenen Bauprojekte brauchen wegen der vielen Auflagen immer etwas länger. Auch das Ausschreibeverfahren ist aufwendiger. Ich will nicht klagen, aber diese Probleme hat Volkswagen nicht. Die können sich ihre Dienstleister frei aussuchen und als Großkunde ganz anderen Druck aufbauen. Und die OHLF ist eine sehr komplexe, technisch hervorragend ausgestattete Einrichtung. Das Projekt ist nicht nur im Kostenrahmen geblieben, sondern konnte sogar noch Reserven für zusätzliche Anschaffungen ausschöpfen.

Sie sprechen das Beihilferecht an. Sie haben einen Weg gefunden, die Kooperation rechtskonform umzusetzen, aber bleibt das nicht am Ende doch eine öffentliche Subventionierung privater Unternehmen?

Die Technischen Hochschulen sind gegründet worden, um auch einen Beitrag zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit vorzugsweise der regionalen Unternehmen zu leisten. Nehmen wir die Geschichte unserer TU: Das erste Maschinenbaulabor an der damaligen TH wurde 1902 unter Mithilfe von Heinrich Büssing aufgebaut. Die ersten Drittmittel kamen ebenfalls von Büssing. Wir haben eine andere Geschichte als die klassischen Universitäten und ein anderes Verständnis von den Beziehungen zur Wirtschaft. Deswegen sage ich: Selbstverständlich sind wir auch für die Wirtschaft da, allein schon durch die Ausbildung für den Arbeitsmarkt. Sie können eine hochqualitative Ingenieurausbildung nicht machen, wenn Sie keinen Bezug zur realen Technik haben. Wir sind darauf angewiesen, uns an den aktuell relevanten Themen zu orientieren. Wir profitieren nicht nur im Rahmen von Aufträgen, sondern auch von wissenschaftlichen Impulsen. Da müssen wir nah dran sein. Dabei werden wir selbstverständlich keine Außenstelle von Volkswagen sein und uns unsere Unabhängigkeit bewahren. Unsere Stärke ist die Grundlagenforschung. Wir sehen uns deshalb mit den Unternehmen auf Augenhöhe.

Aber wie steht es um die Unabhängigkeit? Bei unseren Recherchen zum Diesel-Skandal hatten wir den Eindruck, dass einige Hochschullehrer abgetaucht sind.

Das bedaure und kritisiere ich auch. Und da sage ich: Bei allem Respekt vor großen Auftraggebern, wenn wir auf Dauer ernstgenommen werden wollen, müssen wir unabhängig sein und auch mal Bewertungen abgeben. Das hängt aber am Ende von einzelnen Personen ab. Wenn die das Selbstbewusstsein haben, zu sagen: Ich bin so gut, dass die Partner zu mir kommen, dann können sie auch Kritik äußern, ohne sich um Aufträge zu sorgen.

Hier in der Region ist es VW, im Süden sind es BMW und Daimler. Besteht durch solche Kooperationen nicht die Gefahr, dass nur die Großen weiter gestärkt werden, während der Mittelstand weniger Chancen hat, Zugang zu solchen Hochschulressourcen zu bekommen?

Ja, das ist ein Problem, über das ich auch schon häufiger mit dem IHK-Präsidenten Helmut Streiff gesprochen habe. Vor allem wenn das Führungspersonal keine akademische Ausbildung hat, gibt es bei vielen Mittelstandsunternehmen Schwellenängste. Und natürlich fehlt häufig auch quantitativ das Personal, um mit dem technischen Fortschritt mithalten zu können. Das ist hochgefährlich. Nehmen wir allein die Digitalisierung: Dadurch verändert sich so viel, beispielsweise auch bei den Geschäftsmodellen, dass ein Unternehmen schnell vom Markt verschwindet, wenn es da nicht mitkommt. Das ist existenzgefährdend. Wir bieten an vielen Stellen Anknüpfungspunkte für den Mittelstand, zum Beispiel über unsere Technologietransferstelle. Andererseits darf man auch die Großen nicht überschätzen. Die sind manchmal wie ein Tanker. Da muss man nur ein wendiges Unternehmen wie Tesla mit unseren großen Autokonzernen vergleichen.

Wie sehen sie die Neuausrichtung von VW wegen des Abgas-Skandals mit Bezug zur OHLF? Ist das eher eine Chance oder doch vor allem ein Risiko? Die Einrichtung funktioniert ja nur, wenn sie auch gebucht, also genutzt wird.

