Braunschweig. Der deutsche Mittelstand schützt sein wertvolles Know-how viel zu wenig. Aber auch der Staat könnte noch mehr tun.

Unser Leser Harald Menges aus Braunschweig fragt:

Ist es richtig, dass die Bundesrepublik Deutschland staatlicherseits überhaupt keine Abwehrmöglichkeiten gegen Wirtschaftsspionagevorhält, obwohl die Wirtschaft diese seit langem fordert?

Die Antwort recherchierte Andre Dolle

Wirtschaftsspionage kostet die deutsche Wirtschaft Milliarden. Die Enthüllungen über die gigantische Schnüffelei des US-Geheimdienstes NSA lassen Experten aufhorchen, überraschen aber nicht wirklich. Eines wird sehr deutlich: Der deutsche Mittelstand schützt sein zum Teil beachtliches Know-how viel zu wenig. Der Staat kennt das Problem, arbeitet daran. Ob die Bemühungen von Verfassungsschutz und Innenministerien jedoch ausreichend sind, ist umstritten.

Zwei bekannte Fälle

Nur ganz selten geben Unternehmen zu, dass sie ausspioniert werden. Die Unternehmer fürchten einen Imageschaden, fallende Aktienkurse. Einer der wenigen Ehrlichen ist der Hannoveraner Pipeline-Bauer Vietz. Dreimal wurde Eginhard Vietz binnen kurzer Zeit Opfer von Wirtschaftskriminalität und Spionage. Ein weltweit patentiertes Laserschweißverfahren macht den Pipelinebauer aus Hannover so interessant.

Der erste Schlag für den Mittelständler: Ein chinesischer Partner, ein Staatsbetrieb, installiert in einem Werk nahe Peking gezielt Mitarbeiter, die Know-how abziehen. Ein Tresor und ein Rechner kommen bei einem Einbruch abhanden. Ein Betriebsleiter macht sich mit einem Laptop voller Baupläne davon. Dann der Schock: Vietz entdeckt mit eigenen Augen auf einer Messe seine Maschinen, detailgetreu, nur anders lackiert – und vom Konkurrenten. Alle Verbindungen zum einstigen Partner kappen.

In Hannover folgt der zweite Schlag, dieses Mal hilft der Verfassungsschutz. Er entdeckt einen Eindringling in Vietz’ Computersystem. Es sind nicht die Chinesen, es ist die CIA, der befreundete Westen. Vietz kappt die Internetverbindungen der Konstruktionsabteilung, legt Faxgeräte still, lässt nur noch ausgewählte Praktikanten ins Unternehmen. Sicher ist sicher.

Im letzten Kapitel im Krimi um den Mittelständler ging es im Jahr 2009 vor Gericht. Der Unternehmer klagte gegen einen langjährigen Mitarbeiter. Der hatte aus privaten Gründen gekündigt. Doch statt wie angekündigt in die Lebensmittelbranche zu wechseln, ging er zu einem direkten Zulieferer. Im Gepäck, so Vietz’ Vorwurf: Kundendaten und Zeichnungen.

Auch im zweiten öffentlich bekannten Fall von Wirtschaftsspionage in Deutschland hatten die USA die Finger im Spiel. In den neunziger Jahren wurde nach und nach bekannt, dass die USA zusammen mit Großbritannien, Australien und Neuseeland ein Spionagesystem mit dem Namen Echelon betreiben. Ursprünglich diente es der Feindabwehr und war gegen den Ostblock gerichtet. Das System blieb nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aber in Betrieb. Es soll auch zur Wirtschaftsspionage eingesetzt worden sein. Ein konkreter Verdacht führt nach Aurich in Ostfriesland. Dort sitzt das Unternehmen Enercon, einer der weltweit führenden Hersteller von Windkraftanlagen.

Angeblich soll die NSA via Echelon das Unternehmen in Aurich abgehört und die Informationen an den amerikanischen Konkurrenten Kenetech Windpower gegeben haben. Das amerikanische Unternehmen soll die Informationen genutzt haben, um sie auf dem heimischen Markt patentieren zu lassen. So wurde der deutsche Konkurrent zeitweise ferngehalten.

Das sagt die Wirtschaft

Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft warnt seit langem vor den Folgen der Wirtschaftsspionage. Präsident Mario Ohoven erklärte unserer Zeitung: „Es ist kein Zufall, dass von den 2700 Weltmarktführern über 1300 aus dem deutschen Mittelstand kommen. Und mit rund 500.000 Patenten halten deutsche Mittelständler mit Abstand die meisten in Europa.“ Der Erfolg deutscher Unternehmen sorgt für Gefahren. Besonders bedroht sind laut Ohoven der Maschinenbau und die Metallverarbeitung. Aber auch der Automobilsektor sowie die Luft- und Raumfahrt liegen im Fokus der Wirtschaftsspionage. „Allein die Automobilindustrie trägt etwa 50 Prozent zu unserem Handelsüberschuss bei. Man darf nicht vergessen, dass zu jedem Automobilkonzern ein riesiges Netzwerk von mittelständischen Partnern gehört, die vor allem sensible High-Tech-Komponenten zuliefern“, sagt Ohoven.

