Verden (Aller). Eine Wolfsburger Klasse fuhr weg – der zehnjährige Vincent starb. Mittwoch begann der Prozess und endete mit einem Knall.

Paukenschlag im Landgericht Verden: Der Prozess, der am Mittwoch mehr als vier Jahre nach dem Unfalltod des Wolfsburgers Vincent (10) bei einer Klassenfahrt im Landkreis Diepholz südlich von Bremen begonnen hat, ist unter Auflagen vorläufig eingestellt. Nach mehreren Stunden Verhandlung erklärte der Vorsitzende Richter, die Kammer möchte den Vorschlag machen, das Verfahren einzustellen. „Das ist ein Schlag ins Gesicht“, erwidert fassungslos der Vater von Vincent. Einig sind sich zu dem Zeitpunkt alle Beteiligten, dass Mitschüler nicht als Zeugen vernommen werden sollen.

Nach einer kurzen Verhandlungspause dann die endgültigen Worte: Gegen 4000 Euro Geldauflage ist das Verfahren eingestellt. Die Angeklagte müsse die Strafe an den Verein Kinder- und Jugendschutz Wolfsburg zahlen. „Wir halten es für angemessen, kein Urteil zu sprechen, sondern bei geringer Schuld das Verfahren einzustellen. Das ist hier angemessen. Das Verfahren ist beendet.“ Staatsanwaltschaft und Verteidigung stimmten den Worten des Vorsitzenden Richters zu. Vincents Vater verließ den Saal und knallte die Tür.

Mitarbeiterin des Waldpädagogik-Zentrums in Hahnhorst war angeklagt

Das Verfahren wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen hatte am Mittwochmittag vor dem Landgericht Verden begonnen – unter großem Medieninteresse. Angeklagt war eine Mitarbeiterin des Waldpädagogik-Zentrums der Landesforsten in Schwaförden.

Das Unglück ereignete sich nach Angaben der Ermittler im Juli 2019 bei einem Schulausflug einer fünften Klasse aus Wolfsburg. Nach einer Frühstückspause im Freien tobten einige Kinder auf einer Lore auf dem Gelände des Waldpädagogik-Zentrums Hahnhorst herum. Dabei setzte sich der 400 Kilogramm schwere Wagen auf den Schienen in Bewegung – und überrollte den Jungen. Der Zehnjährige starb noch an der Unfallstelle.

Die Klassenfahrt wurde damals abgebrochen. Kinder, Lehrer und Personal des Waldpädagogik-Zentrums Hahnhorst standen unter Schock und mussten von Sanitätern und Notfallseelsorgern betreut werden. Die Gerichtsmedizin untersuchte die Leiche des Jungen. Nach früheren Angaben der Staatsanwaltschaft war die Lore einem Tüv-Gutachten zufolge nicht zum Spielen bestimmt und dafür auch nicht geeignet. Die Ermittler werfen der 35-jährigen Angeklagten vor, die fahrbereite Lore nicht überprüft zu haben.

Prozessauftakt in Verden: Angeklagte bricht am Vortag zusammen

Der Vorsitzende Richter wies zu Beginn der Verhandlung am Mittwoch auf die Besonderheiten des Verfahrens und insbesondere auf die lange Ermittlungsdauer hin. Es herrsche „Fassungslosigkeit und Trauer“ bei allen Verfahrensbeteiligten. Es habe ermittelt werden müssen, was passiert sei und wie es dazu kam. Dies habe relativ schnell abgearbeitet werden können. Viel länger habe es dann aber gedauert, die Frage zu klären, wer die Verantwortung trug, „je nachdem, welche Aspekte man betrachtet“. Der Staatsanwaltschaft attestierte er schlechte Arbeit, eine erste Anklage nach einem Jahr sei zu früh erhoben worden, habe viele Fragen nicht geklärt und sei zu Recht vom damals zuständigen Amtsgericht Verden gerügt worden.

Im Namen der Angeklagten erklärte ihr Verteidiger am Mittwoch vor Gericht: „Ich bin im Juli 2018 ins Waldpädagogik-Zentrum gewechselt, die Lore stand da schon etwa 10 Jahre. Weder mein Vorgänger noch irgendein Kollege hat mich auf die Gefährlichkeit hingewiesen. Das Ereignis habe ich nicht für möglich gehalten und nicht damit gerechnet. Ich dachte, die Lore sei eine Sitzgelegenheit und kein Spielgerät.“ Die Angeklagte war im WPZ für den Mehrtagesbetrieb zuständig, insbesondere für Schulklassen, die die Einrichtung besuchten und dort übernachteten – so wie die fünfte Klasse des THG.

