Helmstedt. Das Thema Abtreibung ist ein Tabu, an dem Ängste, Schuldgefühle, Vorurteile und Ressentiments haften – auch nach der Abschaffung des Paragrafen 219a.

Die Abschaffung des Paragrafen 219a ist beschlossene Sache – die Zustimmung des Bundesrates eine Formalität. Ungeplant schwangere Frauen sollen sich künftig frei und umfangreich informieren können, Ärztinnen und Ärzte Informationen frei zugänglich bereitstellen können. Das Thema Abtreibung ist jedoch weiterhin ein Tabu, an dem Ängste, Schuldgefühle, Vorurteile und Ressentiments haften. Melanie Schwirz ist seit 16 Jahren in der Pro-Familia-Beratungsstelle in Helmstedt tätig. Uns berichtet sie, was Frauen, die in die Konfliktberatung kommen, umtreibt.

Wie viele Frauen kommen in die Schwangerschaftskonfliktberatung?

Melanie Schwirz: In unserer Beratungsstelle in Helmstedt sind es 65 bis 75 Frauen pro Jahr.

Wie erleben Sie die Frauen, die zu Ihnen in die Beratung kommen?

Eine ungeplante Schwangerschaft kann ein Schock sein: Aber ab dem Zeitpunkt des positiven Tests rattert es im Kopf der Betroffenen. Wenn sie dann bei mir in der Beratungsstelle sind, sind meistens die Gedanken schon mehr oder weniger geordnet. Ich erlebe hier keine Frauen, die völlig aufgelöst sind. In gut drei Viertel aller Fälle gibt es schon eine Tendenz, ob sie sich vorstellen können, die Schwangerschaft auszutragen oder nicht.

Wie läuft die Konfliktberatung ab?

Zunächst einmal: Ich mache ein Gesprächsangebot, niemand ist verpflichtet, sich mir zu offenbaren. Ich verlange keine Rechtfertigung, niemand muss begründen, warum der Abbruch gewollt wird. Das wird oft missverstanden und liegt daran, dass das Thema Abtreibung so tabuisiert wird. Die Scham ist groß, die Schuldgefühle auch, und zum Thema Abtreibung schwirren noch immer viele Mythen herum. Die Beratungsbescheinigung bekommen die Betroffenen in jedem Fall von mir, die darf ich nicht vorenthalten. Als Beraterin kann ich Unterstützung und Informationen anbieten, damit die jeweilige Frau für sich zu einer Entscheidung kommen kann.

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Wie gehen Sie mit Frauen um, die sich nicht sicher sind?

In diesen Fällen stelle ich häufig die Frage: Wie war Ihre erste Reaktion, als Sie von der Schwangerschaft erfahren haben? Haben Sie trotz des Schocks gelächelt, oder haben Sie gleich gedacht – das geht auf keinen Fall? Kann die Frau sich vorstellen, einen Abbruch durchführen zu lassen? Ich bin davon überzeugt: Spätestens, wenn es real wird, also die Frau in eine Praxis oder Klinik geht, trifft sie ihre endgültige Entscheidung.

Welche Rolle hat der Vater bei der Entscheidung? Es ist auch sein Kind.

Gesetzlich ist das ganz klar geregelt: Es ist die Entscheidung der Frau. Und nach meiner Erfahrung muss es in letzter Konsequenz auch ihre Entscheidung sein. Es ist ihr Körper, es geht um ihr Leben, und bei allem Respekt: Ohne sie geht es nicht. Wer – als außenstehende Person, sei es der Erzeuger, ich als Beraterin oder ihr Arzt – nimmt sich das Recht zu sagen: Du musst diese Schwangerschaft austragen? Wir sind alle – alle – außen vor. Allein die Frau ist jetzt in dieser Situation, ungeplant schwanger zu sein, sonst niemand. Und ganz nebenbei läuft die zeitliche Frist.

Was sind die häufigsten Gründe, weshalb die Frauen den Abbruch wollen?

Berufliche und finanzielle Gründe werden sehr oft genannt. Familien wollen ihren Kindern einen gewissen Lebensstandard bieten. Vielleicht gibt es einen Kredit, die Familienplanung ist abgeschlossen, oder der Zeitpunkt passt nicht. Auch Gehaltseinbußen durch Corona und Kurzarbeit spielen mit hinein.

Das klingt sehr rational.

