Braunschweig. Die Stadt reagiert auf unangemeldete Blockaden und Märsche der Gruppe „Letzte Generation“. Daran gibt es Kritik. Freitag soll eine Demo stattfinden.

Nach dem Vorbild Nürnbergs geht nun auch Braunschweig härter gegen Straßenblockaden durch Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ vor. Wie die Stadtverwaltung mitteilt, werden Versammlungen dieser Gruppe oder ähnliche Versammlungen zum Klimaprotest unter freiem Himmel beschränkt, wenn diese nicht im Vorfeld angezeigt werden.

Eine entsprechende Allgemeinverfügung ist an diesem Donnerstag, 20. Juli, in Kraft getreten. Sie gilt zunächst bis zum 31. August 2023. Untersagt ist demnach das Nutzen von Fahrbahnen für Umzüge und Märsche sowie das Ankleben, Festketten, Festbinden oder Niederlassen auf Fahrbahnen. Bei Verstößen gegen die Verfügung müssen Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Ordnungswidrigkeitsverfahren und Bußgeldern bis zu 3000 Euro rechnen.

Man reagiere damit auf etwa 20 solcher Aktionen in den vergangenen Monaten, so die Stadtverwaltung. Die Klimaaktivisten haben seit Mai 2022 mehrere Straßen blockiert, unter anderem den Bohlweg, den Altewiekring und zuletzt die Konrad-Adenauer-Straße sowie die Berliner Straße. Außerdem haben in den letzten Wochen mehrere unangekündigte Protestmärsche („Slow Walks“) auf Straßen in der Innenstadt stattgefunden.

Was sind die Vorgaben des Versammlungsgesetzes?

Im Niedersächsischen Versammlungsgesetz sind die Voraussetzungen für Versammlungen klar geregelt: „Wer eine Versammlung unter freiem Himmel durchführen will, hat dies der zuständigen Behörde spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der Versammlung anzuzeigen.“ Es gibt eine Ausnahme: Die genannte Frist gilt nicht, wenn bei ihrer Einhaltung der mit der Versammlung verfolgte Zweck nicht erreicht werden kann. Es würde sich dann um eine Eilversammlung handeln. „In diesem Fall ist die Versammlung unverzüglich anzuzeigen. Fällt die Bekanntgabe der Versammlung mit deren Beginn zusammen (Spontanversammlung), so entfällt die Anzeigepflicht.“

Wie interpretiert die Stadt die Aktionen der „Letzten Generation“?

Aus Sicht der Stadt handelt es sich bei den Sitzblockaden und Märschen eindeutig um Versammlungen. „Die teilnehmenden Personen geben an, mit ihren Aktionen die Durchsetzung ihrer Forderungen zum Klimaschutz erreichen zu wollen; sie wollen dafür weitere Unterstützer gewinnen“, steht in der Begründung der Allgemeinverordnung.

Hingegen seien es definitiv keine Eil- oder Spontanversammlungen. Denn: „Aktionen im Zusammenhang mit Klimaprotestblockaden erfolgen erfahrungsgemäß nicht zufällig, sondern werden innerhalb der relevanten Gruppierungen und über soziale Plattformen abgestimmt und zum Teil öffentlich angekündigt. Es werden Kundgabe(hilfs)mittel, wie z.B. Transparente, Kleber, Maskierungen etc. zu den jeweiligen Aktionen mitgebracht.“

Wann darf eine Versammlung eingeschränkt werden?

Außerdem heißt im Versammlungsgesetz weiter: „Die zuständige Behörde kann eine Versammlung unter freiem Himmel beschränken, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren.“ Und genau darauf beruft sich nun die Stadtverwaltung.

So ist in der Allgemeinverfügung unter anderem diese Begründung nachzulesen: „Eine erhebliche Gefahr für unbeteiligte Dritte besteht dadurch, dass Feuerwehr und Rettungsdienst nicht im Vorfeld über das Stattfinden einer Versammlung und über die genaue Aufzugstrecke unterrichtet werden können, sodass Einsatzfahrzeugen die Möglichkeit genommen wird, auf dem Weg zum Einsatzort gezielt entsprechende Alternativrouten zu befahren, wodurch Verzögerungen entstehen, die den hilfsbedürftigen Dritten erheblichen Gefahren für Leib und Leben aussetzen.“

Welche Folgen hat die Allgemeinverfügung im konkreten Fall?

