Braunschweig. Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft fordern mehr Tempo. Dabei setzen sie auf Braunschweig, Wolfsburg und die Allianz für die Region.

Unterstützung von prominenten Vertretern aus Wirtschaft und Wissenschaft erhält Helmut Streiff, Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer Braunschweig. Streiff hatte im Gespräch mit unserer Zeitung gefordert, dass in der regionalen Entwicklung endlich Fakten geschaffen werden müssten. Als Beispiele nannte er die Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs, ein regionales Marketing und die gemeinsame Ausweisung von Gewerbeflächen. Dabei müssten die Städte Wolfsburg und Braunschweig eine Vorreiterposition einnehmen, sagte Streiff.

Diese Einschätzung teilen Manfred Casper, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Braunschweig, Professor Jürgen Hesselbach, Präsident der TU Braunschweig, Hartwig Erb, Chef der IG Metall Wolfsburg, und Klaus Lompe. Der ehemalige Professor für Politikwissenschaft an der TU ist der geistige Vater regionaler Entwicklungskonzepte. Im Gespräch mit Andreas Schweiger erläutern sie, wie die Region näher zusammenrücken könnte. Eine zentrale Rolle in ihren Überlegungen spielt die Allianz für die Region, in der alle Städte und Kreise der Region, große Unternehmen, der Arbeitgeberverband und die IG Metall vertreten sind.

Herr Professor Hesselbach, wie realistisch ist es, dass Braunschweig und Wolfsburg für die Region eine Vorbildfunktion übernehmen?

Hesselbach: Sie müssen vorangehen, weil sie die stärksten Kräfte sind. Allerdings gibt es zwischen diesen beiden Oberzentren die Hauptprobleme.

Was meinen Sie?

Hesselbach: Beide Städte haben stets versucht, ihre Interessen zu maximieren. Das kann nicht funktionieren. Stattdessen muss der Mehrwert solcher Kooperationen stärker betont und herausgearbeitet werden. Man muss auch einem Salzgitteraner oder Goslarer klar machen, was er von einer Fusion hätte. Dafür braucht man aber Zugpferde, die losmarschieren, sonst diskutieren wir noch in 20 Jahren. Und diese Zugpferde sind Braunschweig und Wolfsburg.

Casper: Genau das ist der Punkt. Mit dem neuen Braunschweiger Oberbürgermeister Ulrich Markurth bietet sich die riesige Chance, dass er mit seinem Wolfsburger Kollegen Klaus Mohrs einen stärkeren Dialog entwickelt.

An dessen Ende die Fusion steht?

Casper: Das ist kurzfristig unrealistisch. Wir müssen vielmehr zwei Strategien verfolgen. Die erste Strategie hat das langfristige Ziel der politischen Einigung. Auf diesem Weg sehe ich Braunschweig und Wolfsburg, die vorangehen müssen.

Die zweite Strategie beinhaltet viele kleine Schritte. Das müssen feine Projekte sein, die die Region nach vorne bringen. Bei dieser Strategie muss die Allianz für die Region eine größere Rolle spielen.

Erb: Wir müssen aber ehrlich sein und dürfen nicht so tun, als wenn die Allianz für die Region in sich schon ein einheitliches Meinungsbild zu allen Themen und Aufgaben hätte. Das ist nicht so, und das ist deshalb problematisch.

Was ist die Lösung?

Erb: Wir haben viele Themen gebündelt, sogenannte Cluster gebildet. Wir müssen aber noch einmal genau festlegen, wer sich mit wem an einen Tisch setzt, um dann für das jeweilige Problem eine sachorientierte Lösung zu erarbeiten. Wenn das gelingt, dann hätte der politische Flügel in der Allianz schlechte Karten, weiter gegen Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaft zu argumentieren.

Ist die Politik der große Bremser?

Lompe: Es ist auffällig, dass die bisher praktizierten Organisationsformen und Strategien der politisch administrativen Akteure völlig im Gegensatz zu den Vorstellungen der zentralen zivilgesellschaftlichen Akteure – Gewerkschaften, Wissenschaft, Arbeitgeberverband, Industrie- und Handelskammer – stehen. So geht das seit 20 Jahren, und es hat sich nichts getan. Die von mir genannten zivilgesellschaftlichen Akteure haben klare Vorstellungen über Kooperationen. Teile der Politik sträuben sich permanent gegen eine verfasste Region.

Casper: Die größte Schwachstelle sehe ich auf der Ebene der Politik, wo einfach noch viel zu viel Kirchturmdenken entscheidend ist. Nur ein Beispiel: Der Arbeitgeberverband hat mit mittelständischen Unternehmen in Braunschweig eine überbetriebliche Kita aufgebaut. Finanziert wird die Einrichtung von der Stadt, den Betrieben und den Eltern. Problematisch wird es, wenn jemand aus Wolfenbüttel kommt, in Braunschweig arbeitet und sein Kind in der Kita betreuen lassen will. Dann fehlt der kommunale Anteil bei der Finanzierung. Das ist doch völlig kontraproduktiv und muss doch von der Politik in der Region anders gelöst werden.