Das ist richtig. Ich sage immer: Ich schließe dieses Unternehmen in mein tägliches Abendgebet ein. Das hat damit zu tun, dass wir von den Problemen bei VW ebenfalls betroffen sind. Die Industrieauftragsforschung macht bei uns 25 Prozent aus, und die wird im Wesentlichen durch die Automobilindustrie bestimmt. Ein hoher Anteil kommt durch die Zusammenarbeit mit den Autokonzernen und den Zulieferern. Jetzt wurde bei VW ein großer Teil der Führungsriege ausgewechselt. Das wirkt sich auch auf die personelle Zusammenarbeit aus – wir müssen uns erst einmal kennenlernen. Die OHLF lebt letztlich davon, dass sie auch von VW mitbespielt wird.

Die zweite Sorge bezieht sich auf den Arbeitsmarkt. Wir sind eine sehr attraktive Hochschule, weil wir mit den Anforderungen des Arbeitsmarkts kompatibel sind. Wenn VW jetzt prüft, wie das Personal reduziert werden kann, kann das schlimmstenfalls auch den Einstellungsstopp eines Teils unserer Absolventen bedeuten.

Bietet nicht aber gerade die Werkstoffforschung eine große Chance in dieser Situation?

Ja genau. Seit der Steinzeit, seitdem die Menschheit sich mit Technik beschäftigt, spielen Werkstoffe eine wichtige Rolle. Die Verbundmaterialien, die an der OHLF erforscht werden, sind ein Megathema.

Ein ähnliches Kaliber hat die Batterieforschung. Da würde ich mich freuen, wenn VW sich für eine Fertigung hier in der Region entschiede, denn da sind wir mittlerweile auch sehr gut aufgestellt.

Wie steht es denn um die Kompetenz der TU Braunschweig bei der Elektromobilität?

Wir sind traditionell gut beim Elektroantrieb. Bei den Großantrieben, etwa für die Magnetschwebebahn, ist hier in Braunschweig schon lange sehr viel Kompetenz vorhanden. Bei der Batterie ist es vor allem die Fertigungstechnologie, was entscheidend wäre für die Fertigung hier vor Ort. Defizite haben wir ganz eindeutig in der Elektrochemie, also bei den Grundlagen der Batterietechnik.

Gibt es Planungen für eine Stärkung dieses Gebiets?

Zumindest wollen wir das Thema in Kooperationen stärker angehen. Die Elektrochemie ist leider flächendeckend an den deutschen Universitäten runtergefahren worden, weil die Batterie als nicht mehr interessant galt. Es gibt nur noch wenige Kompetenzzentren wie in Münster oder Ulm. Das kann man nicht aus dem Stand ohne weiteres wieder aufbauen.

Das Erreichen der Zielvorgaben von einer Million Elektroautos bis 2020 hängt aber von Fortschritten in der Batterietechnik ab. Wäre es da nicht der nächste logische Schritt für die TU, sich in diesem Gebiet stärker aufzustellen?

Das muss mein Nachfolger entscheiden. Ich würde mir wünschen, dass wir jemanden gewinnen, der Forschung einen hohen Stellenwert einräumt und der weiß, was wir hier in der Region haben. Es muss also ein Mann oder eine Frau der Forschung und der Vernetzung sein. Die Stärke von Braunschweig ist nicht die TU allein, sondern dass wir das DLR, die PTB, das Helmholtz-Zentrum und all diese anderen Institutionen haben. Mit denen berufen wir Professoren. Als ich als Präsident begonnen habe, hatten wir nur mit Fraunhofer gemeinsam Berufungen. Das ist ein Element der Vernetzung, und ich bin stolz darauf, dass wir das so hinbekommen haben.

Aber natürlich mache ich mir Sorgen, was aus den Zentren und dem Forschungsnetzwerk wird. Wenn man zwölf Jahre so etwas gemacht hat, dann geht man nicht einfach, ohne sich zu sorgen, was anschließend geschieht. Dafür hätte ich die zwölf Jahre auch lustiger verbringen können.

Wie steht die TU am Ende der Ära Hesselbach da?

Wir werden dieses Jahr auf 20 000 Studierende kommen. Wir haben erneut mehr Bewerbungen als im vergangenen Jahr. Aber Quantität allein reicht nicht. In manchen Fächern sind die Schwundquoten hoch. Das ist ein Problem. Nicht nur wie traditionell in Mathematik, sondern mittlerweile auch in Deutsch sind die Kenntnisse von Abiturienten teils erschreckend. Sich zu rühmen, dass man Mathe nicht kann, war immer schick. Aber Deutsch nicht zu können…

Im Moment überlegen wir, ob wir in manchen Fächern, bei denen wir überausgeschöpft sind, also mehr Studenten als Studienplätze haben, Beschränkungen einführen. Nur so können wir weiterhin unser hohes Betreuungsniveau erhalten.

