Braunschweig. Die USA hatten nach dem Zweiten Weltkrieg umfangreiche Rechte, Deutsche abzuhören. Doch inwieweit sie Bestand haben, ist umstritten.

Unser Leser Dr. Günther Dilling aus Gifhorn-Winkel fragt:

Was soll die ganze Aufregung um Mr. Snowden? Amerika hat seit Juli 1945 das Recht, uns – die Bundesrepublik Deutschland und andere Kriegsgegner – in allen Belangen zu kontrollieren.

Die Antwort recherchierte Christian Kerl

Unser Leser Günther Dilling verweist auf Artikel 139 des Grundgesetzes, dem sogenannten Befreiungsgesetz: „Mr. Snowden hat nichts anderes getan, als uns, die besiegten Deutschen, davon in Kenntnis zu setzen, dass wir nach wie vor von den Siegermächten kontrolliert und beobachtet werden.“

Tatsächlich hat der Überwachungsskandal, den der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden ins Rollen brachte, eine neue Debatte auch über die Souveränität Deutschlands ausgelöst. Die Frage ist: Haben die USA hierzulande weiter Sonderrechte, die ihnen das großräumige Abhören der Bundesbürger erlauben?

Die Antwort in Kürze: Ja, es gibt noch Überbleibsel der Besatzungszeit, deren Existenzberechtigung von der Politik neu diskutiert wird. Allerdings handelt es sich nicht um Rechte in der diskutierten Dimension, die Deutschland zum „Vasallenstaat“ machen würde. Und es ist auch nicht erkennbar, dass die vermuteten Ausspähaktionen auf deutschem Boden von solchen Sonderrechten gedeckt wären – die Bundesregierung bestreitet das sogar ausdrücklich.

Klar ist: Deutschland hat 1990 mit dem 2+4-Vertrag zur deutschen Einheit „die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten zurückerhalten“. Nach 1945 hatte zunächst ein Besatzungsstatus gegolten, danach sicherten sich die Alliierten vor allem im Deutschlandvertrag (Bundesrepublik) und Moskauer Vertrag (DDR) Vorbehaltsrechte.

Im „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ vom 12. Dezember 1990 erklärten die Siegermächte nun, sie „beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen aufgelöst.“

Indes, bis heute sind nicht alle Kriegsfolgen beseitigt: In der Charta der Vereinten Nationen erlauben die Artikel 53 und 107 ohne Beschlüsse des Sicherheitsrates Zwangsmaßnahmen gegen solche Staaten, die im Zweiten Weltkrieg gegen einen der Unterzeichner der Charta Krieg führten und erneut den Frieden bedrohen – Japan und Deutschland haben wiederholt gefordert, diese Feindstaatenklausel zu streichen.

Und: Internationale Verträge wie das Nato-Truppenstatut von 1952 und das Zusatzabkommen von 1959, das die Rechtsstellung von Nato-Truppen in der Bundesrepublik regelten, gelten in veränderter Form fort – sie gewähren Sonderrechte und Immunitäten für die stationierten Truppen.

Und das Abhören? Der damalige Kanzler Konrad Adenauer hat den Westalliierten zugesichert, sie dürften angemessene Schutzmaßnahmen für ihre Truppen ergreifen, 1968 wurde dies bekräftigt – gemeint war auch das Sammeln eigener Nachrichten. Doch 1968 bekam die Bundesrepublik ihre Souveränität im Bereich der inneren Sicherheit zurück: Der Verfassungsschutz durfte nun selbst Telefone abhören, der Bundesnachrichtendienst BND den internationalen Post- und Telefonverkehr untersuchen. Geregelt wurde das im bis heute geltenden G-10-Gesetz, das auch eine neue Kommission des Bundestags zur Genehmigung und Überwachung solcher Maßnahmen schuf.

Um die Alliierten nicht außen vor zu lassen, wurden Verwaltungsvereinbarungen getroffen, auf deren Grundlage die alliierten Geheimdienste den BND und den Verfassungsschutz um Kontrollen des Brief- und Telefonverkehrs ersuchen konnten. Die USA sollen von ihrem Antragsrecht im Kalten Krieg regen Gebrauch gemacht haben, vor allem mit Blick auf internationale Leitungen etwa von Paris nach Prag.