Diese Aufgabe kann die Allianz für die Region aber nicht übernehmen?

Lompe: Weil sie hierfür nicht demokratisch legitimiert ist. Deshalb muss ein zentrales, demokratisch legitimiertes regionales Gremium eingerichtet werden, um Entscheidungen zu treffen, die über die einzelne Kommune hinausgehen. Das ist notwendiger denn je, weil immer mehr Aufgaben einzelner Kommunen nur durch interkommunale Kooperation gelöst werden können. Zudem nimmt der Wettbewerb mit anderen Regionen in Europa zu. Die Konkurrenz besteht nicht zwischen Landkreisen und Städten, sondern zwischen den Regionen in Europa und der Welt. Das müssen wir den Bürgern deutlich machen.

Im Umkehrschluss bedeutet die Einrichtung eines solchen Gremiums aber nicht, dass dort alle Aufgaben zentriert werden. Die Zentralisierung bestimmter Aufgaben bei der Region muss mit der Dezentralisierung bürgernaher Funktionen an die Städte und Gemeinden einhergehen.

Die Einrichtung solche eines Gremiums würde nochmals Jahre dauern.

Lompe: Das ist unumgänglich. Wir benötigen neben gut funktionierenden öffentlich-privaten Gremien wie die Allianz für die Region ein Gremium, das die gesamte Region vertritt – auch nach außen. Das kann allein durch die Kooperation von Braunschweig und Wolfsburg nicht gelingen, und die Allianz für die Region ist nicht befugt, alle Entscheidungen zu treffen. Nur mit Mehrheitsentscheidungen bekommen wir eine hohe Verlässlichkeit in der Kooperation. Diese Verlässlichkeit darf zum Beispiel nicht durch personelle Wechsel gefährdet werden. Es reicht nicht immer nur, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, deshalb benötigen wir Mehrheitsentscheidungen. Das geht nur durch ein demokratisch legitimiertes Gremium, das auch für einen konsistenten Finanz- und Lastenausgleich als Ausdruck einer solidarischen Regionsentwicklung sorgt.

Wäre alles einfacher, wenn die Region einen Namen hätte?

Erb: Wir sollten es tunlichst vermeiden, mit der Diskussion über die Namensgebung für die Region zu beginnen. Damit wird eine sachbezogene Diskussion sofort abgewürgt. Wir haben es immer wieder erlebt, dass auf der politischen Ebene nur über die Namensgebung gestritten wird, die in der Allianz für die Region festgelegten Schwerpunktthemen aber kein Thema sind. Das ist ein Unding. Wir müssen uns auf die Schwerpunktthemen konzentrieren und Lösungen erarbeiten.

Hesselbach: Wenn Sie mit der Namensdiskussion anfangen, dann kommen Sie nicht zu der eigentlichen Sachdiskussion. Das muss am Schluss stehen, wenn man sich über die Sachfragen geeinigt hat.

Herr Casper, Sie fordern eine Politik der kleinen Schritte, um die regionale Zusammenarbeit zu beschleunigen. Bitte nennen Sie Beispiele?

Casper: Das könnten gemeinsame Gewerbeansiedlungen sein oder die gemeinsame Ausweisung von Gewerbegebieten, um die Wirtschaft nach vorne zu bringen und um Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Schritt könnte aber auch die Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs sein – insbesondere zwischen Braunschweig und Wolfsburg. Ganz wichtig ist zudem ein zentrales Marketing für die Region.

Lompe: Eine Untersuchung der Allianz für die Region hat ergeben, dass die Außenwirkung unserer Region erschreckend ist.

Hesselbach: Für die zahlreichen international bekannten wissenschaftlichen Einrichtungen in der Region ist das Thema Außenwirkung ganz wichtig. Allerdings ist die Darstellung noch nicht optimal. Das liegt unter anderem daran, dass wir nicht geschlossen auftreten und keine Plattform haben, um diese Region selbstbewusst zu vermarkten.

Casper: Braunschweig macht einen Film für sich, Wolfsburg macht einen Film für sich . Aber wer macht etwas gemeinsam für die Region? Niemand! Deshalb ist das eine Aufgabe für die Allianz für die Region. Sie kann gemeinsam mit PR-Agenturen Projekte anschieben.

Wie und wo kann der öffentliche Nahverkehr verbessert werden?