Und wie steht es um die Finanzen?

Das Problem ist nicht, dass kein Geld im System wäre, sondern dass viele Gelder projektgebunden sind – Mittel aus dem Hochschulpakt, Studienqualitätsmittel. Es gibt viele zeitlich befristete oder an Bedingungen geknüpfte Mittel. Das macht es uns schwer, weil wir die zum Beispiel nicht für die Renovierung der Altsubstanz nutzen können. Mehr als die Hälfte unserer Gebäude stammen aus den 1960er und 70er Jahren. Da haben wir einen immensen Sanierungsstau, und es würde uns sehr helfen, wenn wir unsere Gelder einfach so einsetzen könnten, wie wir es für angebracht halten.

Es gibt bestimmte Fächer, da können wir keine Berufungen mehr machen, weil die Gebäude niemandem zuzumuten sind. Schauen Sie sich die technische Chemie am Rebenring an: grauenvoll!

Auch das Physikgebäude zerbröselt.

Dazu kann ich aber etwas Positives sagen: Wir haben jetzt für den kommenden Doppelhaushalt geplant, dass wir Physik, Pharmazie und Chemie in vier Tranchen sanieren werden. Die TU wird da mit etwa 30 Prozent Eigenmitteln beteiligt sein – bei einem Projektumfang von mindestens 70 Millionen Euro. Im Gegenzug werden wir die Gebäude in der Hans Sommer Straße vermutlich aufgeben. Ich kann durchaus mit Stolz sagen, dass in den vergangenen zwölf Jahren richtig viel passiert ist. Allein die großen Projekte haben einen Umfang von 250 Millionen Euro.

Sie sprechen gern von der Forschungsrendite, die im Anschluss an den Bau der Zentren in Form tatsächlicher Arbeit eingefahren werden muss. Wie sieht es da aus?

Im Großen und Ganzen läuft es prima. Beim NFF geht es bei der Industrieauftragsforschung gut, aber die VW-Krise geht da nicht spurlos vorbei. Das merkt man, aber es ist nicht dramatisch. Ich wünsche mir noch mehr Erfolg bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Grundlagenforschung. Wenn wir bundesweit mithalten wollen, muss da richtig Zug reinkommen. Neue Gebäude und Labore ermöglichen ja auch, ganz andere Kollegen nach Braunschweig zu locken. In eine marode Bude bekommen Sie keinen Hochkaräter. Am BRICS, am NFF und für die Luftfahrtforschung sind die Arbeitsbedingungen top, die Ausstattung der OHLF ist locker bundesweit, wenn nicht international konkurrenzfähig. Die jetzt entstehende Dynamik muss unbedingt aufrechterhalten werden. Das ist eine Aufgabe für die Politik und für meinen Nachfolger.

Bei den klassischen TU-Themen haben sie ja durchaus renommierte Köpfe an den Zentren. Glauben Sie, dass Braunschweig es auch schafft, sich mit dem BRICS und dem HZI so zu positionieren, dass man Spitzenforscher wir Emmanuelle Charpentier nicht nur halten, sondern auch anziehen kann?

Das ist ein schwieriges Thema, an dem wir noch eine Weile arbeiten müssen. In den Naturwissenschaften ist unsere Konkurrenz in der Republik einfach viel größer. Unsere Stärke liegt in den technischen Disziplinen. Deswegen finde ich es sehr gelungen, dass wir beim BRICS Mathematik, Informatik und Biologie zusammenbringen. Da haben wir eine Chance. Wir werden keine medizinorientierte Biologie aufbauen und mit den klassischen Standorten der Lebenswissenschaften mithalten können. Wir konzentrieren uns auf unsere Stärke und bringen das Denken der Ingenieurwissenschaften zusammen mit der Biologie.

Warum hören Sie auf?

Es wird einfach Zeit. Ob Sie Bundeskanzlerin sind oder Hochschulpräsident: Irgendwann ist mal gut. Ich kann manchmal meine eigenen Grußworte nicht mehr hören. Außerdem schleicht sich Routine ein. Da tut es einer Institution gut, wenn jemand neues kommt, der eine neue Perspektive einbringt. Sonst geht man irgendwann nur noch auf ausgetretenen Pfaden, und das ist gerade für Hochschulen nicht gut. Es braucht immer neue Ideen.