Braunschweig. Andreas Beseler kämpft mit extremem Fahrradfahren gegen seine Multiple Sklerose an. Nun ist seine Geschichte im Kino zu sehen.
Vor über 20 Jahren erkrankte Andreas „Besi“ Beseler an Multipler Sklerose (MS). Die chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems kam schleichend: Erst wurde die rechte Hand taub, dann das Bein – das Laufen fiel immer schwerer. Doch im Radfahren fand er ein Mittel, mit der Krankheit umzugehen. Sein Motto: Rad statt Rollstuhl. Mit einem gleichnamigen Projekt sowie dem Projekt „Besi and Friends“ erradelte er mehr als 80 000 Euro Spendengelder. Diese gingen an die Nathalie-Todenhöfer-Stiftung, die Menschen mit MS unterstützt. Der Doku-Film „Die Tour fürs Leben“ erzählt Beselers Geschichte.
Vier unserer Leser haben ihn vor der Film-Premiere im C1 Cinema in Braunschweig interviewt. Das Gespräch schrieb Michael Schnatz auf.
Ivonne Päschke: Wie motivieren Sie sich, gerade nach einem Tief durch eine Diagnose wie MS? Ich stelle mir das sehr schwer vor.
Ich war immer ein Kämpfer, ob beruflich oder privat. Zu Versagen gab es für mich nie. Doch als ich meine Diagnose erhielt, habe ich sogar mit Selbstmordgedanken gespielt. Ich stand auf einem Balkon und dachte: Spring! Dann hast du deine Ruhe. Oder kämpf! Ich entschied mich zu kämpfen, da meine Frau ihre Mutter kurz zu vor verloren hatte. Das wollte ich ihr nicht antun. Als ich aus dem Krankenhaus kam, war ich ein Pflegefall. Doch ich dachte mir: Wenn du dich schon fürs Leben entschieden hast, dann probiere es auch. Mit sehr guten Freunden an meiner Seite habe ich mich wieder hochgekämpft. Das ging nur in ganz kleinen Schritten. Jeder Tag ist für mich ein Kampf. Morgens oder abends bin ich oft so verkrampft, dass ich die Hose nicht mehr ausziehen kann. Dabei brauche ich Hilfe. Man muss lernen, diese Hilfe anzunehmen.
Päschke: Wie kamen Sie auf das Projekt „Rad statt Rollstuhl?“
Meine Freunde haben mich auf die Idee gebracht. Ich wollte das erst gar nicht. Sie sagten: Geh an die Öffentlichkeit, mach anderen Betroffenen Mut. Wenn ich Sport treibe, wollte ich nie, dass jemand von meiner Erkrankung weiß. Im Alltag habe ich aber immer zu der MS gestanden. Das war nicht immer leicht. Es gab viele dumme Sprüche: „Der Besi läuft morgens besoffen durch das Dorf“, oder „Warum läufst du so komisch?“, hieß es anfangs in meiner Heimat.
Vielen Menschen musste ich die Krankheit erst erklären – ich musste mich immer rechtfertigen. Zu dem Schritt in die Öffentlichkeit ermutigte mich ein Film über teilweise gelähmte Radfahrer. Das hat mich bewegt, das wollte ich selbst probieren. So kam das Projekt „Rad statt Rollstuhl“ zustande. Meine Freunde hatten damals Angst, ich könnte mit diesem Namen einigen Erkrankten auf den Schlips treten. Aber ich kann das erklären: Mein Rad ist zurzeit mein Rollstuhl. Ich kann es als Gehwagen nutzen oder fahren, wenn ich nicht mehr laufen kann. Bisher hat mir das noch niemand übelgenommen.
Ines Kampen: Ich arbeite bei einer Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen. Was kann man Menschen mit einer chronischen Erkrankung mit auf den Weg geben?
Jeder muss etwas finden, was er kann. Das kann Schwimmen, Radfahren oder Wandern sein. Man muss auch mal an seine Grenzen gehen. Wenn ich das gemacht hätte, was mir mein Arzt nach der Diagnose sagte, säße ich heute im Rollstuhl. Ich teste heute noch alles aus. Wenn es nicht klappt, geht es mir eben mal schlecht. Aber man darf nicht aufgeben! Das ist ein täglicher Kampf. Ich weiß: Eines Tages werde ich im Rollstuhl sitzen. Aber ich tue alles, um das hinauszuzögern.
Kampen: Kann so eine Diagnose – oder eine Lebenskrise – auch eine Chance sein?