Erb: Die Verbindung zwischen Braunschweig und Wolfsburg ist katastrophal. Wer mit dem Auto fährt, steht im Stau. Die Bahn wiederum kann das nicht auffangen. Deshalb sehe ich an dieser Stelle großen Handlungsbedarf. Täglich pendeln 75 000 Menschen nach Wolfsburg.

Durch den Ausbau der Weddeler Schleife könnten Züge enger getaktet werden. Für den Ausbau ist aber der Bund zuständig. Die Region kann das nicht stemmen.

Hesselbach: Stemmen nicht, aber die Region muss den Ausbau energisch anfordern. Wenn Braunschweig und Wolfsburg als regionale Schwergewichte gemeinsam auftreten, können sie gehörigen Druck machen. Die Staus sind ein drängendes Problem, auch für die TU. Wenn wir einen Standort in Wolfsburg haben, möchte ich, dass der vernünftig mit dem ÖPNV erreichbar ist. Sinnvoll ist nur eine schienengebundene Lösung. Und damit dürfen wir nicht mehr so furchtbar lange warten.

Erb: Dem stimme ich zu. Allerdings gibt es gerade auf Seite der Kommunen zu viele Zögerer. In ihren Überlegungen steht nicht im Vordergrund, welchen Nutzen eine bessere Verkehrsverbindung zwischen Wolfsburg und Braunschweig bringen könnte. Stattdessen fragen Sie: Was geschieht, wenn irgendwann nicht mehr so viele Menschen nach Wolfsburg pendeln?

Hesselbach: Das ist in der Tat nicht konstruktiv. Ich muss doch zunächst die Chancen erkennen. Wenn ich nur die Risiken in den Vordergrund stelle, mache ich gar nichts mehr.

Sie fordern eine Stärkung der Allianz für die Region. Die Interessen der Region vertreten auch der Zweckverband Großraum Braunschweig und der von der Landesregierung geschaffene Posten des Regionsbeauftragten. Ist dieses Nebeneinander sinnvoll?

Lompe: Wichtig ist eine Abgrenzung, die zu einer klaren Aufgabenverteilung führt. Sonst entstehen Reibungsverluste.

Hesselbach: Ich erkenne jetzt bereits eine gewisse Kompetenzüberschneidung und ein Kompetenzwirrwarr. Es müsste daher klar definiert werden, wer was macht, um nicht wieder Zeit zu verlieren.

Casper: Ich sehe in der Allianz für die Region die wichtigste Kraft. In ihr sind alle relevanten Akteure der Region vertreten. Deshalb sollte die Allianz mit mehr Kompetenz ausgestattet werden. Der Zweckverband dagegen hat sich als völlig überfordert erwiesen – zum Beispiel mit der Regiobahn. Dort wurde von den Zielen nichts erreicht. Wenn der Zweckverband weiter mit mehr Geld und Menschen ausgestattet wird, dann wird noch mehr nichts erreicht.

Die Diskussion um das Zusammenrücken der Region wird seit 20 Jahren geführt. Viele ermüdet die Diskussion, weil es wenig Vorzeigbares gibt. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass sich das Thema totläuft?

Hesselbach: Deshalb ist es an der Zeit, viel deutlicher zu zeigen, was in der Region schon alles erfolgreich läuft. Da gibt es auch viele Beispiele aus der Wissenschaft: das Niedersächsische Forschungszentrum Fahrzeugtechnik zum Beispiel. Die Region existiert, sie lebt. Man sollte nicht betonen, was nicht funktioniert, sondern was völlig problemlos funktioniert. Das würde helfen, identitätsstiftend zu wirken.

Casper: Das Fernziel muss sein, dass sich die Region so weit vereinheitlicht, dass sie auch nach außen einheitlich auftritt. Es ist wichtig, dass wir alle uns mit einer umrissenen Region definieren und dies in der Außendarstellung kommunizieren. Nur so können wir langfristig Arbeitsplätze schaffen, sichern und dafür neue Arbeitskräfte gewinnen. Da müssen wir aktiver werden!

Erb: Das kommunalpolitische Geplänkel muss endlich aufhören. Stattdessen muss es mehr um sachorientierte Lösungen gehen. Die Politik hat es leider versäumt, nach vorne zu diskutieren. Sie hat zwar über Ziele gesprochen, aber nie über den Weg dorthin. Das hat für Rückschläge gesorgt.

Lompe: Wir sollten mehr darüber sprechen, was gelingt in dieser Region. Seit Jahrzehnten agieren Akteure mit unterschiedlichen Handlungslogiken in regionalen Entwicklungsgesellschaften: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ziehen an einem Strang, erarbeiten gemeinsame Projekte. Das ist nicht selbstverständlich. Damit kann sich diese Region sehen lassen, und das müssen wir den Menschen vermitteln.