Salzgitter. Martin Schulz äußert sich im Interview über das Experiment, europaweite Spitzenkandidaten aufzustellen.

Erstmals werben Martin Schulz für die Sozialdemokraten und Jean-Claude Juncker für die Konservativen als Spitzenkandidaten um die Wähler der EU – ein einzigartiges Experiment in Europa. Mit dem SPD-Politiker Schulz sprach Katrin Teschner am Rande einer Wahlveranstaltung in Salzgitter.

Herr Schulz, Ihnen beiden wird ein Kuschelkurs vorgeworfen, weil die Unterschiede zwischen den Parteien kaum sichtbar werden. Wie kuschelig finden Sie den Wahlkampf?

„Am Ende wird es darum gehen, wer im Europaparlament eine Mehrheit bilden kann.“
„Am Ende wird es darum gehen, wer im Europaparlament eine Mehrheit bilden kann.“ © Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments und Spitzenkandidat.

Es spricht nicht gegen ihn, dass mir Jean-Claude Juncker in vielen Punkten recht gibt. Wenn ich heute sagen würde: Ich bin dafür, dass es in Niedersachsen ewigen Sonnenschein gibt, würde Juncker sagen: ich auch. Alle fünf Jahre verwandeln sich die Konservativen scheinbar in Sozialdemokraten und dazwischen machen sie fünf Jahre lang knochenharte konservative Politik. Schauen Sie mal, warum die CDU ihren Spitzenkandidaten nicht plakatiert. Der Kandidat passt nicht zur Partei.

Nennen Sie mir einen Punkt, in dem Sie sich konkret voneinander unterscheiden.

Ich werde das Prinzip einführen, dass das Land der Gewinne auch das Land der Steuern ist. Es kann nicht sein, dass Großkonzerne Milliarden Gewinne machen und sie dann in Steueroasen bringen. Ich bin gegen den Steuerdumpingwettbewerb von Staaten in Europa. Es kann auch nicht sein, dass wir aus EU-Fonds Infrastrukturprojekte in Ländern finanzieren, die anschließend mit niedrigsten Steuersätzen Unternehmen aus anderen Ländern abwerben. Juncker ist für ruinösen Steuerwettbewerb zwischen den Ländern – er war 20 Jahre Ministerpräsident von Luxemburg.

Bei der EU-Wahl Spitzenkandidaten aufzustellen, geht auf eine Idee von Ihnen zurück und soll die EU näher an die Bürger heranbringen. Wird das ausreichen, um die EU auf lange Sicht demokratischer zu machen?

Mit Ausnahme von Zypern und Frankreich, wo das Staatsoberhaupt direkt gewählt wird, gibt es in den 26 anderen EU-Staaten dieses Format: Bürger wählen Abgeordnete ins Parlament und das wählt den Regierungschef. Dass dieses Prinzip nun auf europäischer Ebene ein fast revolutionärer Vorgang ist, zeigt, wie defizitär die europäische Demokratie ist.

Es gibt aber immer noch Leute, die behaupten, es könnte auch ein anderer als einer der Spitzenkandidaten EU-Kommissionspräsident werden – wie vor einigen Tagen der Präsident des Europäischen Rates, Herman van Rompuy. Doch man kann nicht die Bürger auffordern, Spitzenkandidaten zu wählen, um nach der Wahl zu sagen: Das war ein Aprilscherz. Das wäre ein schwerer Schlag gegen die Demokratie. Wir sind jetzt auf dem Weg, ein neues Kapitel europäischer Demokratie zu schreiben, bei dem die Bürger am Sonntag das entscheidende Wort haben.

Wenn das ein Anfang ist: Was wären denn die nächsten Schritte, um die Europäische Union demokratischer zu machen?

Wir müssen erstmal diesen Schritt gehen, bevor wir über weitere Schritte reden. Sie sehen ja, wie groß die Verunsicherung in den EU-Institutionen ist. Wir müssen erst einmal klar machen: Nach der Wahl werden entweder die Konservativen mit Juncker oder die Sozialdemokraten mit mir Kommissionspräsident.

Die SPD liegt Umfragen zufolge allerdings hinter den Christdemokraten zurück.

Natürlich wird die SPD in Deutschland einen guten und wichtigen Beitrag leisten. Aber es geht ja nicht nur um die Wahl in Deutschland, sondern es wird in ganz Europa gewählt und am Ende wird es darum gehen, wer im Europaparlament eine Mehrheit bilden kann. Und da sehe ich die größeren Chancen bei mir.

Sie haben angekündigt, sich für die Reindustrialisierung in Europa einzusetzen. Was stellen Sie sich da konkret vor?

Zunächst müssen wir Spekulationen begrenzen. Dann müssen wir Start-ups fördern. Es gibt so viele Ideen, gerade im digitalen Bereich. Aber auch in den Sparten Stahl, Automobil oder Chemie gibt es jede Menge industrienahe Dienstleistungen, die in Europa erbracht werden. Forschung und Entwicklung von Anlagen mit niedrigem Energieverbrauch beispielsweise müssen weiter vorangetrieben werden.

Wir haben jede Menge Felder, in denen wir eine Reindustrialisierung betreiben könnten. Wir brauchen den Schutz der Kernkompetenz, Innovation und Entwicklung von industrieller Produktion in Europa und den Export aus Europa. Dazu gehört, dass wir nicht nur die großen Unternehmen stärken. Wir brauchen also auch ein Kreditprogramm für kleinere und mittlere Unternehmen.