Zum Zeitpunkt des Unfalls war die 35-Jährige demnach in einem Gebäude. Nach dem Alarm durch die Lehrer der Schulklasse leistete sie unter anderem Erste Hilfe beim Jungen. Vincent verstarb an inneren Blutungen durch Brüche im Oberkörperbereich und Bluteintritt in die Lunge.

Der Anwalt verlas in der Erklärung weiter: „Ich bedaure den tragischen Tod von Vincent und spreche Eltern mein Bedauern aus. Ich kann nicht ansatzweise erahnen, was sie durchleiden mussten.“ Zudem erklärte er, dass seine Mandantin am Abend vor dem Prozess einen Zusammenbruch erlitten habe. „Sie geht auf dem Zahnfleisch.“

Die Staatsanwaltschaft wirft der Mitarbeiterin des Waldpädagogikzentrums fahrlässige Tötung durch Unterlassen vor. Die 35-Jährige soll eine Lore nicht überprüft haben.
Die Staatsanwaltschaft wirft der Mitarbeiterin des Waldpädagogikzentrums fahrlässige Tötung durch Unterlassen vor. Die 35-Jährige soll eine Lore nicht überprüft haben. © DPA Images | Sina Schuldt

Als erster Zeuge wurde ein Förster-Kollege vernommen. Er ist in Hahnhorst für den Tagesbetrieb zuständig. Gegen ihn hatte die Staatsanwaltschaft zeitweise auch Anklage erhoben, diese aber zurückgenommen. Er kam ins Gericht mit einem Anwalt als Zeugenbeistand und wurde vom Richter belehrt, er müsse nicht aussagen, wenn er die Gefahr sehe, sich selbst zu belasten. Er wollte aussagen.

Zu Beginn sprach er den Eltern sein Beileid aus: „Seit dem Tag habe ich diese Bilder im Kopf und werde die mein ganzes Leben mitnehmen.“ Er sagte, er habe, seit er im WPZ arbeitet, die Lore nie als Gefahrenquelle erkannt. Sie sei beweglich gewesen, das schon, aber er wolle nie gesehen haben, dass Kinder auf ihr gespielt oder sie bewegt hätten.

Am Unglückstag habe er sich zur Frühstückszeit in einem Pausenraum aufgehalten, plötzlich seien Lehrer und Schüler hereingestürzt, hätten nach einem Arzt und einem Rettungshubschrauber geschrien. „Der Junge lag festgeklemmt unter der Lore. Um an ihn heranzukommen, mussten wir sie mit Kanthölzern hochstemmen. Das funktionierte auch. Dann haben wir gemacht, was man beim Erste-Hilfe-Kurs lernt: Wir haben zu dritt versucht, ihn abwechselnd wiederzubeleben.“ Der Zeuge betonte, die Notfallkette sei super gelaufen. Und an anderer Stelle: „Wir leben im WPZ eine hohe Sicherheitskultur.“

Vincents Eltern treten als Nebenkläger auf

Die Anklage wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen richtete sich ursprünglich auch gegen den damaligen Leiter des zuständigen Forstamts Nienburg. Das Landgericht ließ die Anklage gegen den Mann nicht zu, das Oberlandesgericht Celle bestätigte die Entscheidung. Gegen den Mann bestand demnach kein hinreichender Tatverdacht, die Pflichten seien an die Hausleitung übertragen worden.

Prozessbeginn am Landgericht Verden: Die Eltern des verstorbenen Vincent aus Wolfsburg brachten ein Bild ihres Sohnes mit.
Prozessbeginn am Landgericht Verden: Die Eltern des verstorbenen Vincent aus Wolfsburg brachten ein Bild ihres Sohnes mit. © FMN | Hendrik Rasehorn

Die Eltern des Jungen traten im Prozess als Nebenkläger auf. „Wir sind kaputt, wir sind wütend, aber wir wollen kein Mitleid“, sagte der Vater in einem Interview mit unserer Zeitung.

Der Anwalt der Familie, Dr. Benjamin Munte, im Interview.
Der Anwalt der Familie, Dr. Benjamin Munte, im Interview. © FMN | Hendrik Rasehorn