Zum NSA-Skandal hat der Mittelstands-Präsident eine klare Meinung: „Hier hätte ich eine direkte Intervention der Bundeskanzlerin beim US-Präsidenten erwartet. Den Besuch des Bundesinnenministers Friedrich in den USA halte ich für eine Alibiveranstaltung.“

Die Arbeit der Behörden im Kampf gegen Wirtschaftsspionage indes schätzt Ohoven als gewinnbringend ein. „Im Bereich der Datensicherheit arbeitet unser Verband vertrauensvoll auf Landesebene mit dem Verfassungsschutz zusammen. Dieser entsendet seine Experten zu unseren Veranstaltungen und klärt die Unternehmer über Risiken und Schutzmaßnahmen auf.“ Vielmehr liegt die Verantwortung auch bei den Unternehmern selbst, so Ohoven: „In Sachen IT-Sicherheit besteht im Mittelstand noch erheblicher Nachholbedarf.“

Die Unternehmerverbände Niedersachsen sind die Landesvertretung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Sprecherin Catharina Daues schätzt, dass jedes zweite bis dritte Unternehmen bereits Schäden durch Wirtschafts- und Industriespionage davongetragen hat.

Daues sieht in den aktuellen Verhandlungen für eine Freihandelszone zwischen den USA und der EU eine Chance, die Wirtschaftsspionage einzudämmen. „In die Verhandlungen muss das Thema ernsthaft aufgenommen werden. Sicherlich können so Fälle leichter aufgedeckt und Schutzmechanismen gefunden werden.“

Daues hält die Anstrengungen Deutschlands gegen Wirtschaftsspionage noch nicht für ausreichend. Zwar verweist auch sie auf die Kooperation mit dem Landesverfassungsschutz. Sie sagt aber: „Es tut sich was, das Rad muss sich aber schneller drehen. Die Politik muss mehr Aufmerksamkeit für das Thema schaffen.“

Das sagt die Wissenschaft

Professor Norbert Pohlmann leitet das Institut für Internet-Sicherheit an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen. Sein Institut hat einige Unternehmen und Behörden in unserer Region beraten, darunter auch VW. Dabei seien große Konzerne wie VW gar nicht das Problem, sondern die Zulieferer. „Weil sich der selbst aber für zu unwichtig hält, haben Spione leichtes Spiel“, sagt Pohlmann.

5 Prozent der Informationen eines Unternehmens sind laut Pohlmann wirklich schützenswert. „Viele Firmen wissen gar nicht, was zu diesen 5 Prozent dazugehört.“ Das seien neben Konstruktionsplänen auch wichtige E-Mails. Daten seien auf Servern in mittelständischen Firmen oft gar nicht richtig gesichert. „Diese Firmen müssen ihre Mails verschlüsseln, müssen ihre Mitarbeiter schulen, welche Informationen diese an wen weitergeben dürfen und an wen nicht“, sagt Pohlmann. Das sei zwar umständlich und durch den Einsatz von Schulungen auch teuer, zahle sich aber definitiv aus, um den technischen Vorsprung auf Wettbewerber zu halten.

Professor Egbert Kahle von der Leuphana Universität Lüneburg erklärt, dass gerade kleine Unternehmen sich zu unbedarft zeigen. „Die zucken nach einem Fall von Spionage mit den Achseln und machen weiter.“ Er selbst habe erlebt, dass in einigen Firmen vertrauliche Unterlagen offen im Chefbüro herumlagen.

Kahle befragte für eine Studie zum Thema Wirtschaftsspionage 430 Unternehmer. Er befragte sie auch zur Unterstützung durch den Verfassungsschutz. Das Ergebnis: 55 Prozent der Befragten wussten noch nicht einmal, dass sie den Verfassungsschutz um Hilfe bitten können, die große Mehrheit unter ihnen wollten die Hilfe aber auch gar nicht in Anspruch nehmen. Kahle: „Hier muss der Verfassungsschutz deutlich offensiver auf die Unternehmen zugehen, sonst tut sich nichts.“

Verfassungsschutz und Ministerien

In Niedersachsen hofft der Verfassungsschutz, dass der NSA-Skandal der Behörde in die Karten spielt. Auch Sprecherin Verena Scherb sieht das Kernproblem bei der Wirtschaftsspionage beim Mittelstand. „Hier gibt es sicherlich Probleme“, räumt sie ein. Sie verweist aber darauf, dass die Experten des Verfassungsschutzes alleine 2012 rund 700 Unternehmen beim Schutz gegen Spionage geholfen hat.

Ob das am Ende hilfreich war, wissen wohl nur die Unternehmen selbst, deren Namen aus Datenschutzgründen nicht genannt werden dürfen. Scherb will auch nicht sagen, mit welchen Geheimdiensten der Verfassungsschutz die meisten Probleme hat. „Das ist im Einzelfall schwierig, da nicht jeder Angriff enttarnt werden kann. Aber selbst wenn wir es wüssten, würden wir es nicht nach draußen weitergeben.“

Doch in Niedersachsen kämpft nicht nur der Verfassungsschutz gegen Wirtschaftsspione, sondern auch das Landesinnenministerium. So wurde das so genannte N-CERT, das Niedersächsische Computer Emergency Response Team geschaffen. Das Team bildet eine Einrichtung für die Cyber-Sicherheitsstrategie, Es befasst sich mit allen IT-sicherheitsrelevanten Vorfällen, also auch Wirtschaftsspionage. Die Spezialisten sollen Gefährdungen und Angriffe auf IT-Infrastrukturen frühzeitig erkennen und rechtzeitig Gegenmaßnahmen einleiten.

Das niedersächsische CERT wurde analog zu dem beim Bundesinnenministerium eingerichteten Nationalen Cyber-Abwehrzentrum eingerichtet. Es wurde allerdings erst Ende 2012 ins Leben gerufen.