Braunschweig. (Fast) jeder will jetzt so ein 9-Euro-Ticket haben. Alle begeben sich auf Erkundungstour im Öffentlichen Nahverkehr. Pfingsten könnte es eng werden.

Eigentlich ist das ein Traum für alle diejenigen, die sich immer mehr Öffentlichen Nahverkehr gewünscht haben: Die Leute stehen Schlange an den Ticket-Schaltern, sie drängen sich in Busse und Bahnen, sie kombinieren ihre Touren mit Fahrten auf dem Rad – und, ja, sie verkaufen ihr Auto ...

Tja, nicht ganz, aber es ist doch zumindest ein Querschnitt unserer kleinen Erkundungstour zum Start des 9-Euro-Tickets. Wir schreiben den 1. Juni 2022. Ein Mittwoch. Nichts ist mehr im ÖPNV wie es mal war – zumindest bis Ende August, wenn das 9-Euro-Ticket wieder enden soll.

Ein Knüller-Angebot des Nahverkehrs, das man nicht ausschlagen kann

Es ist ein symbolischer Preis, fast ein Freifahrschein, das wissen alle. Aber er ändert schon Verhalten. Feridun Öztoprak aus dem Kanzlerfeld arbeitet für die Niedersächsische Lotto-Sport-Stiftung in Hannover, pendelt mehrmals in der Woche mit der Bahn dorthin. Also fährt er die rund 10 Kilometer zum Hauptbahnhof mit dem Rad – und bei schlechtem Wetter mit dem Bus. „Da lohnt sich für mich jetzt das 9-Euro-Ticket“, sagt er.

Ein Angebot des Nahverkehrs, das man nicht ausschlagen kann – Bestätigung auch für das Ehepaar aus Hannover, das wir in der Linie 10 zum Hauptbahnhof treffen. Man hat bereits vor zwei Monaten das Auto verkauft, will jetzt konsequent die Öffis nutzen, auch mal zum Einkaufen und Kaffeetrinken in Braunschweig. So wie heute, da der Nahverkehr seinen großen Tag hat.

Ob das so bleibt, wird man sehen. Man blicke etwas bang dem kommenden Pfingstwochenende entgegen, erklärt uns ein Bahn-Mitarbeiter am Hauptbahnhof. Dann würden sie alle wohl erstmal das 9-Euro-Ticket austesten wollen, vermutet er. Hoffentlich nicht so viele mit dem Fahrrad, denn da fehlen die Mitnahmeplätze ...

Für die Rentnerin ist das schon ein wichtige Ersparnis

Heute, so mitten in der Woche, ist es aber dann doch eher ein normaler Tag. Ist viel los? „Alles wie immer“, ruft uns ein Fahrer aus der „3“ am Rathaus zu. Und Helga (72), die wir in der Ticket-Verkaufsstelle der BSVG am Bohlweg treffen, hat halt nachgerechnet: Mit ihrem Braunschweig-Pass erhält sie ein Monatsticket für 17 Euro im Monat. Jetzt sind’s gleich 8 Euro weniger. Für die Rentnerin, die gern zur Freundin nach Wenden fährt, schon eine wichtige Ersparnis.

Eher verkehrspolitisch sieht die ganze Sache ein Radler mit Klapprad und schnittigem Helm, der sich ebenfalls gerade zufrieden sein 9-Euro-Ticket abholt. Klar, er wird jetzt öfter mal vom Rad in die Öffentlichen umsteigen. Plädiert aber auch als Modell für ein Generalabonnement Marke Schweiz. Da hat so ein Jahresticket schon seinen angemessenen Preis, nicht nur einen symbolischen – ist aber auch attraktiv und kommt an, erklärt er.

„Beginnen heute die Chaostage?“, titelt am Kiosk eine niedersächsische Zeitung. Nein, das ist erstmal nicht zu sehen. „Wurde ja auch mal Zeit, dass sie mehr für den Nahverkehr tun“, hören wir noch. „Hoffentlich wird’s jetzt nicht zu voll und hektisch.“ Man wird sehen.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar von Henning Noske:

So viel Vorschuss in jeder Beziehung gab’s für Busse und Bahnen im Nahverkehr noch nie. Man reibt sich schon ein wenig die Augen. „Deutschlandweit im öffentlichen Nahverkehr“ steht da tatsächlich auf diesem 9-Euro-Ticket, das man wie Tausende andere stolz erworben hat.

Reden wir nicht davon, dass es ein blutiger Krieg ist, der eine solche Zeitenwende ausgelöst hat, denn das ist es auch. Ein Versprechen, das mit hohen Erwartungen verknüpft ist, ja, sogar mit Auf- und Umbruchstimmung, wie man es gerade spüren kann.

Das Frustpotenzial ist indes erheblich, falls nun die Defizite der Öffis erst recht überdeutlich werden und gleichzeitig treue Kunden, die auch ohne 9-Euro-Ticket bereits an Bord sind, vor den Kopf gestoßen werden.

An alle Verantwortlichen: So eine Gelegenheit, der Verkehrswende entscheidenden Schub zu geben, kommt nicht wieder. Verpatzt es nicht.