Mit der Allgemeinverfügung wolle man die Teilnehmenden und Verantwortlichen dazu bewegen, derartige Versammlungen im Vorfeld anzukündigen, erläutert die Stadtverwaltung in einer Pressemitteilung. „Damit – wie gesetzlich vorgesehen – im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger im Vorfeld zum Beispiel Kooperationsgespräche zwischen Veranstalter und Ordnungsbehörde geführt werden können.“ Ziel sei es, das Recht der Versammlungsfreiheit in Einklang zu bringen mit der Sicherstellung der öffentlichen Ordnung.

Die Teilnehmenden beziehungsweise faktischen Versammlungsleiterinnen und -leiter seien vor Ort wiederholt auf die Anzeigepflicht der Versammlungen hingewiesen worden. „Dennoch haben sie mehrfach zum Ausdruck gebracht, solche unangekündigten Versammlungen weiterhin durchführen beziehungsweise daran teilnehmen zu wollen“, so die Stadtverwaltung. Daher habe man in Abstimmung mit der Polizei entschieden, mit der Allgemeinverfügung präventiv im Sinne der Allgemeinheit und der Gefahrenabwehr tätig zu werden.

Wie Stadtsprecher Adrian Foitzik auf Anfrage erläutert, ist aufgrund der Allgemeinverfügung die Lage bereits zum Versammlungsbeginn für alle klar. „Die Polizei muss nicht erst vor Ort (mündlich) Beschränkungen gegen einzelne Personen verfügen“, erläutert er. Sie müsse nur noch die Personalien der „Regelbrechenden“ feststellen und als Ordnungswidrigkeiten-Anzeige an die Bußgeldstelle schicken. „Ob und wie die Polizei vorgeht (zum Beispiel Wegtragen), ist die Entscheidung der Kollegen der Polizei vor Ort im konkreten Fall.“

Was sagt die „Letzte Generation“ zur Allgemeinverfügung?

Klimaaktivistin Maria Heß kritisiert auf Anfrage unserer Redaktion, dass sich die Allgemeinverfügung speziell gegen Klimaproteste richtet. Wobei anzumerken ist, dass in den vergangenen Monaten keine Personen mit anderen Anliegen unangemeldete Straßenblockaden und Protestmärsche auf Straßen in Braunschweig durchgeführt haben.

Die Allgemeinverfügung der Stadt komme nicht unerwartet, so Heß. Schließlich habe Oberbürgermeister Thorsten Kornblum auch nicht auf das Gesprächsangebot der „Letzten Generation“ reagiert – anders als zum Beispiel Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay. Dieser hatte sich mit den Klimaaktivisten auf ein Ende der Straßenblockaden verständigt und die Forderung nach einem Gesellschaftsrat in Form eines Briefes an die Fraktionen des Bundestags unterstützt. Dieser Gesellschaftsrat, zusammengesetzt aus zufällig ausgelosten Menschen, soll Schritte ausarbeiten, damit Deutschland ab 2030 klimaneutral ist.

Solch ein Vorgehen lehnt Kornblum ab, wie er auch in der Einwohnerfragestunde der Ratssitzung im Mai erläutert hatte: „Die Konstruktion des Bürgerrates widerspricht nach Auffassung der Verwaltung dem repräsentativen Demokratieprinzip. Der Bürgerrat heißt hier Rat der Stadt Braunschweig, der Bürgerrat auf Bundesebene heißt Deutscher Bundestag, der Bürgerrat auf Landesebene heißt Niedersächsischer Landtag.“

Allerdings: Das Format der Bürgerräte ist seit 2019 in Deutschland durchaus etabliert. Sieben Bürgerräte zu verschiedenen großen gesellschaftspolitischen Themen haben bereits stattgefunden, weitere stehen bevor. Erst im Mai dieses Jahres hat der Bundestag die Einsetzung eines Bürgerrates zum Thema „Ernährung im Wandel“ beschlossen. Viele Informationen dazu findet man auf der Internetseite www.buergerrat.de.

Kornblum sagte in der Einwohnerfragestunde: „Ich kann nur allen empfehlen, es so friedlich zu machen wie beispielsweise ,Fridays for Future‘, die mit ihrer Friedlichkeit viel, viel mehr erreicht haben für den Klimaschutz als alle Menschen, die sich auf Straßen festkleben. Grundlage für Gespräche mit mir sind legale Protestformen und nicht umgekehrt. Wo es für mich völlig aufhört, ist, wenn man etwas beschmiert, was die größte Errungenschaft in der deutschen Geschichte ist, nämlich das deutsche Grundgesetz.“ Er bezog sich damit auf die Beschmierung eines Grundgesetz-Denkmals in Berlin Anfang März.

