Braunschweig. Bei der „Klassik-Dämmerung“ diskutierten Experten und Leser über Wege, junge Menschen für Konzerte zu begeistern.
In dem Leserforum, das unsere Zeitung gemeinsam mit dem Festival Soli Deo Gloria des Grafen Günther von der Schulenburg ausgerichtet hat, stand die bange Frage im Mittelpunkt: Wie kann es gelingen, junge Menschen für die klassische Hochkultur, speziell die klassische Musik, zu gewinnen?
Denn klar ist: Da muss was getan werden. Das Klassik-Publikum ist überaltert, dem Nachwuchs fehlt oft der Zugang zum Konzertsaal, oft mangelt es schon an der Ahnung dessen, was dort überhaupt zu erleben ist. Die Sorge ist nicht unbegründet, dass der Faden, den unsere Gesellschaft mit ihren großen kulturellen Traditionen verbindet, zu reißen droht.
Über mögliche Gründe herrschte auf dem Podium und im sachkundigen Publikum weitgehend Übereinstimmung:
– Die Schüler bekommen oft von ihrem Elternhaus nicht mehr die notwendige kulturelle Anleitung mit.
– Der Schulunterricht in den musischen Fächern, namentlich Musik, ist nicht ausreichend.
– Kultur-Institutionen und -Anbieter können diesen Mangel nicht komplett kompensieren.
– Jugendliche haben heute aufgrund von diversen elektronischen Geräten oft Schwierigkeiten, sich längere Zeit auf so komplexe Gebilde wie klassische Kompositionen zu konzentrieren.
Einig war man sich ebenfalls auf dem Podium und im Publikum, dass dies kein Grund sei zu resignieren. Dem Weg der Zivilisation zurück ins Neandertal, den Joachim Klement an die Wand malte, stemmen sie sich alle tapfer entgegen – Tag für Tag.
Die Klavierlehrerin Claudia Bigos erzählte mit ansteckender Leidenschaft, wie sie seit vielen Jahren auch kulturferne Schüler zum Konzertbesuch animiert. „Der erste fand’s doof, der zweite schlief ein, der dritte sagte: ,furchtbar, nur graue Köpfe!’ Aber ich tat’s wieder. Und es wurde immer besser!“ Kinder seien offen für alles, beschwor Bigos. „Man kann sie für klassische Musik begeistern – wenn man selbst begeistert ist! “
Besonders erstrebenswert ist für die Klavierpädagogin, dass Schüler mit ihren Eltern ins Konzert gehen: „Dann kann man die Musik gemeinsam hören und hinterher besprechen.“
Da fand sie heftige Zustimmung beim Grafen von der Schulenburg, dem Veranstalter des Festivals Soli Deo Gloria in unserer Region. Launig berichtete er, wie er seinen Sohn bereits mit dreieinhalb Jahren ins Salzburger Festspielhaus mitgenommen hat: „Die Leute haben sich gefragt: Warum tut er sich, uns und dem Kind das an?“
Doch frühe Gewöhnung, da ist der Graf sicher, präge fürs Leben. Seine Konzerte würden überwiegend von älteren Menschen besucht. „Fast nie kommen Eltern mit Kindern. Das finde ich erschütternd!“ Deshalb bietet er in diesem Jahr ein Konzert explizit für junge Leute und Familien, will auch für Kleinkind-Betreuung sorgen. „Dafür habe ich Sponsoren, die das fördern wollen.“
Das Braunschweiger Staatstheater habe Angebote bereits für Zweijährige, sagte Generalintendant Joachim Klement. Wie es überhaupt gelte, ständig neue Formate zu finden. Er nannte etwa das Gratis-Freiluft-Konzert „Klassik im Park“ oder Musik in Zusammenhang mit Filmen.
Zudem betonte Klement die enge Zusammenarbeit mit Schulen. „Viele Angebote, die wir für junge Menschen erstellen, entstehen überhaupt erst aus Gesprächen mit den Lehrern.“
Als Beispiel führte Klement die Kurzfassung der Mozart-Oper „Zauberflöte“ ohne Chor an. Sie sei als Wunsch von Lehrern ans Theater herangetragen worden. Klement betonte, die Angebote des Staatstheaters an Schüler würden im Zusammenhang mit den Lehrplänen entwickelt, und zwar fächerübergreifend. „Das geht so weit, dass wir uns wie Rhizome in die Ministerien schleichen, um möglichst früh zu erfahren, was in den Curriculae der nächsten Jahre vorgesehen ist, um bei unserer Planung rechtzeitig darauf eingehen zu können.“ (Rhizome sind laut Wikipedia meist unterirdisch oder dicht über dem Boden wachsende Sprossen-Systeme).
Zudem regte Klement eine regionale Gemeinschafts-Anstrengung an: „Warum sollten wir nicht versuchen, die Region mit der besten Musik-Ausbildung zu werden?“
Die junge Posaunistin Constanze Frappier berichtete, wie sich Interesse an klassischer Musik aus persönlichen Beziehungen entwickle. Freunde und Schulkameraden seien neugierig gewesen, „was ich da eigentlich mache“, und hätten Konzerte besucht. „Und sie haben festgestellt, dass das in der Gruppe einfach Spaß macht. Ein Gemeinschaftserlebnis – und hinterher kann man sich austauschen.“
Der Dortmunder Musikwissenschaftler Holger Noltze sprach durchaus selbstkritisch von einer „Blase“, in der sich einverständige Menschen gegenseitig der Wichtigkeit von klassischer Musik versicherten. Wie aber erreicht man die Menschen außerhalb dieser Blase?
Man könne sie weder heranführen noch hineinprügeln, meint Noltze. „Das ist eine Denkfalle.“ Klassische Musik sei bisher ein Unterscheidungs-Vehikel des gehobenen Bürgertums gewesen. „Aber Beethoven ist nicht dafür gestorben, die bürgerliche Welt zu möblieren. Es komme darauf an, die existenzielle Dimension dieser Kunst begreiflich zu machen – nicht nur als Bildungsinhalt und Lebensstil.
Die Crux dieser lebendigen, klugen und vom Kulturredakteur Andreas Berger souverän und mit Herzblut geleiteten Debatte mit den wunderbar engagierten Musikfreunden, -lehrern und -veranstaltern im Publikum war freilich, dass sie genau die von Noltze beschriebene Blase darstellte.
Da fehlte zur Spannungs-Steigerung ein profunder Widerspruch, ein ernsthaftes Infragestellen des hohen und teuren Rangs der klassischen Musik. Vielleicht hätte dem Podium einer jener Piraten-Politiker gut getan, die laut Noltze in Bonn eine Initiative zur Abschaffung des Opernhauses gegründet haben...