Braunschweig. . Im Kapitalanleger-Musterverfahren gegen Volkswagen und die Porsche-Holding SE in Braunschweig ging es um die Berechnung des Schadens.

Welcher Schaden ist Aktionären durch den VW-Abgas-Betrug entstanden? Wie wird der Schaden berechnet? Was gibt es dabei zu berücksichten? Um diese Fragen kreiste der vierte Verhandlungstag im Kapitalanleger-Musterverfahren gegen Volkswagen und die Porsche-Holding SE (PSE) vor dem Oberlandesgericht Braunschweig. Zugleich lieferte die Verhandlung in der Stadthalle Braunschweig einen tiefen Einblick in die feinen Verästelungen juristischer Diskussion und Argumentation. Leichte Kost schmeckt anders.

In dem Musterverfahrenklagt die Sparkassen-Fonds-Gesellschaft Deka-Invest. Das Verfahren steht stellvertretend für 1650 weitere Anleger-Klagen, die beim Landgericht Braunschweig eingegangen sind. Der Streitwert beläuft sich auf rund 4,3 Milliarden Euro. Der zentrale Vorwurf der Kläger: Anders als es die Ad-hoc-Pflicht vorschreibt, seien sie nicht rechtzeitig über den Abgas-Betrug und seine wirtschaftlichen Folgen informiert worden. Deshalb fordern sie Schadenersatz.

Nach vier Verhandlungstagen bestätigt sich, dass mit einem raschen Ergebnis nicht zu rechnen ist. Bis September nächsten Jahres wurden bereits weitere Termine angesetzt. Ohnehin steht am Ende des Verfahrens kein Urteil, das eine Schadenersatzzahlung oder eine Abweisung der Klage vorgibt. Stattdessen werden die Inhalte festgelegt, die dann bindend sind für die weiteren Schadenersatz-Verhandlungen vor dem Landgericht Braunschweig. Beantragt werden die Inhalte in Feststellungszielen und Erweiterungsanträgen von den Musterklägern, den beklagten Unternehmern sowie den Beigeladenen. Letztere sind zwar Kläger im Musterverfahren, aber nicht die Musterkläger.

Gestern ging es nun also um die Ermittlung des Schadens. So intensiv die Diskussion zwischen dem Vorsitzenden Richter Christian Jäde, den Anwälten der Kläger und der beklagten Unternehmen geführt wurde, so theoretisch war sie auch. Denn noch ist juristisch überhaupt nicht ausgefochten, ob VW und die PSE haftbar gemacht werden können. Deshalb betonte Jäde gleich zu Beginn, dass seine Überlegungen nicht gleichzusetzen seien mit der Annahme, das Gericht gehe von einer Haftung des Autobauers aus.

Nicht geklärt ist außerdem die Dauer des sogenannten Desinformationszeitraums – also der Zeit, in der VW möglicherweise von den Verfehlungen gewusst, die Anleger aber nicht informiert hat. Jäde hatte am zweiten Verhandlungstag allerdings angedeutet, dass es der damalige VW-Vorstandschef Martin Winterkorn versäumt haben könnte, Hinweisen zu manipulierten Motoren nachzugehen, nachdem er im Juli 2015 am VW-internen „Schadenstisch“ über die Vorgänge informiert worden sei. Nachdem die US-Behörden den Betrug am 18. September 2015 öffentlich gemacht hatten, gab VW am 22. September 2015 eine Ad-hoc-Meldung heraus.

Der Zeitraum zwischen dem 18. und 22. September war es dann auch, den Richter Jäde für seine Überlegungen zur Schadensberechnung heranzog. Das sei der Zeitraum gewesen, in dem die Anleger vom Betrug erfahren und diese Information verarbeitet hätten ­ – in Form dramatisch fallender Börsenkurse. Klägeranwalt Andreas Tilp forderte gar eine Ausweitung dieses Zeitraums bis zum 2. Oktober 2015, weil es bis dahin weitere Kursverluste gegeben habe. Doch Jäde blieb bei seinem Zeitfenster.

Für die Ermittlung des Schadens hat der Vorsitzender Richter den Kursverlauf am elektronischen Handelsplatz Xetra herangezogen, weil dort die meisten Aktien gehandelt werden. Wie er ausführte, brach bis zum 22. September der Kurs der VW-Vorzugsaktie um 34,73 Prozent oder 56,40 Euro ein, der der VW-Stammaktie um 31,08 Prozent beziehungsweise 50,15 Euro. Allerdings müsse dieser Wert noch um die Kursschwankungen des wichtigsten deutschen Aktienindexes Dax bereinigt werden, führte Jäde aus. Daraus ergebe sich ein Kursverlust von 31,23 Prozent der Stammaktie und von 27,58 Prozent der Vorzugsaktie.

Allerdings ist Schaden nicht gleich Schaden. Jäde unterschied zwischen Kursdifferenzschäden und Vertragsabschlussschäden. Handelt es sich um einen Kursdifferenzschaden, dann hat der Anleger die Aktie zu teuer gekauft. Um den Schaden zu ermitteln, müsse dem tatsächlichen Kaufpreis ein fiktiver Preis gegenübergestellt werden. Also ein Preis, zu dem der Anleger die Aktie gekauft hätte, wenn es keinen Verstoß gegen die Ad-hoc-Pflicht gegeben hätte. Abgeleitet werden könne der fiktive Preis aus dem tatsächlichen Kursverlauf zum Zeitpunkt der Bekanntmachung des ad-hoc-pflichtigen Vorgangs. Deshalb ist der oben erwähnte Zeitraum für die Schadensberechnung genau so wichtig wie der Desinformationszeitraum, weil sich daraus Schadenersatzansprüche ableiten lassen. Jäde verwies noch auf eine Variante des Kursdifferenzschadens. So könne es zu „Kollateralschäden“ als Folge des Image- und Vertrauensverlusts oder aus Sorge vor Bußgeldern kommen.

Daneben gibt es noch den Vertragsabschlussschaden. Dabei wird verglichen, wie sich die wirtschaftliche Situation des Aktienkäufers entwickelt hätte, wenn er auf der Erwerb verzichtet hätte.

Die anschließende ausführliche Diskussion mit den Anwälten der Kläger und der beklagten Unternehmen drehte sich hauptsächlich darum, wie der tatsächliche Schaden genau ermittelt werden könnte. Je nach Perspektive ging es auch darum zu vermeiden, dass die jeweilige Gegenseite durch ein Berechnungsverfahren einen Vorteil erlangen könnte. Zu diesen Punkten wird noch hart verhandelt werden. Deutlich wurde aber auch, dass noch viele Aspekte zu klären sind – das gilt auch für den Senat, also die verhandelnden Richter. Der nächste Verhandlungstermin ist für den 25. März nächsten Jahres angesetzt.