Maria Heß sagt hingegen: „Statt miteinander zu reden und die drängenden Probleme anzugehen, wird auf formaler Ebene argumentiert. Es gibt natürlich auch direkte Beteiligungsformen in der Demokratie. Und ziviler Ungehorsam war immer Teil der Demokratieentwicklung. Wir werden stören und müssen stören, solange die Politik wirksamen Klimaschutz blockiert. Ein deutlicher Appell an die Bundesregierung ist jetzt notwendig. Wir sind alle betroffen von der Klimakrise.“

Wie geht es weiter?

Das Braunschweiger Klimanetzwerk ruft für Freitag, 21. Juli, zu einer Kundgebung gegen die Allgemeinverfügung auf. Die Demo soll um 17 Uhr auf dem Schlossplatz stattfinden. Teil des Klimanetzwerks sind unter anderem die lokalen Gruppen von Students for Future, Fridays for Future, Parents for Future, Psychologists for Future, Extinction Rebellion, Letzte Generation, Ökologie for Future, Greenpeace, Bürgerinitiative Baumschutz und die Regionale Energie- und Klimaschutzagentur (reka).

Was sagen die Grünen im Braunschweiger Rat?

Kritik am Vorgehen der Stadt äußert die Ratsfraktion der Grünen. Fraktionsvorsitzende Lisa-Marie Jalyschko schreibt in einer Pressemitteilung: „Uns ist es wichtig klarzustellen, dass wir als Fraktion an dem Vorgehen nicht beteiligt sind, das ist reines Verwaltungshandeln. Das Einschränken des Versammlungsrechts, ausschließlich zum Zwecke der Verhinderung von Klimaprotesten, ist juristisch sehr fragwürdig und muss dringend geprüft werden.“

Außerdem betont sie: „Wir erwarten, dass die Verwaltung ihre Entscheidung und die fehlende politische Diskussion rechtfertigt. Die Kriminalisierung von Klimaprotesten mit Bußgeldandrohungen ist ein nicht nachvollziehbarer Schritt für eine Stadt mit rot-grüner Ratsmehrheit, die den Anspruch erhebt, progressive, soziale und klimagerechte Politik zu machen.“

Leonore Köhler, Ratsfrau und stellvertretende Fraktionsvorsitzende, ergänzt: „Die Klimakrise ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit und ihre Folgen gehen uns alle an.“ Sie verweist auf den heftigen Starkregen vom 22. Juni. „Immer häufiger erleben wir in Braunschweig Starkregenereignisse sowie lange Dürrephasen in den Sommern. Vor diesem Hintergrund ist es absolut verständlich, dass Menschen sich existenzielle Sorgen um ihre Lebensgrundlagen und ihre Zukunft machen. Das darf nicht einfach ignoriert werden.“

Jalyschko und Köhler betonen, dass Braunschweig bis 2030 klimaneutral werden wolle. Darauf sollten wir uns politisch konzentrieren und unsere Kraft investieren. So wurde es vom Rat der Stadt Braunschweig letztes Jahr mit dem integrierten Klimaschutzkonzept 2.0 beschlossen. „Eine echte Antwort an die ,Letzte Generation‘ wäre die konsequente Umsetzung dieses Beschlusses und eine klare Priorisierung des Klimaschutzes in der Weiterentwicklung unserer Stadt“, so die Grünen. „Ein konstruktiver Dialog wie zwischen Belit Onay, Oberbürgermeister von Hannover, und den Aktivist*innen verhindert Proteste wesentlich erfolgreicher. Das sollten wir uns in Braunschweig als Vorbild nehmen.“

Wie bewertet die Braunschweiger SPD-Ratsfraktion die Allgemeinverfügung?

Die SPD-Fraktion hält in einer Pressemitteilung dagegen: „Die Versammlungsbehörde ist dafür zuständig, dass Versammlungen, zu denen auch Proteste und Demonstrationen gehören, geordnet und rechtmäßig ablaufen“, erklärt der Fraktionsvorsitzende Christoph Bratmann. „Sie ist hier im Sinne der Gefahrenabwehr und der Durchsetzung des Versammlungsrechts tätig geworden, dies fällt nicht in die Zuständigkeit des Rates und der Fraktionen.“ Es gehe nicht darum, Klimaproteste einzuschränken. „Klimaschutz ist uns allen wichtig! Die ‚Letzte Generation‘ kann natürlich weiterhin Protestaktionen durchführen, aber sie muss dies vorher mit der Stadt abstimmen, damit es nicht zu Gefahrensituationen kommen kann.“

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