Ja, das sagen selbst die Frauen in den Beratungsgesprächen, aber trotzdem sind dies alles gewichtige Gründe. Das ist immer eine Abwägungsentscheidung: In welcher Waagschale liegen mehr Gründe – in der, die für das Austragen der Schwangerschaft sprechen, oder in der, die für das Abbrechen sprechen? Keine Frau trifft diese Entscheidung leichtfertig und keine Frau wünscht sich im Leben, ungeplant schwanger zu werden.

Welche Rolle hat das Beratungsgespräch bei Ihnen?

Viele Frauen melden mir zurück, dass es gut war, mit einer außenstehenden Person zu reden, das entlastet und nimmt etwas von dem Druck, der auf den Frauen lastet – sowohl psychischer Druck als auch Zeitdruck. Frauen sind häufig sehr alleine in der Phase der Entscheidungsfindung: Da das Thema so tabuisiert ist, trauen sie sich kaum, mit anderen darüber zu sprechen.

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Wenn sich eine Frau für den Abbruch entscheidet – wie ist der Ablauf?

Sie müssen ein Beratungsgespräch bei einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle wahrnehmen und – so steht es im Gesetz – zwischen diesem Termin und dem eigentlichen Abbruch müssen drei Tage Zeit vergehen. Das heißt aber nicht, dass die Frau solange nicht andere Dinge klären kann, wie etwa die Frage der Kostenübernahme mit der Krankenkasse zu besprechen oder das Vorgespräch zum Schwangerschaftsabbruch zu führen. Die Frau kann in diesen drei Tagen auch schon den Termin für den Schwangerschaftsabbruch vereinbaren, aber – was viele Frauen nicht wissen – nicht jede Ärztin und jeder Arzt darf diesen Eingriff vornehmen. Der Schwangerschaftsabbruch umfasst immer drei Termine: Vorgespräch, den Eingriff selbst und die Nachsorge.

Warum gibt es keine vollständige Liste aller Ärztinnen und Ärzten, die Abtreibungen vornehmen?

Hier spielt der Paragraf 219a im Strafgesetzbuch eine Rolle. Seine Abschaffung wurde gerade beschlossen. Viele Ärztinnen und Ärzte fürchten negative Konsequenzen, würden sie öffentlich preisgeben, dass sie den Eingriff durchführen. Ich denke nicht, dass sich dies nach Abschaffung des sogenannten Werbeverbots stark verändern wird – dafür ist das Thema Abtreibung immer noch zu stark tabuisiert.

Sowohl der medikamentöse als auch der instrumentelle Abbruch werden in Kliniken und Frauenarztpraxen in fast allen Städten unserer Region angeboten.

Welche Folgen hatte Ihrer Erfahrung nach das „Werbeverbot“?

Da Ärztinnen und Ärzte durch den Paragrafen 219a daran gehindert wurden, Informationen zu den Methoden und Abläufen des Abbruches öffentlich bereitzustellen, fehlen vielen Frauen, die in die Beratung kommen, grundsätzliche Informationen. Sie müssen sich das vorstellen: Sie erfahren von Ihrer ungeplanten Schwangerschaft, sind im Schock – und möchten sich sofort umfassend informieren, nicht erst auf den Beratungstermin warten. Die Frauen wissen nicht, wer den Abbruch vornimmt, welche Methoden es gibt, was dabei auf sie zukommt, wer die Kosten übernimmt, welche Unterlagen sie brauchen. Das ist ein großes Problem.

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Wie sind Ihre Gedanken dazu?

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft niemals leichtfertig getroffen wird. Und ich denke nicht, dass es der vorgeschriebenen drei Tage Bedenkzeit zwischen Beratung und Abbruch bedarf. Das zeigen auch die Erfahrungen in europäischen Nachbarländern. Die Frauen machen sich nicht erst während der Beratung Gedanken, sondern sofort, wenn sie erfahren, dass sie schwanger sind. Durch den Paragrafen 219a wurde den Frauen meiner Meinung nach die Entscheidungsfähigkeit abgesprochen. Es geht nicht darum, Einfluss auszuüben, sondern darum, sachliche Informationen bereitzustellen. Die Gesellschaft muss Frauen zutrauen, diese Entscheidung frei für sich treffen zu können.

Die rechtliche Lage:

Laut §218 des Strafgesetzbuches (StGb) steht der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland unter Strafe. Unter verschiedenen Umständen bleibt ein Abbruch aber straffrei. Es darf zum Beispiel abgetrieben werden, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind, der Eingriff von einem Arzt oder eine Ärztin durchgeführt wird und zwischen dem obligatorischen Beratungsgespräch und Abbruch drei Tage Zeit liegen.