Braunschweig. Restaurant-Chef Atiqur Rahman floh einst vor der Militärdiktatur in Bangladesch, war Seemann und landete dann in Braunschweig. Was ihm wichtig ist?

Es ist kurz vor sechs am Abend. Ein Wochentag. Trotz der Lockerungen ist es noch nicht wieder so, dass die Gäste um diese Zeit in Scharen vor dem Gandhi in Braunschweigs Innenstadt vor der Tür auf den Einlass warten. Trotzdem achtet Atiqur Rahman genau darauf, dass innendrin alles perfekt angerichtet ist.

Dudelt die Musik aus den Lautsprechern in einer adäquaten Lautstärke? Glimmen die Räucherstäbchen und reichern die Luft mit einem sanften Duft an? Stehen die Fenster zwecks eines besseren Raumklimas auf minimaler Kipp-Position? „Wir haben unsere Rituale“, sagt Rahman, holt seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und geht Richtung Eingangstür. Manchmal, sagt er, zitterten seine Hände in diesem Moment noch heute – auch 20 Jahre nach Eröffnung des beliebten indischen Restaurants.

Gandhi-Chef: Ich war total gerührt, dass uns die Menschen so lieben

Wer den Gastronom kennenlernt, wird eines schnell merken: Da hat sich ein Mann sein Lebenswerk mit so viel Fleiß und Energie aufgebaut, dass er es sich nicht durch Schluderei wieder selbst kaputt machen will. Niemals, erklärt der 65-Jährige, würde er abends früher schließen und das beleuchtete Schild mit dem Namen des Lokals dunkel werden lassen. Selbst wenn die letzten Gäste das Gandhi schon vor 23 Uhr verlassen haben, halten Rahman und seine Mitarbeiter die Stellung.

„Jeder, der hier vorbeikommt, soll sehen: Wir sind da“, erklärt der Chef. Während der Pandemie hat er um sein Restaurant gebangt. Jetzt sei er dankbar – der Regierung für die großzügigen Hilfen, ohne die es vielleicht kein Gandhi mehr gäbe. Und den Stammgästen für die gezeigte Solidarität. „Innerhalb der Nachbarschaft wurden teilweise Sammelbestellungen organisiert, um uns zu helfen. Ich war total gerührt, dass uns die Menschen so lieben“, sagt Rahman.

Blick von oben in den Gastraum. Die Empore kam erst 2009 im Zuge der Erweiterung des Restaurants hinzu.
Blick von oben in den Gastraum. Die Empore kam erst 2009 im Zuge der Erweiterung des Restaurants hinzu. © Henning Thobaben

Atiqur Rahman bringt auch seinen Mitarbeitern stets Respekt

Dass der Inhaber selbst ein Menschenfreund ist, spürt jeder, der sich mit ihm unterhält. Wenn er den Namen eines Gastes nicht ganz verstanden hat, versichert er sich so lange der richtigen Schreibweise und Betonung, bis er alles verstanden hat. Auch seinen Mitarbeitern bringt er stets Respekt entgegen – ein Grund, warum ihm viele die Treue halten.

So wie Florian Oppermann, der als Restaurantmanager seit rund 18 Jahren Rahmans rechte Hand ist. Und eines wird im Gespräch ebenfalls schnell deutlich: Atiqur Rahman, von vielen nur „Atique“ genannt, kann auch aufgrund seiner bewegten Lebensgeschichte richtig viel erzählen und mit seinen Anekdoten andere zum Lachen bringen.

Als Bangladesch eine Militärdiktatur wurde, verließ er seine Heimat

„Was meinen Sie: Soll ich irgendwann nach Bangladesch zurückgehen und dort Präsident werden?“, fragt er und sein Lachen ist hinter der FFP2-Maske nur zu erahnen. Immer wieder besucht er sein Heimatland und stellt fest, dass dort so manches schief läuft. Der Verkehr in der Hauptstadt Dhaka beispielsweise sei eine Katastrophe, findet er. Ein einziges Chaos, in dem kaum noch einer vorwärts komme. Als er das Land 1976 verlassen hatte, war die Situation eine ganz andere.

Die Schwemme japanischer Importautos war noch in weiter Ferne, dafür gab es aber ein anderes Übel: Das frühere Ostbengalen war zwar nach der Abspaltung von Pakistan zunächst eine Demokratie gewesen. Doch als der Regierungschef ermordet wurde und die Armee eine Militärdiktatur errichtete, kam es zu Unruhen. Es sei von da an nicht mehr sein Land gewesen, sagt Rahman. Angesichts von Schießereien auf der Straße, korrupten Politikern und wirtschaftlichen Problemen entschied er sich im Alter von 19 Jahren zu fliehen. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits an Krebs verstorben.