Das war bei mir zunächst nicht so. Ich wollte niemandem zur Last fallen – schon gar nicht meiner Familie. Mein Ziel war vorerst nur, durch Therapien und Krankengymnastik so fit wie möglich zu bleiben. Alles andere, wie die Fahrrad-Projekte, hat sich erst durch meine Freunde entwickelt. Sie haben mir Mut gemacht, mich von Anfang an unterstützt. Zuerst habe ich das Laufen in einem Strömungskanal trainiert. Das Wasser tat mir gut. Dann ging es Schritt für Schritt weiter. Ich bin anfangs nicht ohne Hilfe aufs Rad gekommen – wie ein kleines Kind. Dass ich irgendwann einen Fahrrad-Marathon fahren würde, hätte ich nie gedacht. Ich bin kein Held, aber ich möchte ein Vorbild sein. Und anderen Erkrankten Mut machen, ihren Lebensweg zu finden. Dabei muss man sich auch seine Defizite eingestehen. Es gibt MS-Erkrankte, die klettern. Das kann ich nicht. MS ist die Krankheit der Tausend Gesichter. Man muss damit zufrieden sein, was man noch kann.
Michael Beese: Ich habe auch MS. Mich interessiert, wie Sie mit spastischen Lähmungen umgehen.
Ich habe oft Probleme mit der Feinmotorik. Beim Salatschneiden kann es vorkommen, dass ich das Messer nicht mehr aus der Hand kriege. Dann muss meine Frau meine Hand überdehnen. Das tut weh. So mache ich es auch beim Fahrradfahren, wenn ich einen Spasmus im Bein spüre. Dann hilft nur Überdehnung. Auch hier muss jeder für sich selbst lernen, was einem hilft.
Beese: Wie kommen Sie auf das Fahrrad? Wenn ich auf dem Rad sitze, ist alles gut. Aber beim Auf- und Absteigen habe ich Probleme.
Langes, langes Training! Manchmal bleibe ich hängen – und falle um. Schlimm ist es, nicht rechtzeitig aus den Pedalen zu kommen. Das sind die schlimmsten Stürze! Dann fällt man um wie eine Bahnschranke. Aber das gehört dazu. Hauptsache man steht wieder auf.
Günter Berger: Ich fahre seit 60 Jahren Radrennen und habe sehr großen Respekt davor, was sie leisten. Haben Sie Probleme bei Etappen-Rennen?
Einen schlechten Tag gibt es immer. Aber ich komme gut damit klar. Probleme bereiten mir die ersten 20 bis 30 Kilometer. Denn es dauert eine Weile, bis mein Spasmus raus ist. Ich muss mich erst „warm“ fahren.
Berger: Wäre ein Tandem nicht auch etwas für MS-Erkrankte?
Klar, das ist eine Super-Idee. Das gibt es schon für Blinde. Sogar bei den Paralympics. Auf dem Tandem kann nichts passieren. Und ganz wichtig: Man macht etwas gemeinsam. Mit einem guten Freund oder dem Partner.
Berger: Und Elektro-Fahrräder? Da ist die Belastung doch geringer.
Früher hat man bei unseren Erkrankungen gesagt, man soll weniger Sport machen. Wir sollten uns schonen. Das ist heute anders. Es gibt inoffizielle Studien, bei denen man Leute nimmt, die bereits im Rollstuhl sitzen. Diese trainieren dann vier bis sechs Stunden am Tag mit Sportlern. Über die Hälfte dieser Leute sind wieder aus dem Rollstuhl raus! Bewegung und Sport sind gut. Egal wie, egal was. Was einem selber gut tut, muss man ausprobieren.
Päschke: Was haben Sie ganz aktuell für Ziele?
Demnächst steht unsere nächste Spenden-Tour an. Es geht von St. Tropez am Baggersee nach St. Tropez am Mittelmeer. 74 Teilnehmer radeln mit: MS-Erkrankte, Leute mit anderen Erkrankungen, aber auch ganz Gesunde und einige Ex-Rad-Profis. Auch viele Helfer sind dabei – aus ganz Deutschland. Viele spenden ihren Urlaub, um uns zu unterstützen. Die Spenden-Einnahmen gehen an die Nathalie-Todenhöfer-Stiftung.
Päschke: Wie geht es danach weiter?
Durch die Planung der Tour bin ich ziemlich kaputt – und merke meine Krankheit. Mein nächstes Ziel ist daher, etwas kürzerzutreten. Und wieder ein bisschen mehr auf mich selbst zu achten. Das haben mir auch mein Neurologe und meine Frau geraten.
Kampen: Welche Botschaft steckt in „Die Tour fürs Leben“?
ZUR PERSON
1992 wurde bei Andreas Beseler Multiple Sklerose diagnostiziert.
„Rad statt Rollstuhl“ war 2013 sein erstes Projekt. Es führte ihn mehr als 3600 Kilometer quer durch Kanada.
Ein Jahr später folgte das Projekt „Besi and Friends“. Es führte ihn von Köln nach Barcelona. Beide Projekte brachten zusammen 80 000 Euro ein. Der Erlös kam der Nathalie-Todenhöfer-Stiftung zugute.