Riesige Datenmengen übermittelte der BND an den US-Nachrichtendienst NSA: „Wöchentlich ging allein von Hamburg ein LKW mit Anhänger voller Tonbänder in die BND-Zentrale“, erinnert sich jetzt der frühere SPD-Abgeordnete Claus Arndt. Er war Mitglied der G-10-Kommission des Bundestags, die formell die von den USA beantragten Abhöraktionen genehmigen musste – und dies meist auch tat.

Die Abkommen sind – mehrfach geändert – bis heute in Kraft, wie das Bundesinnenministerium bestätigt, sie haben auch die deutsche Einheit überlebt. „Doch faktisch haben sie keine Bedeutung mehr. Seit der Wiedervereinigung sind in der Praxis der Nachrichtendienste keine entsprechenden Ersuchen mehr von den drei Westalliierten an Deutschland gestellt worden“, versichert das Ministerium.

Nach seiner Lesart enthalten diese Vereinbarungen ohnehin „keine Rechtsgrundlage“, nach der Truppen-Entsendestaaten die Kommunikation in Deutschland überwachen dürfen – der angebliche Zugriff des NSA auf den weltweit größten Internetknotenpunkt in Frankfurt, der von deutscher Seite dementiert wird, wäre so oder so illegal.

Allerdings wird nun über geheime Zusatzabkommen zwischen NSA und BND spekuliert, die eine großzügigere Kooperation ermöglichen könnten. Die Bundesregierung will sich zu möglichen Vereinbarungen öffentlich nicht äußern, nur die Geheimdienst - kontrolleure des Bundestags sollen Informationen erhalten.

Doch Regierungssprecher Steffen Seibert versichert: „Es gibt keine Einschränkungen der Souveränität – etwa durch Geheimverträge, die Washington Rechte zugestehe, die die Souveränität berührten.“ Der BND sei Recht und Gesetz, dem BND-Gesetz und dem G-10-Gesetz verpflichtet.

Und die NSA? Dass der US-Geheimdienst in der Bundesrepublik umfangreiche Abhörstationen betrieben hat (etwa im Elm im Braunschweiger Land oder auf dem Wurmberg im Harz) und zum Teil heute noch betreibt (etwa in Wiesbaden), ist kein Geheimnis. Dass sich das Interesse nicht nur gen Osten richtete, sondern auch die Kommunikation deutscher Bürger erfasste und zum Teil wohl auch der Wirtschaftsspionage dient, dafür gibt es genügend Hinweise.

Nicht legal, aber geduldet? Es gibt gewachsene Beziehungen zwischen BND und NSA, die in einer Zeit entstanden, in der Besatzungsrecht galt. „Sie stecken unter einer Decke“, hat Edward Snowden kürzlich erklärt. Aus der Kooperation ist nie ein Hehl gemacht worden – nicht ganz klar ist aber, wie weit sie geht.

Die jeweiligen Bundesregierungen wollten es wohl so genau nicht wissen, was da passiert, um politisch nicht angreifbar zu werden und sich mit dem großen Verbündeten USA nicht anzulegen. Ende der 90er Jahre kam es dennoch zu einem Konflikt, damals sicherte die NSA zu, eine Abhöranlage im bayerischen Bad Aibling nicht mehr für den großen Lauschangriff gegen Deutschland zu nutzen. Ganz ahnungslos konnte keine Regierung sein – mit Geheimdienstfragen befasste Abgeordne- te versichern aber, es sei völlig unterschätzt worden, in welchem gigantischen Ausmaß die USA die technischen Möglichkeiten des Internets nutzen. Gleiches gilt für die Entschlossenheit, mit der der US-Geheimdienst EU-Einrichtungen ausspioniert haben soll. Die Debatte hat nun die Politik sensibilisiert für die Relikte aus der Besatzungszeit – auch wenn diese die Vorgänge offenbar nicht legitimieren.

Die SPD mahnt die vorsorgliche Aufhebung aller Altvereinbarungen zwischen Deutschland und den USA an: Regelungen über die Zusammenarbeit der Dienste sollten dann auf Augenhöhe verhandelt werden, sagt Thomas Oppermann, der im SPD-Schattenkabinett Innenminister ist.