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„Ich war damals der erste Bangladeschi, der in Braunschweig heiratete“

Von Bangladesch ging es zunächst per Flieger nach Afghanistan. „Von dort bin ich bis nach Europa getrampt“, berichtet der damalige Flüchtling. In Griechenland bestieg er schließlich ein großes Frachtschiff und arbeitete als Seemann. 22 Länder bereiste er mit dem Schiff, sah viel von der Welt. Im spanischen Sevilla endete der Trip, von dort ging es mit dem verdienten Geld per Zug nach Paris, wo Rahman ein Jahr lang lebte.

Weil es in der französischen Hauptstadt mit dem geplanten Informatik-Studium nicht klappte, ging es 1978 gemeinsam mit einem Freund weiter nach Deutschland. Über Wolfsburg gelangte er schließlich nach Braunschweig, wo Rahman seine heutige Frau Barbara im damaligen Werk des Schreibmaschinenherstellers Olympia kennenlernte. Bald darauf schworen sich beide vor dem Standesamt ewige Treue. „Ich war damals der erste Bangladeschi, der in Braunschweig heiratete“, erzählt er.

Der Namensgeber des Restaurants thront auf der Theke.
Der Namensgeber des Restaurants thront auf der Theke. © Henning Thobaben

Er wagte den Schritt in die Selbstständigkeit

Nach Jobs in Brauereien und als KFZ-Mechaniker bei VW musste Rahman schließlich wegen Rückenproblemen umdenken. „Ich war zwei Jahre arbeitslos und habe überlegt, was ich machen könnte. Dann kam mir der Gedanke, dass ich zu Hause immer meiner Mutter beim Kochen geholfen hatte und Ahnung davon habe“, erzählt der Mann aus Bangladesch. Und so wagte er schließlich den Schritt in die Selbstständigkeit, zunächst mit einem deutlich kleineren Gandhi, das nur 36 Gästen Platz bot.

Als sich das Restaurant einen Namen gemacht hatte und insbesondere an den Wochenenden fast immer ausgebucht war, kam die Erweiterung im Jahr 2009 gerade recht. Eine nebenan wohnende ältere Dame hatte ihre Wohnung aufgeben müssen. Per Mauerdurchbruch wurde der Wohnbereich nach umfangreichem Umbau dem Restaurant zugeschlagen. „Seitdem ist alles viel entspannter. Die ersten sieben Jahre waren praktisch nur ein Test“, sagt der Gastronom.

„Wir nutzen hier insgesamt 43 verschiedene Gewürze“

Arbeitete er selbst anfangs noch 14 bis 16 Stunden am Tag, wird der Braunschweiger nun durch sein Personal entlastet. Allerdings ist das in Sachen Koch nicht immer so einfach: Das entsprechende Visum ist jeweils nur für vier Jahre gültig, danach ist ein Wechsel angesagt. Und so muss Rahman immer wieder neue Küchenchefs einarbeiten. Sie kommen aus Kalkutta nach Braunschweig, denn die für die Metropole typische Küche wird seit jeher ins Gandhi importiert. „Wobei es unsere Qualität dort nur in Sternerestaurants gibt“, sagt Rahman.

Fertigprodukte oder Geschmacksverstärker sind im Gandhi tabu – und auch gar nicht nötig. „Wir nutzen hier insgesamt 43 verschiedene Gewürze“, erklärt Rahman, der seine Karte locker auf mehrere Hundert Gerichte ausweiten könnte. Das aber würde die Systematik zerstören, erläutert er. Vegetarische und vegane Gerichte seien bei der Nummerierung unter den 20ern zu finden. Hähnchen folge in den 30ern, Lamm in den 40ern.

Danach komme nur noch der Fisch, sagt der Besitzer, der trotz einiger besetzter Tische nicht laut zu sprechen braucht. Akustikdecken dämpfen die Lautstärke. Sogar die Unterseiten der Tische seien mit Teppichen beklebt, um den Schall zu dämpfen, macht der Besitzer auf ein Detail aufmerksam, das vielen Besuchern entgeht. Es soll eben alles perfekt sein für den Gast – und für Atiqur Rahman, dem nichts mehr zuwider ist als Dilettantismus. Schließlich geht es hier um nichts Geringeres als sein Lebenswerk.