Und auch der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl sagt, ihm sei nicht bewusst gewesen, dass solche Vereinbarungen die deutsche Einheit überdauert hätten: „Dass man sie nicht außer Kraft gesetzt hat, kann man nur damit erklären, dass es immer wieder solche Fossile im Gesetzesdickicht gibt, die man nicht beseitigt hat. Das gehört natürlich getilgt, das könnte ein Ergebnis der Gespräche mit den USA sein.“

Dieses „Recht aus der Besatzungsmachtzeit muss beseitigt werden“, sagt Uhl, „wir sind ein souveräner Staat und wollen solche Gesetze in Deutschland nicht mehr haben.“ Ob das auch für den vom Leser erwähnten Grundgesetzartikel 139 gelten sollte, ist unter Verfassungsjuristen umstritten. Der Artikel 139 bezieht sich auf Vorschriften über die Entnazifizierung, die vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassen wurden – er sollte sicherstellen, dass die Vorschriften gegen eine Unvereinbarkeit mit den Verfassungsnormen geschützt sind.

Einzelne Kritiker sehen in dem Verfassungsartikel ein Einfallstor für den Fortbestand von Besatzungsrecht. Nach vorherrschender Meinung unter Verfassungsjuristen ist der Artikel indes bedeutungslos, weil die entsprechenden Gesetze nach Abschluss der Entnazifierung 1954 aufgehoben wurden. Roman Herzog, Mitautor eines führenden Grundgesetzkommentars, nannte den Artikel 139 schon „obsolet“. Freilich, ihn zu streichen erforderte einige Mühen – denn einige Verfassungsrechtler erkennen im Entnazifzierungsartikel auch ein bis heute aktuelles Verfassungsbekenntnis zum Verbot von Neonazi-Organisationen.

Edward Snowdens Flucht

Der IT-Spezialist Edward Snowden (30) hatte für den US-Abhördienst gearbeitet und ist seit Wochen auf der Flucht. Ein Rückblick:

5./6. Juni 2013: Laut Zeitungsberichten lässt die US-Regierung Rechner von Internet-Firmen anzapfen, um sich Zugang zu Videos, Fotos, E-Mails und Kontaktdaten zu verschaffen. Das Programm „Prism“ soll seit 2007 laufen.

7. Juni: US-Präsident Barack Obama verteidigt „Prism“ als Mittel im Kampf gegen den Terror.

9. Juni: Snowden offenbart sich im britischen „Guardian“ als Quelle der Enthüllungen. Er war mit geheimen Dokumenten von Hawaii nach Hongkong geflohen.

21. Juni: Unter Berufung auf Gerichte heißt es in US-Medien, die USA hätten Anklage gegen Snowden wegen Spionage und Diebstahls erhoben. Der britische Geheimdienst GCHQ soll Telefone und Internet weltweit in ungeahntem Ausmaß überwacht haben.

23. Juni: Snowden landet in Moskau, Flughafen Scheremetjewo.

25. Juni: Russlands Präsident Wladimir Putin bestätigt, dass sich Snowden als Transitpassagier auf dem Flughafen aufhält.

26. Juni: Die USA haben Snow-dens Pass annulliert.

29./30. Juni: US-Geheimdienstler spähen nach Informationen des „Spiegels“ auch die EU aus. In Deutschland sei der US-Abhördienst NSA besonders aktiv.

1. Juli: Die Bundesregierung und andere EU-Regierungen fordern die USA auf, die Spionagevorwürfe umgehend aufzuklären.

2. Juli: Laut Enthüllungsplattform Wikileaks sucht Snowden in rund 20 Ländern Asyl – darunter Deutschland. Die Bundesregierung lehnt seine Aufnahme ab.

3. Juli: Es kommt zum diplomatischen Eklat, weil der bolivianische Staatschef Evo Morales auf einem Flug zum Zwischenstopp in Wien gezwungen wird. Mehrere EU-Länder vermuten Snowden an Bord seiner Maschine.

5./6. Juli: Venezuela, Nicaragua und Bolivien bieten ihm Asyl an.

8. Juli: Snowden hat in Venezuela offiziell einen Asylantrag gestellt.

12. Juli: Snowden unterschreibt einen Asyl-Antrag für Russland.